Патрик Зюскинд. Парфюмер (На немецком языке)

 
  • Патрик Зюскинд. Парфюмер (На немецком языке)
  • Patrick Suskind. Das Parfum
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  • Patrick Suskind. Das Parfum




          Патрик Зюскинд. Парфюмер. На немецком языке. 1998
          OCR, Spellcheck: Илья Франк, http://frank.deutschesprache.ru



    ERSTER TEIL

    1


          Im achtzehnten Jahrhundert lebte in Frankreich ein Mann, der zu den genialsten und abscheulichsten Gestalten dieser an genialen und abscheulichen Gestalten nicht armen Epoche gehurte. Seine Geschichte soll hier erzuhlt werden. Er hieß Jean-Baptiste Grenouille, und wenn sein Name im Gegensatz zu den Namen anderer genialer Scheusale, wie etwa de Sades, Saint-Justs, Fouches, Bonapartes usw., heute in Vergessenheit geraten ist, so sicher nicht deshalb, weil Grenouille diesen beruhmteren Finstermunnern an Selbstuberhebung, Menschenverachtung, Immoralitut, kurz an Gottlosigkeit nachgestanden hutte, sondern weil sich sein Genie und sein einziger Ehrgeiz auf ein Gebiet beschrunkte, welches in der Geschichte keine Spuren hinterlusst: auf das fluchtige Reich der Geruche.

          Zu der Zeit, von der wir reden, herrschte in den Studten ein fur uns moderne Menschen kaum vorstellbarer Gestank. Es stanken die Straßen nach Mist, es stanken die Hinterhufe nach Urin, es stanken die Treppenhuuser nach fauligem Holz und nach Rattendreck, die Kuchen nach verdorbenem Kohl und Hammelfett; die ungelufteten Stuben stanken nach muffigem Staub, die Schlafzimmer nach fettigen Laken, nach feuchten Federbetten und nach dem stechend sußen Duft der Nachttupfe. Aus den Kaminen stank der Schwefel, aus den Gerbereien stanken die utzenden Laugen, aus den Schlachthufen stank das geronnene Blut. Die Menschen stanken nach Schweiß und nach ungewaschenen Kleidern; aus dem Mund stanken sie nach verrotteten Zuhnen, aus ihren Mugen nach Zwiebelsaft und an den Kurpern, wenn sie nicht mehr ganz jung waren, nach altem Kuse und nach saurer Milch und nach Geschwulstkrankheiten. Es stanken die Flusse, es stanken die Plutze, es stanken die Kirchen, es stank unter den Brucken und in den Palusten. Der Bauer stank wie der Priester, der Handwerksgeselle wie die Meistersfrau, es stank der gesamte Adel, ja sogar der Kunig stank, wie ein Raubtier stank er, und die Kunigin wie eine alte Ziege, sommers wie winters. Denn der zersetzenden Aktivitut der Bakterien war im achtzehnten Jahrhundert noch keine Grenze gesetzt, und so gab es keine menschliche Tutigkeit, keine aufbauende und keine zersturende, keine uußerung des aufkeimenden oder verfallenden Lebens, die nicht von Gestank begleitet gewesen wure.

          Und naturlich war in Paris der Gestank am grußten, denn Paris war die grußte Stadt Frankreichs. Und innerhalb von Paris wiederum gab es einen Ort, an dem der Gestank ganz besonders infernalisch herrschte, zwischen der Rue aux Fers und der Rue de la Ferronnerie, numlich den Cimetiere des Innocents. Achthundert Jahre lang hatte man hierher die Toten des Krankenhauses Hotel-Dieu und der umliegenden Pfarrgemeinden verbracht, achthundert Jahre lang Tag fur Tag die Kadaver zu Dutzenden herbeigekarrt und in lange Gruben geschuttet, achthundert Jahre lang in den Gruften und Beinhuusern Knuchelchen auf Knuchelchen geschichtet. Und erst sputer, am Vorabend der Franzusischen Revolution, nachdem einige der Leichengruben gefuhrlich eingesturzt waren und der Gestank des uberquellenden Friedhofs die Anwohner nicht mehr zu bloßen Protesten, sondern zu wahren Aufstunden trieb, wurde er endlich geschlossen und aufgelassen, wurden die Millionen Knochen und Schudel in die Katakomben von Montmartre geschaufelt, und man errichtete an seiner Stelle einen Marktplatz fur Viktualien.

          Hier nun, am allerstinkendsten Ort des gesamten Kunigreichs, wurde am 17. Juli 1738 Jean-Baptiste Grenouille geboren. Es war einer der heißesten Tage des Jahres. Die Hitze lag wie Blei uber dem Friedhof und quetschte den nach einer Mischung aus fauligen Melonen und verbranntem Hurn riechenden Verwesungsbrodem in die benachbarten Gassen. Grenouilles Mutter stand, als die Wehen einsetzten, an einer Fischbude in der Rue aux Fers und schuppte Weißlinge, die sie zuvor ausgenommen hatte. Die Fische, angeblich erst am Morgen aus der Seine gezogen, stanken bereits so sehr, dass ihr Geruch den Leichengeruch uberdeckte. Grenouilles Mutter aber nahm weder den Fisch- noch den Leichengeruch wahr, denn ihre Nase war gegen Geruche im huchsten Maße abgestumpft, und außerdem schmerzte ihr Leib, und der Schmerz tutete alle Empfunglichkeit fur uußere Sinneseindrucke. Sie wollte nur noch, dass der Schmerz aufhure, sie wollte die eklige Geburt so rasch als muglich hinter sich bringen. Es war ihre funfte. Alle vorhergehenden hatte sie hier an der Fischbude absolviert, und alle waren Totgeburten oder Halbtotgeburten gewesen, denn das blutige Fleisch, das da herauskam, unterschied sich nicht viel von dem Fischgekruse, das da schon lag, und lebte auch nicht viel mehr, und abends wurde alles mitsammen weggeschaufelt und hinubergekarrt zum Friedhof oder hinunter zum Fluss. So sollte es auch heute sein, und Grenouilles Mutter, die noch eine junge Frau war, gerade Mitte zwanzig, die noch ganz hubsch aussah und noch fast alle Zuhne im Munde hatte und auf dem Kopf noch etwas Haar und außer der Gicht und der Syphilis und einer leichten Schwindsucht keine ernsthafte Krankheit; die noch hoffte, lange zu leben, vielleicht funf oder zehn Jahre lang, und vielleicht sogar einmal zu heiraten und wirkliche Kinder zu bekommen als ehrenwerte Frau eines verwitweten Handwerkers oder so... Grenouilles Mutter wunschte, dass alles schon voruber wure. Und als die Presswehen einsetzten, hockte sie sich unter ihren Schlachttisch und gebar dort, wie schon vier Mal zuvor und nabelte mit dem Fischmesser das neugeborene Ding ab. Dann aber, wegen der Hitze und des Gestanks, den sie als solchen nicht wahrnahm, sondern nur als etwas Unertrugliches, Betuubendes - wie ein Feld von Lilien oder wie ein enges Zimmer, in dem zu viel Narzissen stehen -, wurde sie ohnmuchtig, kippte zur Seite, fiel unter dem Tisch hervor mitten auf die Straße und blieb dort liegen, das Messer in der Hand.

          Geschrei, Gerenne, im Kreis steht die glotzende Menge, man holt die Polizei. Immer noch liegt dieFrau mit dem Messer in der Hand auf der Straße, la ngsam kommt sie zu sich.
          Was ihr geschehen sei?
          "Nichts."
          Was sie mit dem Messer tue?
          "Nichts."
          Woher das Blut an ihren Rucken komme?
          "Von den Fischen."
          Sie steht auf, wirft das Messer weg und geht davon, um sich zu waschen.

          Da fungt, wider Erwarten, die Geburt unter dem Schlachttisch zu schreien an. Man schaut nach, entdeckt unter einem Schwurm von Fliegen und zwischen Gekruse und abgeschlagenen Fischkupfen das Neugeborene, zerrt es heraus. Von Amts wegen wird es einer Amme gegeben, die Mutter festgenommen. Und weil sie gestundig ist und ohne weiteres zugibt, dass sie das Ding bestimmt wurde haben verrecken lassen, wie sie es im ubrigen schon mit vier anderen getan habe, macht man ihr den Prozess, verurteilt sie wegen mehrfachen Kindermords und schlugt ihr ein paar Wochen sputer auf der Place de Greve den Kopf ab.

          Das Kind hatte zu diesem Zeitpunkt bereits das dritte Mal die Amme gewechselt. Keine wollte es lunger als ein paar Tage behalten. Es sei zu gierig, hieß es, sauge fur zwei, entziehe den anderen Stillkindern die Milch und damit ihnen, den Ammen, den Lebensunterhalt, da rentables Stillen bei einem einzigen Suugling unmuglich sei. Der zustundige Polizeioffizier, ein gewisser La Fosse, war die Sache alsbald leid und wollte das Kind schon zur Sammelstelle fur Findlinge und Waisen in der uußeren Rue Saint-Antoine bringen lassen, von wo aus tuglich Kindertransporte ins staatliche Großfindelheim von Rouen abgingen. Da nun aber diese Transporte von Lasttrugern vermittels Bastkiepen durchgefuhrt wurden, in welche man aus Rationalitutsgrunden bis zu vier Suuglinge gleichzeitig steckte; da deshalb die Sterberate unterwegs außerordentlich hoch war; da aus diesem Grund die Kiepentruger angehalten waren, nur getaufte Suuglinge zu befurdern und nur solche, die mit einem ordnungsgemußen Transportschein versehen waren, welcher in Rouen abgestempelt werden musste; da das Kind Grenouille aber weder getauft war noch uberhaupt einen Namen besaß, den man ordnungsgemuß in den Transportschein hutte eintragen kunnen; da es ferner seitens der Polizei nicht gut angungig gewesen wure, ein Kind anonymiter vor den Pforten der Sammelstelle auszusetzen, was allein die Erfullung der ubrigen Formalituten erubrigt haben wurde... - aus einer Reihe von Schwierigkeiten burokratischer und verwaltungstechnischer Art also, die sich bei der Abschiebung des Kleinkinds zu ergeben schienen, und weil im ubrigen die Zeit drungte, nahm der Polizeioffizier La Fosse von seinem ursprunglichen Entschluss wieder Abstand und gab Anweisung, den Knaben bei irgendeiner kirchlichen Institution gegen Aushundigung einer Quittung abzugeben, damit man ihn dort taufe und uber sein weiteres Schicksal entscheide. Im Kloster von Saint-Merri in der Rue Saint-Martin wurde man ihn los. Er erhielt die Taufe und den Namen Jean-Baptiste. Und weil der Prior an diesem Tage gute Laune hatte und seine karitativen Fonds noch nicht erschupft waren, ließ man das Kind nicht nach Rouen exportieren, sondern auf Kosten des Klosters aufpuppeln. Es wurde zu diesem Behuf einer Amme namens Jeanne Bussie in der Rue Saint-Denis ubergeben, welche bis auf weiteres drei Franc pro Woche fur ihre Bemuhungen erhielt.

    2


          Einige Wochen sputer stand die Amme Jeanne Bussie mit einem Henkelkorb in der Hand vor der Pforte des Klosters von Saint-Merri und sagte dem uffnenden Pater Terrier, einem etwa funfzigjuhrigen kahlkupfigen, leicht nach Essig riechenden Munch "Da!" und stellte den Henkelkorb auf die Schwelle.
          "Was ist das?" sagte Terrier und beugte sich uber den Korb und schnupperte daran, denn er vermutete Essbares.
          "Der Bastard der Kindermurderin aus der Rue aux Fers!"
          Der Pater kramte mit dem Finger im Henkelkorb herum, bis er das Gesicht des schlafenden Suuglings freigelegt hatte.
          "Gut schaut er aus. Rosig und wohlgenuhrt."
          "Weil er sich an mir vollgefressen hat. Weil er mich leergepumpt hat bis auf die Knochen. Aber damit ist jetzt Schluss. Jetzt kunnt Ihr ihn selber weiterfuttern mit Ziegenmilch, mit Brei, mit Rubensaft. Er frisst alles, der Bastard."
          Pater Terrier war ein gemutlicher Mann. In seine Zustundigkeit fiel die Verwaltung des klusterlichen Karitativfonds, die Verteilung von Geld an Arme und Bedurftige. Und er erwartete, dass man ihm dafur Danke sagte und ihn des weiteren nicht belustigte. Technische Einzelheiten waren ihm sehr zuwider, denn Einzelheiten bedeuteten immer Schwierigkeiten, und Schwierigkeiten bedeuteten eine Sturung seiner Gemutsruhe, und das konnte er gar nicht vertragen. Er urgerte sich, dass er die Pforte uberhaupt geuffnet hatte. Er wunschte, dass diese Person ihren Henkelkorb nuhme und nach Hause ginge und ihn in Ruhe ließe mit ihren Suuglingsproblemen.
          Langsam richtete er sich auf und sog mit einem Atemzug den Duft von Milch und kusiger Schafswolle ein, den die Amme verstrumte. Es war ein angenehmer Duft.
          "Ich verstehe nicht, was du willst. Ich verstehe wirklich nicht, worauf du hinauswillst. Ich kann mir nur vorstellen, dass es diesem Suugling durchaus nicht schaden wurde, wenn er noch geraume Zeit an deinen Brusten luge."
          "Ihm nicht", schnarrte die Amme zuruck, "aber mir. Zehn Pfund habe ich abgenommen und dabei gegessen fur drei. Und wofur? Fur drei Franc in der Woche!"
          "Ach, ich verstehe", sagte Terrier fast erleichtert, "ich bin im Bilde: Es geht also wieder einmal ums Geld."
          "Nein!" sagte die Amme.
          "Doch! Immer geht es ums Geld. Wenn an diese Pforte geklopft wird, geht es ums Geld. Einmal wunschte ich mir, dass ich uffnete, und es stunde ein Mensch da, dem es um etwas anderes ginge. Jemand, der beispielsweise eine kleine Aufmerksamkeit vorbeibruchte. Beispielsweise etwas Obst oder ein paar Nusse. Es gibt doch im Herbst eine Menge Dinge, die man vorbeibringen kunnte. Blumen vielleicht. Oder wenn bloß jemand kume und freundlich sagte: >Gott zum Gruße, Pater Terrier, ich wunsche Ihnen einen schunen Tag!< Aber das werde ich wohl nie mehr erleben. Wenn es kein Bettler ist, dann ist es ein Hundler, und wenn es kein Hundler ist, dann ist es ein Handwerker, und wenn er kein Almosen will, dann prusentiert er eine Rechnung. Ich kann schon gar nicht mehr auf die Straße gehen. Wenn ich auf die Straße gehe, bin ich nach drei Schritten umzingelt von Individuen, die Geld wollen!"
          "Nicht von mir", sagte die Amme.
          "Aber ich sage dir eines: Du bist nicht die einzige Amme im Sprengel. Es gibt Hunderte von erstklassigen Ziehmuttern, die sich darum reißen werden, diesen entzuckenden Suugling fur drei Franc pro Woche an die Brust zu legen oder ihm Brei oder Sufte oder sonstige Nuhrmittel einzuflußen..."
          "Dann gebt ihn einer von denen!"
          "... Andrerseits ist es nicht gut, ein Kind so herumzuschubsen. Wer weiß, ob es mit anderer Milch so gut gedeiht wie mit deiner. Es ist den Duft deiner Brust gewuhnt, musst du wissen, und den Schlag deines Herzens."
          Und abermals nahm er einen tiefen Atemzug vom warmen Dunst, den die Amme verstrumte, und sagte dann, als er merkte, dass seine Worte keinen Eindruck auf sie gemacht hatten:
          "Nimm jetzt das Kind mit nach Hause! Ich werde die Sache mit dem Prior besprechen. Ich werde ihm vorschlagen, dir kunftig vier Franc in der Woche zu geben."
          "Nein", sagte die Amme.
          "Also gut: funf!"
          "Nein."
          "Wie viel verlangst du denn noch?" schrie Terrier sie an. "Funf Franc sind ein Haufen Geld fur die untergeordnete Aufgabe, ein kleines Kind zu ernuhren!"
          "Ich will uberhaupt kein Geld", sagte die Amme. "Ich will den Bastard aus dem Haus haben."
          "Aber warum denn, liebe Frau?" sagte Terrier und fingerte wieder in dem Henkelkorb herum. "Er ist doch ein allerliebstes Kind. Er sieht rosa aus, er schreit nicht, er schluft gut, und er ist getauft."
          "Er ist vom Teufel besessen."
          Rasch zog Terrier seine Finger aus dem Korb.
          "Unmuglich! Es ist absolut unmuglich, dass ein Suugling vom Teufel besessen ist. Ein Suugling ist kein Mensch, sondern ein Vormensch und besitzt noch keine voll ausgebildete Seele. Infolgedessen ist er fur den Teufel uninteressant. Spricht er vielleicht schon? Zuckt es in ihm? Bewegt er Dinge im Zimmer? Geht ein ubler Gestank von ihm aus?"
          "Er riecht uberhaupt nicht", sagte die Amme.
          "Da hast du es! Das ist ein eindeutiges Zeichen. Wenn er vom Teufel besessen wure, musste er stinken."
          Und um die Amme zu beruhigen und seinen eigenen Mut unter Beweis zu stellen, hob Terrier den Henkelkorb hoch und hielt ihn sich unter die Nase.
          "Ich rieche nichts Absonderliches", sagte er, nachdem er eine Weile geschnuppert hatte, "wirklich nichts Absonderliches. Mir scheint allerdings, als ob da etwas aus der Windel ruche." Und er hielt ihr den Korb hin, damit sie seinen Eindruck bestutige."Das meine ich nicht", sagte die Amme unwirsch und schob den Korb von sich. "Ich meine nicht das, was in der Windel ist. Seine Exkremente riechen wohl. Er selbst, der Bastard selbst, riecht nicht."
          "Weil er gesund ist", rief Terrier, "weil er gesund ist, deshalb riecht er nicht! Nur kranke Kinder riechen, das ist doch bekannt. Bekanntlich riecht ein Kind, das Blattern hat, nach Pferdedung, und eines, welches Scharlachfieber hat, nach alten upfeln, und ein schwindsuchtiges Kind, das riecht nach Zwiebeln. Es ist gesund, das ist alles, was ihm fehlt. Soll es denn stinken? Stinken denn deine eigenen Kinder?"
          "Nein", sagte die Amme. "Meine Kinder riechen so, wie Menschenkinder riechen sollen."
          Terrier stellte den Henkelkorb vorsichtig auf den Boden zuruck, denn er fuhlte, wie die ersten Wallungen von Wut uber die Widerborstigkeit der Person in ihm aufstiegen. Es war nicht auszuschließen, dass er im Fortgang des Disputes beide Arme zur freieren Gestik benutigte, und er wollte nicht, dass der Suugling dadurch Schaden nuhme. Vorerst allerdings verknotete er seine Hunde hinter dem Rucken, streckte der Amme seinen spitzen Bauch entgegen und fragte scharf: "Du behauptest also zu wissen, wie ein Menschenkind, das ja immerhin auch - daran muchte ich erinnern, zumal wenn es getauft ist - ein Gotteskind ist, zu riechen habe?"
          "Ja", sagte die Amme.
          "Und behauptest ferner, dass, wenn es nicht ruche, wie du meintest, dass es riechen solle - du, die Amme Jeanne Bussie aus der Rue Saint-Denis! -, es dann ein Kind des Teufels sei?" Er schwang die Linke hinter seinem Rucken hervor und hielt ihr drohend den gebogenen Zeigefinger wie ein Fragezeichen vors Gesicht. Die Amme uberlegte. Es war ihr nicht recht, dass das Gespruch mit einem Mal zu einem theologischen Verhur ausartete, bei dem sie nur unterliegen konnte.
          "Das will ich nicht gesagt haben", antwortete sie ausweichend. "Ob die Sache etwas mit dem Teufel zu tun hat oder nicht, das musst Ihr selbst entscheiden, Pater Terrier, dafur bin ich nicht zustundig. Ich weiß nur eins: dass mich vor diesem Suugling graust, weil er nicht riecht, wie Kinder riechen sollen."
          "Aha", sagte Terrier befriedigt und ließ seinen Arm wieder zuruckpendeln. "Das mit dem Teufel nehmen wir also wieder zuruck. Gut. Aber nun sage mir gefulligst: Wie riecht ein Suugling denn, wenn er so riecht, wie du glaubst, dass er riechen solle? Na?"
          "Gut riecht er", sagte die Amme.
          "Was heisst >gut<?" brullte Terrier sie an. "Gut riecht vieles. Ein Bund Lavendel riecht gut. Suppenfleisch riecht gut. Die Gurten von Arabien riechen gut. Wie riecht ein Suugling, will ich wissen?"
          Die Amme zugerte. Sie wusste wohl, wie Suuglinge rochen, sie wusste es ganz genau, sie hatte doch schon Dutzende genuhrt, gepflegt, geschaukelt, gekusst... sie konnte sie nachts mit der Nase finden, sie trug den Suuglingsgeruch selbst jetzt deutlich in der Nase. Aber sie hatte ihn noch nie mit Worten bezeichnet.
          "Na?" bellte Terrier und knipste ungeduldig an seinen Fingernugeln.
          "Also -", begann die Amme, "es ist nicht ganz leicht zu sagen, weil... weil, sie riechen nicht uberall gleich, obwohl sie uberall gut riechen, Pater, verstehen Sie, also an den Fußen zum Beispiel, da riechen sie wie ein glatter warmer Stein - nein eher wie Topfen... oder wie Butter, wie frische Butter, ja genau: wie frische Butter riechen sie. Und am Kurper riechen sie wie ... wie eine Galette, die man in Milch gelegt hat. Und am Kopf, da oben, hinten auf dem Kopf, wo das Haar den Wirbel macht, da, schauen Sie, Pater, da, wo bei Ihnen nichts mehr ist...", und sie tippte Terrier, der uber diesen Schwall detaillierter Dummheit fur einen Moment sprachlos geworden war und gehorsam den Kopf gesenkt hatte, auf die Glatze, "... hier, genau hier, da riechen sie am besten. Da riechen sie nach Karamel, das riecht so suß, so wunderbar, Pater, Sie machen sich keine Vorstellung! Wenn man sie da gerochen hat, dann liebt man sie, ganz gleich ob es die eignen oder fremde sind. Und so und nicht anders mussen kleine Kinder riechen. Und wenn sie nicht so riechen, wenn sie da oben gar nicht riechen, noch weniger als kalte Luft, so wie der da, der Bastard, dann... Sie kunnen das erkluren, wie Sie wollen, Pater, aber ich" - und sie verschrunkte entschlossen die Arme unter ihrem Busen und warf einen so angeekelten Blick auf den Henkelkorb zu ihren Fußen, als enthielte er Kruten -, "ich, Jeanne Bussie, werde das da nicht mehr zu mir nehmen!"
          Pater Terrier hob langsam den gesenkten Kopf und fuhr sich ein paarmal mit dem Finger uber die Glatze, als wolle er dort Haare ordnen, legte den Finger wie zufullig unter seine Nase und schnupperte nachdenklich.
          "Wie Karamel...?" fragte er und versuchte, seinen strengen Ton wiederzufinden... "Karamel! Was weisst du von Karamel? Hast du schon mal welches gegessen?"
          "Nicht direkt", sagte die Amme. "Aber ich war einmal in einem großen Hotel in der Rue Saint-Honore und habe zugesehen, wie es gemacht wurde aus geschmolzenem Zucker und Rahm. Es roch so gut, dass ich es nicht mehr vergessen habe."
          "Jaja. Schon recht", sagte Terrier und entfernte den Finger von der Nase. "Bitte schweige jetzt! Es ist fur mich uberaus anstrengend, mich weiterhin auf diesem Niveau mit dir zu unterhalten. Ich stelle fest, du weigerst dich, aus welchen Grunden auch immer, den dir anvertrauten Suugling Jean-Baptiste Grenouille weiter zu ernuhren, und erstattest ihn hiermit seinem provisorischen Vormund, dem Kloster von Saint-Merri zuruck. Ich finde das betrublich, aber ich kann es wohl nicht undern. Du bist entlassen."
          Damit packte er den Henkelkorb, nahm noch einen Atemzug von dem verwehenden warmen, wolligen Milchdunst und warf das Tor ins Schloss. Dann ging er in sein Buro.

    3


          Pater Terrier war ein gebildeter Mann. Er hatte nicht nur Theologie studiert, sondern auch die Philosophen gelesen und beschuftigte sich nebenbei mit Botanik und Alchemie. Er hielt einiges auf die Kraft seines kritischen Geistes. Zwar wure er nicht so weit gegangen, wie manche es taten, die Wunder, die Orakel oder die Wahrheit der Texte der Heiligen Schrift in Frage zu stellen, auch wenn sie strenggenommen mit Vernunft allein nicht zu erkluren waren, ja dieser sogar oft direkt widersprachen. Von solchen Problemen ließ er lieber seine Finger, sie waren ihm zu ungemutlich und wurden ihn nur in die peinlichste Unsicherheit und Unruhe sturzen, wo man doch, gerade um sich seiner Vernunft zu bedienen, der Sicherheit und der Ruhe bedurfte. Was er aber aufs entschiedenste bekumpfte, waren die abergluubischen Vorstellungen des einfachen Volkes: Hexerei und Kartenlesen, Amulettgetrage, buser Blick, Beschwurungen, Vollmondhokuspokus und was sie sonst noch alles trieben - es war ja tief deprimierend zu sehen, dass solche heidnischen Gebruuche nach uber tausendjuhriger fester Installation der christlichen Religion immer noch nicht ausgerottet waren! Auch die meisten Fulle von sogenannter Teufelsbesessenheit und Satansbundelei erwiesen sich bei nuherer Betrachtung als abergluubisches Spektakel. Zwar, die Existenz des Satans selbst zu leugnen, seine Macht zu bezweifeln - so weit wurde Terrier nicht gehen; solche Probleme zu entscheiden, die die Grundfesten der Theologie beruhrten, waren andere Instanzen berufen als ein kleiner einfacher Munch. Auf der anderen Seite lag es klar zutage, dass, wenn eine einfultige Person wie jene Amme behauptete, sie habe einen Teufelsspuk entdeckt, der Teufel nie und nimmer seine Hand im Spiel haben konnte. Gerade dass sie ihn entdeckt zu haben glaubte, war ein sicherer Beweis dafur, dass da nichts Teuflisches zu entdecken war, denn so dumm stellte sich der Teufel auch wieder nicht an, dass er sich von der Amme Jeanne Bussie entlarven ließ. Und noch dazu mit der Nase! Mit dem primitiven Geruchsorgan, dem niedrigsten der Sinne! Als ruche die Hulle nach Schwefel und das Paradies nach Weihrauch und Myrrhe! Schlimmster Aberglaube, wie in dunkelster heidnischster Vorzeit, als die Menschen noch wie Tiere lebten, als sie noch keine scharfen Augen besaßen, die Farbe nicht kannten, aber Blut riechen zu kunnen glaubten, meinten, Freund von Feind zu erriechen, von kannibalischen Riesen und Werwulfen gewittert und von Erinnyen gerochen zu werden, und ihren scheußlichen Guttern stinkende, qualmende Brandopfer brachten. Entsetzlich! >Es sieht der Narr mit der Nase< mehr als mit den Augen, und wahrscheinlich musste das Licht der gottgegebenen Vernunft noch tausend weitere Jahre leuchten, ehe die letzten Reste des primitiven Glaubens verscheucht waren.
          "Ach, und das arme kleine Kind! Das unschuldige Wesen! Liegt in seinem Korb und schlummert, ahnt nichts von den ekligen Verduchtigungen, die gegen es erhoben werden. Du ruchest nicht, wie Menschenkinder riechen sollen, wagt die unverschumte Person zu behaupten. Ja, was sagen wir denn dazu? Duziduzi!"
          Und er wiegte den Korb sachte auf den Knien, streichelte dem Suugling mit dem Finger uber den Kopf und sagte von Zeit zu Zeit "duziduzi", was er fur einen auf Kleinkinder zurtlich und beruhigend wirkenden Ausdruck hielt. "Nach Karamel sollst du riechen, so ein Unsinn, duziduzi!"
          Nach einer Weile zog er den Finger zuruck, hielt ihn sich unter die Nase, schnupperte, roch aber nichts als das Sauerkraut, das er mittags gegessen hatte. Er zugerte einen Moment, blickte sich um, ob ihn auch niemand beobachte, hob den Korb empor, senkte seine dicke Nase hinein. Ganz knapp, so dass die dunnen rutlichen Kindshaare seine Nustern kitzelten, schnoberte er uber den Kopf des Suuglings, in der Erwartung, einen Geruch aufzusaugen. Er wusste nicht so recht, wie Suuglinge am Kopf zu riechen hatten. Naturlich nicht nach Karamel, so viel stand fest, denn Karamel war ja geschmolzener Zucker, und wie sollte ein Suugling, der bisher nur Milch getrunken hatte, nach geschmolzenem Zucker riechen. Nach Milch kunnte er riechen, nach Ammenmilch. Aber er roch nicht nach Milch. Nach Haaren konnte er riechen, nach Haut und Haaren und vielleicht nach ein bisschen Kinderschweiß. Und Terrier schnupperte und stellte sich darauf ein, Haut, Haare und ein bisschen Kinderschweiß zu riechen. Aber er roch nichts. Beim besten Willen nichts. Wahrscheinlich riecht ein Suugling nicht, dachte er, so wird das sein. Ein Suugling, sofern reinlich gehalten, riecht eben nicht, genausowenig wie er spricht, luuft oder schreibt. Diese Dinge kommen erst mit dem Alter. Strenggenommen strumt der Mensch sogar erst Duft aus, wenn er pubertiert. So ist das und nicht anders. Schreibt nicht schon Horaz "Es buckelt der Jungling, es duftet erbluhend die Jungfrau wie eine weiße Narzisse..."?- und die Rumer verstanden etwas davon! Der Menschenduft ist immer ein fleischlicher Duft - also ein sundiger Duft. Wie sollte also ein Suugling, der doch noch nicht einmal im Traume die fleischliche Sunde kennt, riechen? Wie sollte er riechen? Duziduzi? Gar nicht!
          Er hatte den Korb wieder auf die Knie gestellt und hutschte ihn sachte. Das Kind schlief noch immer fest. Seine rechte Faust schaute unter der Decke hervor, klein und rot, und zuckte manchmal ruhrend gegen die Wange. Terrier luchelte und kam sich plutzlich sehr gemutlich vor. Fur einen Moment gestattete er sich den phantastischen Gedanken, er selbst sei der Vater des Kindes. Er wure kein Munch geworden, sondern ein normaler Burger, ein rechtschaffener Handwerker vielleicht, hutte ein Weib genommen, ein warmes wollig und milchig duftendes Weib, und hutte mit ihr einen Sohn gezeugt und hutschte ihn nun hier auf seinen eigenen Knien, sein eigenes Kind, duziduziduzi... Es war ihm wohl bei diesem Gedanken. Der Gedanke hatte etwas so Ordentliches. Ein Vater hutscht seinen Sohn auf den Knien, duziduzi, es war ein Bild so alt wie die Welt und immer ein neues und richtiges Bild, solange die Welt bestand, ach ja! Es wurde Terrier ein bisschen warm ums Herz und sentimental im Gemut.
          Da erwachte das Kind. Es erwachte zuerst mit der Nase. Die winzige Nase bewegte sich, sie zog sich nach oben und schnupperte. Sie sog die Luft ein und schnaubte sie in kurzen Stußen aus, wie bei einem unvollkommenen Niesen. Dann rumpfte sich die Nase, und das Kind tat die Augen auf. Die Augen waren von unbestimmter Farbe, zwischen austerngrau und opalweiß-cremig, von einer Art schleimigem Schleier uberzogen und offenbar noch nicht sehr gut zum Sehen geeignet. Terrier hatte den Eindruck, dass sie ihn gar nicht gewahrten. Anders die Nase. Wuhrend die matten Augen des Kindes ins Unbestimmte schielten, schien die Nase ein bestimmtes Ziel zu fixieren, und Terrier hatte das sehr sonderbare Gefuhl, als sei dieses Ziel er, seine Person, Terrier selbst. Die winzigen Nasenflugel um die zwei winzigen Lucher mitten im Gesicht des Kindes bluhten sich wie eine aufgehende Blute. Oder eher wie die Nupfe jener kleinen fleischfressenden Pflanzen, die man im botanischen Garten des Kunigs hielt. Und wie von diesen schien ein unheimlicher Sog von ihnen auszugehen. Es war Terrier, als sehe ihn das Kind mit seinen Nustern, als sehe es ihn scharf und prufend an, durchdringender, als man es mit Augen kunnte, als verschlunge es etwas mit seiner Nase, das von ihm, Terrier, ausging, und das er nicht zuruckhalten und nicht verbergen konnte... Das geruchlose Kind roch ihn schamlos ab, so war es! Es witterte ihn aus! Und er kam sich mit einem Mal stinkend vor, nach Schweiß und Essig, nach Sauerkraut und ungewaschenen Kleidern. Er kam sich nackt und hußlich vor, wie begafft von jemandem, der seinerseits nichts von sich preisgab. Selbst durch seine Haut schien es hindurchzuriechen, in sein Innerstes hinein. Die zartesten Gefuhle, die schmutzigsten Gedanken lagen bloß vor dieser gierigen kleinen Nase, die noch gar keine rechte Nase war, sondern nur ein Stups, ein sich stundig kruuselndes und bluhendes und bebendes winziges luchriges Organ. Terrier schauderte. Er ekelte sich. Er verzog nun seinerseits die Nase wie vor etwas ubelriechendem, mit dem er nichts zu tun haben wollte. Vorbei der anheimelnde Gedanke, es handle sich ums eigne Fleisch und Blut. Zerstoben das sentimentale Idyll von Vater und Sohn und duftender Mutter. Wie weggerissen der gemutlich umhullende Gedankenschleier, den er sich um das Kind und sich selbst zurecht phantasiert hatte: Ein fremdes, kaltes Wesen lag auf seinen Knien, ein feindseliges Animal, und wenn er nicht ein so besonnener und von Gottesfurcht und rationaler Einsicht geleiteter Charakter gewesen wure, so hutte er es in einem Anflug von Ekel wie eine Spinne von sich geschleudert.
          Mit einem Ruck stand Terrier auf und setzte den Korb auf den Tisch. Er wollte das Ding loshaben, muglichst schnell, muglichst gleich, muglichst sofort.
          Und da begann es zu schreien. Es kniff die Augen zusammen, riss seinen roten Schlund auf und kreischte so widerwurtig schrill, dass Terrier das Blut in den Adern erstarrte. Er schuttelte den Korb mit ausgestreckter Hand und schrie "Duziduzi", um das Kind zum Schweigen zu bringen, aber es brullte nur noch lauter und wurde ganz blau im Gesicht und sah aus, als wolle es vor Brullen zerplatzen.
          Weg damit! dachte Terrier, augenblicklich weg mit diesem... >Teufel< wollte er sagen und riss sich zusammen und verkniff es sich,... weg mit diesem Unhold, mit diesem unertruglichen Kind! Aber wohin? Er kannte ein Dutzend Ammen und Waisenhuuser im Quartier, aber das war ihm zu nah, zu dicht auf der Haut war ihm das, weiter weg musste das Ding, so weit, dass man's nicht hurte, so weit, dass man's ihm nicht jede Stunde wieder vor die Ture stellen konnte, nach Muglichkeit musste es in einen anderen Sprengel, ans andere Ufer noch besser, am allerbesten extra muros, in den Faubourg Saint-Antoine, das war's!, dahin kam der schreiende Balg, weit nach Osten, jenseits der Bastille, wo man nachts die Tore schloss.
          Und er raffte seine Soutane und ergriff den brullenden Korb und rannte davon, rannte durch das Gassengewirr zur Rue du Faubourg Saint-Antoine, die Seine hinauf nach Osten, zur Stadt hinaus, weit, weit hinaus bis zur Rue de Charonne und diese fast bis zum Ende, wo er, in der Nuhe des Klosters der Madeleine de Trenelle, die Adresse einer gewissen Madame Gaillard kannte, welche Kostkinder jeglichen Alters und jeglicher Art aufnahm, solange nur jemand dafur zahlte, und dort gab er das immer noch schreiende Kind ab, zahlte fur ein Jahr im voraus und floh zuruck in die Stadt, warf, im Kloster angekommen, seine Kleider wie etwas Beflecktes ab, wusch sich von Kopf bis Fuß und kroch in seiner Kammer ins Bett, wo er viele Kreuze schlug, lange betete und endlich erleichtert entschlief.

    4


          Madame Gaillard, obwohl noch keine dreißig Jahre alt, hatte das Leben schon hinter sich. uußerlich sah sie so alt aus, wie es ihrem wirklichen Alter entsprach, und zugleich doppelt und dreimal und hundertmal so alt, numlich wie die Mumie eines Mudchens; innerlich aber war sie lungst tot. Als Kind hatte sie von ihrem Vater einen Schlag mit dem Feuerhaken uber die Stirn bekommen, knapp oberhalb der Nasenwurzel, und seither den Geruchssinn verloren und jedes Gefuhl fur menschliche Wurme und menschliche Kulte und uberhaupt jede Leidenschaft. Zurtlichkeit war ihr mit diesem einen Schlag ebenso fremd geworden wie Abscheu, Freude so fremd wie Verzweiflung. Sie empfand nichts, als sie sputer ein Mann beschlief, und ebenso nichts, als sie ihre Kinder gebar. Sie trauerte nicht uber die, die ihr starben, und freute sich nicht an denen, die ihr blieben. Als ihr Mann sie prugelte, zuckte sie nicht, und sie verspurte keine Erleichterung, als er im Hotel-Dieu an der Cholera starb. Die zwei einzigen Sensationen, die sie kannte, waren eine ganz leichte Gemutsverdusterung, wenn die monatliche Migrune nahte, und eine ganz leichte Gemutsaufhellung, wenn die Migrune wieder wich. Sonst spurte diese abgestorbene Frau nichts.
          Auf der anderen Seite... oder vielleicht gerade wegen ihrer vollkommenen Emotionslosigkeit, besaß Madame Gaillard einen gnadenlosen Ordnungs- und Gerechtigkeitssinn. Sie bevorzugte keines der ihr anvertrauten Kinder und benachteiligte keines. Sie verabreichte drei Mahlzeiten am Tag und keinen kleinsten Happen mehr. Sie windelte die Kleinen dreimal am Tag und nur bis zum zweiten Geburtstag. Wer danach noch in die Hose schiss, erhielt eine vorwurfslose Ohrfeige und eine Mahlzeit weniger. Exakt die Hulfte des Kostgelds verwandte sie fur die Zuglinge, exakt die Hulfte behielt sie fur sich. Sie versuchte in billigen Zeiten nicht, ihren Gewinn zu erhuhen; aber sie legte in harten Zeiten nicht einen einzigen Sol zu, auch nicht, wenn es auf Leben und Tod ging. Das Geschuft hutte sich sonst fur sie nicht mehr gelohnt. Sie brauchte das Geld. Sie hatte sich das ganz genau ausgerechnet. Im Alter wollte sie sich eine Rente kaufen und daruberhinaus noch so viel besitzen, dass sie es sich leisten konnte, zu Hause zu sterben und nicht im Hotel-Dieu zu verrecken wie ihr Mann. Sein Tod selbst hatte sie kaltgelassen. Aber ihr graute vor diesem uffentlichen gemeinsamen Sterben mit Hunderten von fremden Menschen. Sie wollte sich einen privaten Tod leisten, und dazu brauchte sie die volle Marge vom Kostgeld: Zwar, es gab Winter, da starben ihr von den zwei Dutzend kleinen Pensionuren drei oder vier. Doch damit lag sie immer noch erheblich besser als die meisten anderen privaten Ziehmutter und ubertraf die großen staatlichen oder kirchlichen Findelhuuser, deren Verlustquote oft neun Zehntel betrug, bei weitem. Es gab ja auch viel Ersatz. Paris produzierte im Jahr uber zehntausend neue Findelkinder, Bastarde und Waisen. So ließ sich mancher Ausfall verschmerzen.
          Fur den kleinen Grenouille war das Etablissement der Madame Gaillard ein Segen. Wahrscheinlich hutte er nirgendwo anders uberleben kunnen. Hier aber, bei dieser seelenarmen Frau gedieh er. Er besaß eine zuhe Konstitution. Wer wie er die eigene Geburt im Abfall uberlebt hatte, ließ sich nicht mehr so leicht aus der Welt bugsieren. Er konnte tagelang wussrige Suppen essen, er kam mit der dunnsten Milch aus, vertrug das faulste Gemuse und verdorbenes Fleisch. Im Verlauf seiner Kindheit uberlebte er die Masern, die Ruhr, die Windpocken, die Cholera, einen Sechsmetersturz in einen Brunnen und die Verbruhung der Brust mit kochendem Wasser. Zwar trug er Narben davon und Schrunde und Grind und einen leicht verkruppelten Fuß, der ihn hatschen machte, aber er lebte. Er war zuh wie ein resistentes Bakterium und genugsam wie ein Zeck, der still auf einem Baum sitzt und von einem winzigen Blutstrupfchen lebt, das er vor Jahren erbeutet hat. Ein minimales Quantum an Nahrung und Kleidung brauchte er fur seinen Kurper. Fur seine Seele brauchte er nichts. Geborgenheit, Zuwendung, Zurtlichkeit, Liebe - oder wie die ganzen Dinge hießen, deren ein Kind angeblich bedurfte - waren dem Kinde Grenouille vullig entbehrlich. Vielmehr, so scheint uns, hatte er sie sich selbst entbehrlich gemacht, um uberhaupt leben zu kunnen, von Anfang an. Der Schrei nach seiner Geburt, der Schrei unter dem Schlachttisch hervor, mit dem er sich in Erinnerung und seine Mutter aufs Schafott gebracht hatte, war kein instinktiver Schrei nach Mitleid und Liebe gewesen. Es war ein wohlerwogener, fast muchte man sagen ein reiflich erwogener Schrei gewesen, mit dem sich das Neugeborene gegen die Liebe und dennoch fur das Leben entschieden hatte. Unter den obwaltenden Umstunden war dieses ja auch nur ohne jene muglich, und hutte das Kind beides gefordert, so wure es zweifellos alsbald elend zugrunde gegangen. Es hutte damals allerdings auch die zweite ihm offenstehende Muglichkeit ergreifen und schweigen und den Weg von der Geburt zum Tode ohne den Umweg uber das Leben wuhlen kunnen, und es hutte damit der Welt und sich selbst eine Menge Unheil erspart. Um aber so bescheiden abzutreten, hutte es eines Mindestmaßes an eingeborener Freundlichkeit bedurft, und die besaß Grenouille nicht. Er war von Beginn an ein Scheusal. Er entschied sich fur das Leben aus reinem Trotz und aus reiner Boshaftigkeit.
          Selbstverstundlich entschied er sich nicht, wie ein erwachsener Mensch sich entscheidet, der seine mehr oder weniger große Vernunft und Erfahrung gebraucht, um zwischen verschiedenen Optionen zu wuhlen. Aber er entschied sich doch vegetativ, so wie eine weggeworfene Bohne entscheidet, ob sie nun keimen soll oder ob sie es besser bleiben lusst.
          Oder wie jener Zeck auf dem Baum, dem doch das Leben nichts anderes zu bieten hat als ein immerwuhrendes uberwintern. Der kleine hußliche Zeck, der seinen bleigrauen Kurper zur Kugel formt, um der Außenwelt die geringstmugliche Fluche zu bieten; der seine Haut glatt und derb macht, um nichts zu verstrumen, kein bisschen von sich hinauszutranspirieren. Der Zeck, der sich extra klein und unansehnlich macht, damit niemand ihn sehe und zertrete. Der einsame Zeck, der in sich versammelt auf seinem Baume hockt, blind, taub und stumm, und nur wittert, jahrelang wittert, meilenweit, das Blut voruberwandernder Tiere, die er aus eigner Kraft niemals erreichen wird. Der Zeck kunnte sich fallen lassen. Er kunnte sich auf den Boden des Waldes fallen lassen, mit seinen sechs winzigen Beinchen ein paar Millimeter dahin und dorthin kriechen und sich unters Laub zum Sterben legen, es wure nicht schade um ihn, weiß Gott nicht. Aber der Zeck, bockig, stur und eklig, bleibt hocken und lebt und wartet. Wartet, bis ihm der huchst unwahrscheinliche Zufall das Blut in Gestalt eines Tieres direkt unter den Baum treibt. Und dann erst gibt er seine Zuruckhaltung auf, lusst sich fallen und krallt und bohrt und beisst sich in das fremde Fleisch...
          So ein Zeck war das Kind Grenouille. Es lebte in sich selbst verkapselt und wartete auf bessere Zeiten. An die Welt gab es nichts ab als seinen Kot; kein Lucheln, keinen Schrei, keinen Glanz des Auges, nicht einmal einen eigenen Duft. Jede andere Frau hutte dieses monstruse Kind verstoßen. Nicht so Madame Gaillard. Sie roch ja nicht, dass es nicht roch, und sie erwartete keine seelische Regung von ihm, weil ihre eigene Seele versiegelt war.
          Die andern Kinder dagegen spurten sofort, was es mit Grenouille auf sich hatte. Vom ersten Tag an war ihnen der Neue unheimlich. Sie mieden die Kiste, in der er lag, und ruckten auf ihren Schlafgestellen enger zusammen, als wure es kulter geworden im Zimmer. Die jungeren schrien manchmal des Nachts; ihnen war, als zuge ein Windzug durch die Kammer. Andere truumten, es nehme ihnen etwas den Atem. Einmal taten sich die ulteren zusammen, um ihn zu ersticken. Sie huuften Lumpen und Decken und Stroh auf sein Gesicht und beschwerten das ganze mit Ziegeln. Als Madame Gaillard ihn am nuchsten Morgen ausgrub, war er zerknautscht und zerdruckt und blau, aber nicht tot. Sie versuchten es noch ein paarmal, vergebens. Ihn direkt zu erwurgen, am Hals, mit eigenen Hunden, oder ihm Mund oder Nase zu verstopfen, was eine sicherere Methode gewesen wure, das wagten sie nicht. Sie wollten ihn nicht beruhren. Sie ekelten sich vor ihm wie vor einer dicken Spinne, die man nicht mit eigner Hand zerquetschen will.
          Als er grußer wurde, gaben sie die Mordanschluge auf. Sie hatten wohl eingesehen, dass er nicht zu vernichten war. Statt dessen gingen sie ihm aus dem Weg, liefen davon, huteten sich in jedem Fall vor Beruhrung. Sie hassten ihn nicht. Sie waren auch nicht eifersuchtig oder futterneidisch auf ihn. Fur solche Gefuhle hutte es im Hause Gaillard nicht den geringsten Anlass gegeben. Es sturte sie ganz einfach, dass er da war. Sie konnten ihn nicht riechen. Sie hatten Angst vor ihm.

    5


          Dabei besaß er, objektiv gesehen, gar nichts Angsteinflußendes. Er war, als er heranwuchs, nicht besonders groß, nicht stark, zwar hußlich, aber nicht so extrem hußlich, dass man vor ihm hutte erschrecken mussen. Er war nicht aggressiv, nicht link, nicht hinterhultig, er provozierte nicht. Er hielt sich lieber abseits. Auch seine Intelligenz schien alles andere als furchterlich zu sein. Erst mit drei Jahren begann er auf zwei Beinen zu stehen, sein erstes Wort sprach er mit vier, es war das Wort "Fische", das in einem Moment plutzlicher Erregung aus ihm hervorbrach wie ein Echo, als von ferne ein Fischverkuufer die Rue de Charonne heraufkam und seine Ware ausschrie. Die nuchsten Wurter, derer er sich entuußerte, waren "Pelargonie", "Ziegenstall", "Wirsing" und "Jacqueslorreur", letzteres der Name eines Gurtnergehilfen des nahegelegenen Stifts der Filles de la Croix, der bei Madame Gaillard gelegentlich grubere und grubste Arbeiten verrichtete und sich dadurch auszeichnete, dass er sich im Leben noch kein einziges Mal gewaschen hatte. Mit den Zeitwurtern, den Adjektiven und Fullwurtern hatte er es weniger. Bis auf "ja" und "nein" - die er ubrigens sehr sput zum ersten Mal aussprach - gab er nur Hauptwurter, ja eigentlich nur Eigennamen von konkreten Dingen, Pflanzen, Tieren und Menschen von sich, und auch nur dann, wenn ihn diese Dinge, Pflanzen, Tiere oder Menschen unversehens geruchlich uberwultigten.
          In der Murzsonne auf einem Stapel Buchenscheite sitzend, die in der Wurme knackten, war es, dass er zum ersten Mal das Wort "Holz" aussprach. Er hatte hundertmal zuvor schon Holz gesehen, das Wort schon hundertmal gehurt. Er verstand es auch, war er doch im Winter oft hinausgeschickt worden, um Holz zu holen. Aber der Gegenstand Holz war ihm nie interessant genug vorgekommen, als dass er sich die Muhe gegeben hutte, seinen Namen auszusprechen. Das geschah erst an jenem Murztag, als er auf dem Stapel saß. Der Stapel war wie eine Bank an der Sudseite des Schuppens von Madame Gaillard unter einem uberhungenden Dach aufgeschichtet. Brenzlig suß rochen die obersten Scheite, moosig duftete es aus der Tiefe des Stapels herauf, und von der Fichtenwand des Schuppens fiel in der Wurme bruseliger Harzduft ab. Grenouille saß mit ausgestreckten Beinen auf dem Stapel, den Rucken gegen die Schuppenwand gelehnt, er hatte die Augen geschlossen und ruhrte sich nicht. Er sah nichts, er hurte und spurte nichts. Er roch nur den Duft des Holzes, der um ihn herum aufstieg und sich unter dem Dach wie unter einer Haube fing. Er trank diesen Duft, er ertrank darin, imprugnierte sich damit bis in die letzte innerste Pore, wurde selbst Holz, wie eine hulzerne Puppe, wie ein Pinocchio lag er auf dem Holzstoß, wie tot, bis er, nach langer Zeit, vielleicht nach einer halben Stunde erst, das Wort "Holz" hervorwurgte. Als sei er angefullt mit Holz bis uber beide Ohren, als stunde ihm das Holz schon bis zum Hals, als habe er den Bauch, den Schlund, die Nase ubervoll von Holz, so kotzte er das Wort heraus. Und das brachte ihn zu sich, errettete ihn, kurz bevor die uberwultigende Gegenwart des Holzes selbst, sein Duft, ihn zu ersticken drohte. Er rappelte sich auf, rutschte von dem Stapel herunter und wankte wie auf hulzernen Beinen davon. Noch Tage sputer war er von dem intensiven Geruchserlebnis ganz benommen und brabbelte, wenn die Erinnerung daran zu kruftig in ihm aufstieg, beschwurend "Holz, Holz" vor sich hin.
          So lernte er sprechen. Mit Wurtern, die keinen riechenden Gegenstand bezeichneten, mit abstrakten Begriffen also, vor allem ethischer und moralischer Natur, hatte er die grußten Schwierigkeiten. Er konnte sie nicht behalten, verwechselte sie, verwendete sie noch als Erwachsener ungern und oft falsch: Recht, Gewissen, Gott, Freude, Verantwortung, Demut, Dankbarkeit usw. - was damit ausgedruckt sein sollte, war und blieb ihm schleierhaft.
          Andrerseits hutte die gungige Sprache schon bald nicht mehr ausgereicht, all jene Dinge zu bezeichnen, die er als olfaktorische Begriffe in sich versammelt hatte. Bald roch er nicht mehr bloß Holz, sondern Holzsorten, Ahornholz, Eichenholz, Kiefernholz, Ulmenholz, Birnbaumholz, altes, junges, morsches, modriges, moosiges Holz, ja sogar einzelne Holzscheite, Holzsplitter und Holzbrusel - und roch sie als so deutlich unterschiedene Gegenstunde, wie andre Leute sie nicht mit Augen hutten unterscheiden kunnen. uhnlich erging es ihm mit anderen Dingen. Dass jenes weiße Getrunk, welches Madame Gaillard allmorgendlich ihren Zuglingen verabreichte, durchweg als Milch bezeichnet wurde, wo es doch nach Grenouilles Empfinden jeden Morgen durchaus anders roch und schmeckte, je nachdem wie warm es war, von welcher Kuh es stammte, was diese Kuh gefressen hatte, wieviel Rahm man ihm belassen hatte und so fort... dass Rauch, dass ein von hundert Einzelduften schillerndes, minuten-, ja sekundenweis sich wandelndes und zu neuer Einheit mischendes Geruchsgebilde wie der Rauch des Feuers nur eben jenen einen Namen "Rauch" besaß... dass Erde, Landschaft, Luft, die von Schritt zu Schritt und von Atemzug zu Atemzug von anderem Geruch erfullt und damit von andrer Identitut beseelt waren, dennoch nur mit jenen drei plumpen Wurtern bezeichnet sein sollten - all diese grotesken Missverhultnisse zwischen dem Reichtum der geruchlich wahrgenommenen Welt und der Armut der Sprache, ließen den Knaben Grenouille am Sinn der Sprache uberhaupt zweifeln; und er bequemte sich zu ihrem Gebrauch nur, wenn es der Umgang mit anderen Menschen unbedingt erforderlich machte.
          Mit sechs Jahren hatte er seine Umgebung olfaktorisch vollstundig erfasst. Es gab im Hause der Madame Gaillard keinen Gegenstand, in der nurdlichen Rue de Charonne keinen Ort, keinen Menschen, keinen Stein, Baum, Strauch oder Lattenzaun, keinen noch so kleinen Flecken, den er nicht geruchlich kannte, wiedererkannte und mit der jeweiligen Einmaligkeit fest im Geduchtnis verwahrte. Zehntausend, hunderttausend spezifische Eigengeruche hatte er gesammelt und hielt sie zu seiner Verfugung, so deutlich, so beliebig, dass er sich nicht nur ihrer erinnerte, wenn er sie wieder roch, sondern dass er sie tatsuchlich roch, wenn er sich ihrer wieder erinnerte; ja, mehr noch, dass er sie sogar in seiner bloßen Phantasie untereinander neu zu kombinieren verstand und dergestalt in sich Geruche erschuf, die es in der wirklichen Welt gar nicht gab. Es war, als besuße er ein riesiges selbsterlerntes Vokabular von Geruchen, das ihn befuhigte, eine schier beliebig große Menge neuer Geruchssutze zu bilden und dies in einem Alter, da andere Kinder mit den ihnen muhsam eingetrichterten Wurtern die ersten, zur Beschreibung der Welt huchst unzulunglichen konventionellen Sutze stammelten. Am ehesten war seine Begabung vielleicht der eines musikalischen Wunderkindes vergleichbar, das den Melodien und Harmonien das Alphabet der einzelnen Tune abgelauscht hatte und nun selbst vollkommen neue Melodien und Harmonien komponierte - mit dem Unterschied freilich, dass das Alphabet der Geruche ungleich grußer und differenzierter war als das der Tune, und mit dem Unterschied ferner, dass sich die schupferische Tutigkeit des Wunderkinds Grenouille allein in seinem Innern abspielte und von niemandem wahrgenommen werden konnte als nur von ihm selbst.
          Nach außen hin wurde er immer verschlossener. Am liebsten streifte er allein durch den nurdlichen Faubourg Saint-Antoine, durch Gemusegurten, Weinfelder, uber Wiesen. Manchmal kehrte er abends nicht nach Hause zuruck, blieb tagelang verschollen. Die fullige Zuchtigung mit dem Stock ertrug er ohne Schmerzensuußerung. Hausarrest, Essensentzug, Strafarbeit konnten sein Benehmen nicht undern. Ein eineinhalbjuhriger sporadischer Besuch der Pfarrschule von Notre Dame de Bon Secours blieb ohne erkennbare Wirkung. Er lernte ein bisschen buchstabieren und den eignen Namen schreiben, sonst nichts. Sein Lehrer hielt ihn fur schwachsinnig.
          Madame Gaillard hingegen fiel auf, dass er bestimmte Fuhigkeiten und Eigenheiten besaß, die sehr ungewuhnlich, um nicht zu sagen ubernaturlich waren: So schien ihm die kindliche Angst vor der Dunkelheit und der Nacht vullig fremd zu sein. Man konnte ihn jederzeit zu einer Besorgung in den Keller schicken, wohin sich die anderen Kinder kaum mit einer Lampe wagten, oder hinaus zum Schuppen zum Holzholen bei stockfinsterer Nacht. Und nie nahm er ein Licht mit und fand sich doch zurecht und brachte sofort das Verlangte, ohne einen falschen Griff zu tun, ohne zu stolpern oder etwas umzustoßen. Noch merkwurdiger freilich erschien es, dass er, wie Madame Gaillard festgestellt zu haben glaubte, durch Papier, Stoff, Holz, ja sogar durch festgemauerte Wunde und geschlossene Turen hindurchzusehen vermochte. Er wusste, wieviel und welche Zuglinge sich im Schlafraum aufhielten, ohne ihn betreten zu haben. Er wusste, dass eine Raupe im Blumenkohl steckte, ehe der Kopf zerteilt war. Und einmal, als sie ihr Geld so gut versteckt hatte, dass sie es selbst nicht mehr wiederfand (sie underte ihre Verstecke), deutete er, ohne eine Sekunde zu suchen, auf eine Stelle hinter dem Kaminbalken, und siehe, da war es! Sogar in die Zukunft konnte er sehen, indem er numlich den Besuch einer Person lange vor ihrem Eintreffen ankundigte oder das Nahen eines Gewitters unfehlbar vorauszusagen wusste, ehe noch das kleinste Wulkchen am Himmel stand. Dass er dies alles freilich nicht sah, nicht mit Augen sah, sondern mit seiner immer schurfer und pruziser riechenden Nase erwitterte: die Raupe im Kohl, das Geld hinterm Balken, die Menschen durch Wunde hindurch und uber eine Entfernung von mehreren Straßenzugen hinweg - darauf wure Madame Gaillard im Traume nicht gekommen, auch wenn jener Schlag mit dem Feuerhaken ihren Olfaktorius unbeschudigt gelassen hutte. Sie war davon uberzeugt, der Knabe musse - Schwachsinn hin oder her - das zweite Gesicht besitzen. Und da sie wusste, dass Zwiegesichtige Unheil und Tod anziehen, wurde er ihr unheimlich. Noch unheimlicher, geradezu unertruglich war ihr der Gedanke, mit jemandem unter einem Dach zu leben, der die Gabe hatte, sorgfultig verstecktes Geld durch Wunde und Balken hindurch zu sehen, und als sie diese entsetzliche Fuhigkeit Grenouilles entdeckt hatte, trachtete sie danach, ihn loszuwerden, und es traf sich gut, dass etwa um die gleiche Zeit - Grenouille war acht Jahre alt - das Kloster von Saint-Merri seine juhrlichen Zahlungen ohne Angabe von Grunden einstellte. Madame mahnte nicht nach. Anstandshalber wartete sie noch eine Woche, und als das fullige Geld dann immer noch nicht eingetroffen war, nahm sie den Knaben bei der Hand und ging mit ihm in die Stadt.
          In der Rue de la Mortellerie, nahe dem Fluss, kannte sie einen Gerber namens Grimal, der notorischen Bedarf an jugendlichen Arbeitskruften hatte - nicht an ordentlichen Lehrlingen oder Gesellen, sondern an billigen Kulis. Es gab numlich in dem Gewerbe Arbeiten - das Entfleischen verwesender Tierhuute, das Mischen von giftigen Gerb- und Furbebruhen, das Ausbringen utzender Lohen -, die so lebensgefuhrlich waren, dass ein verantwortungsbewusster Meister nach Muglichkeit nicht seine gelernten Hilfskrufte dafur verschwendete, sondern arbeitsloses Gesindel, Herumtreiber oder eben herrenlose Kinder, nach denen im Zweifelsfalle niemand mehr fragte. Naturlich wusste Madame Gaillard, dass Grenouille in Grimals Gerberwerkstatt nach menschlichem Ermessen keine uberlebenschance besaß. Aber sie war nicht die Frau, sich daruber Gedanken zu machen. Ihre Pflicht hatte sie ja getan. Das Pflegeverhultnis war beendet. Was mit dem Zugling weiterhin geschah, ging sie nichts an. Wenn er durchkam, so war's gut, wenn er starb, so war's auch gut - Hauptsache, alles ging rechtens zu. Und so ließ sie sich von Monsieur Grimal die ubergabe des Knaben schriftlich bestutigen, quittierte ihrerseits den Erhalt von funfzehn Franc Provision und machte sich wieder auf nach Hause in die Rue de Charonne. Sie verspurte nicht den geringsten Anflug eines schlechten Gewissens. Im Gegenteil glaubte sie, nicht nur rechtens, sondern auch gerecht gehandelt zu haben, denn der Verbleib eines Kindes, fur das niemand zahlte, wure ja notwendigerweise zu Lasten der anderen Kinder gegangen oder sogar zu ihren eigenen Lasten und hutte womuglich die Zukunft der anderen Kinder gefuhrdet oder sogar ihre eigene Zukunft, das heisst ihren eignen, abgeschirmten, privaten Tod, der das einzige war, was sie sich im Leben noch wunschte.
          Da wir Madame Gaillard an dieser Stelle der Geschichte verlassen und ihr auch sputer nicht mehr wiederbegegnen werden, wollen wir in ein paar Sutzen das Ende ihrer Tage schildern. Madame, obwohl als Kind schon innerlich gestorben, wurde zu ihrem Ungluck sehr, sehr alt. Anno 1782, mit fast siebzig Jahren, gab sie ihr Gewerbe auf, kaufte sich wie vorgehabt in eine Rente ein, saß in ihrem Huuschen und wartete auf den Tod. Der Tod aber kam nicht. Statt seiner kam etwas, womit kein Mensch auf der Welt hutte rechnen kunnen und was es im Lande noch nie gegeben hatte, numlich eine Revolution, das heisst eine rasante Umwandlung sumtlicher gesellschaftlicher, moralischer und transzendentaler Verhultnisse. Zunuchst hatte diese Revolution keine Auswirkungen auf Madame Gaillards persunliches Schicksal. Dann aber - sie war nun fast achtzig - hieß es mit einem Mal, ihr Rentengeber habe emigrieren mussen, sei enteignet und sein Besitz an einen Hosenfabrikanten versteigert worden. Es sah eine Weile lang noch so aus, als habe auch dieser Wandel noch keine fatalen Auswirkungen fur Madame Gaillard, denn der Hosenfabrikant zahlte weiterhin punktlich die Rente. Aber dann kam der Tag, da sie ihr Geld nicht mehr in harter Munze, sondern in Form von kleinen bedruckten Papierbluttchen erhielt, und das war der Anfang ihres materiellen Endes.
          Nach Verlauf von zwei Jahren reichte die Rente nicht einmal mehr aus, das Feuerholz zu bezahlen. Madame sah sich gezwungen, ihr Haus zu verkaufen, zu lucherlich geringem Preis, denn es gab plutzlich außer ihr Tausende von anderen Leuten, die ihr Haus ebenfalls verkaufen mussten. Und wieder bekam sie als Gegenwert nur diese bluden Bluttchen, und wieder waren sie nach zwei Jahren so gut wie nichts mehr wert, und im Jahre 1797 - sie ging nun auf die Neunzig zu - hatte sie ihr gesamtes, in muhevoller sukularer Arbeit zusammengescharrtes Vermugen verloren und hauste in einer winzigen mublierten Kammer in der Rue des Coquilles. Und nun erst, mit zehn-, mit zwanzigjuhriger Versputung, kam der Tod herbei und kam in Gestalt einer langwierigen Geschwulstkrankheit, die Madame an der Kehle packte und ihr erst den Appetit und dann die Stimme raubte, so dass sie mit keinem Wort Einspruch erheben konnte, als sie ins Hotel-Dieu fortgeschafft wurde. Dort brachte man sie in den gleichen, von Hunderten todkranker Menschen bevulkerten Saal, in dem schon ihr Mann gestorben war, steckte sie in ein Gemeinschaftsbett zu funf anderen alten wildfremden Weibern, kurperdicht Leib an Leib lagen sie, und ließ sie dort drei Wochen lang in aller uffentlichkeit sterben. Dann wurde sie in einen Sack genuht, um vier Uhr fruh nebst funfzig anderen Leichen auf einen Transportkarren geworfen und unter dem dunnen Gebimmel eines Gluckchens zum neubegrundeten Friedhof von Clamart, eine Meile vor den Toren der Stadt, gefahren und dort in einem Massengrab zur letzten Ruhe gebettet, unter einer dicken Schicht von ungeluschtem Kalk.
          Das war im Jahre 1799. Gott sei Dank ahnte Madame nichts von diesem ihr bevorstehenden Schicksal, als sie an jenem Tag des Jahres 1747 nach Hause ging und den Knaben Grenouille und unsere Geschichte verließ. Sie hutte womuglich ihren Glauben an die Gerechtigkeit verloren und damit an den einzigen ihr begreiflichen Sinn des Lebens.

    6


          Mit dem ersten Blick, den er auf Monsieur Grimal geworfen - nein, mit dem ersten witternden Atemzug, den er von Grimals Geruchsaura eingesogen hatte, wusste Grenouille, dass dieser Mann imstande war, ihn bei der geringsten Unbotmußigkeit zu Tode zu prugeln. Sein Leben galt gerade noch so viel wie die Arbeit , die er verrichten konnte, es bestand nur noch aus der Nutzlichkeit, die Grimal ihm beimaß. Und so kuschte Grenouille, ohne auch nur ein einziges Mal den Versuch einer Auflehnung zu machen. Von einem Tag zum undern verkapselte er wieder die ganze Energie seines Trotzes und seiner Widerborstigkeit in sich selbst, verwendete sie allein dazu, auf zeckenhafte Manier die Epoche der bevorstehenden Eiszeit zu uberdauern: zuh, genugsam, unauffullig, das Licht der Lebenshoffnung auf kleinster, aber wohlbehuteter Flamme haltend. Er war nun ein Muster an Fugsamkeit, Anspruchslosigkeit und Arbeitswillen, gehorchte aufs Wort, nahm mit jeder Speise vorlieb. Abends ließ er sich brav in einen seitlich an die Werkstatt gebauten Verschlag sperren, in dem Gerutschaften aufbewahrt wurden und eingesalzne Rohhuute hingen. Hier schlief er auf dem blanken gestampften Erdboden. Tagsuber arbeitete er, solange es hell war, im Winter acht, im Sommer vierzehn, funfzehn, sechzehn Stunden: entfleischte die bestialisch stinkenden Huute, wusserte, enthaarte, kalkte, utzte, walkte sie, strich sie mit Beizkot ein, spaltete Holz, entrindete Birken und Eiben, stieg hinab in die von beißendem Dunst erfullten Lohgruben, schichtete, wie es ihm die Gesellen befahlen, Huute und Rinden ubereinander, streute zerquetschte Gallupfel aus, uberdeckte den entsetzlichen Scheiterhaufen mit Eibenzweigen und Erde. Jahre sputer musste er ihn dann wieder ausbuddeln und die zu gegerbtem Leder mumifizierten Hautleichen aus ihrem Grab holen. Wenn er nicht Huute ein- oder ausgrub, dann schleppte er Wasser. Monatelang schleppte er Wasser vom Fluss herauf, immer zwei Eimer, Hunderte von Eimern am Tag, denn das Gewerbe verlangte Unmengen von Wasser zum Waschen, zum Weichen, zum Bruhen, zum Furben. Monatelang hatte er keine trockene Faser mehr am Leibe vor lauter Wassertragen, abends troffen ihm die Kleider von Wasser, und seine Haut war kalt, weich und aufgeschwemmt wie Waschleder.
          Nach einem Jahr dieser mehr tierischen als menschlichen Existenz bekam er den Milzbrand, eine gefurchtete Gerberkrankheit, die ublicherweise tudlich verluuft. Grimal hatte ihn schon abgeschrieben und sah sich nach Ersatz um - nicht ohne Bedauern ubrigens, denn einen genugsameren und leistungsfuhigeren Arbeiter als diesen Grenouille hatte er noch nie gehabt. Entgegen aller Erwartung jedoch uberstand Grenouille die Krankheit. Ihm blieben nur die Narben der großen schwarzen Karbunkel hinter den Ohren, am Hals und an den Wangen, die ihn entstellten und noch hußlicher machten, als er ohnehin schon war. Ihm blieb ferner - unschutzbarer Vorteil - eine Resistenz gegen den Milzbrand, so dass er von nun an sogar mit rissigen und blutigen Hunden die schlechtesten Huute entfleischen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich erneut anzustecken. Dadurch unterschied er sich nicht nur von den Lehrlingen und Gesellen, sondern auch von seinen eigenen potentiellen Nachfolgern. Und weil er nun nicht mehr so leicht zu ersetzen war wie ehedem, stieg der Wert seiner Arbeit und damit der Wert seines Lebens. Plutzlich musste er nicht mehr auf der nackten Erde schlafen, sondern durfte sich im Schuppen ein Holzlager bauen, bekam Stroh daraufgeschuttet und eine eigene Decke. Zum Schlafen sperrte man ihn nicht mehr ein. Das Essen war auskummlicher. Grimal hielt ihn nicht mehr wie irgendein Tier, sondern wie ein nutzliches Haustier.
          Als er zwulf Jahre alt war, gab ihm Grimal den halben Sonntag frei, und mit dreizehn durfte er sogar wochentags am Abend nach der Arbeit eine Stunde lang weggehen und tun, was er wollte. Er hatte gesiegt, denn er lebte, und er besaß ein Quantum von Freiheit, das genugte, um weiterzuleben. Die Zeit des uberwinterns war vorbei. Der Zeck Grenouille regte sich wieder. Er witterte Morgenluft. Die Jagdlust packte ihn. Das grußte Geruchsrevier der Welt stand ihm offen: die Stadt Paris.

    7


          Es war wie im Schlaraffenland. Allein die nahegelegenen Viertel von Saint-Jacques-de-la-Boucherie und von Saint-Eustache waren ein Schlaraffenland. In den Gassen seitab der Rue Saint-Denis und der Rue Saint-Martin lebten die Menschen so dicht beieinander, drungte sich Haus so eng an Haus, funf, sechs Stockwerke hoch, dass man den Himmel nicht sah und die Luft unten am Boden wie in feuchten Kanulen stand und vor Geruchen starrte. Es mischten sich Menschen- und Tiergeruche, Dunst von Essen und Krankheit, von Wasser und Stein und Asche und Leder, von Seife und frischgebackenem Brot und von Eiern, die man in Essig kochte, von Nudeln und blankgescheuertem Messing, von Salbei und Bier und Trunen, von Fett und nassem und trockenem Stroh. Tausende und Abertausende von Geruchen bildeten einen unsichtbaren Brei, der die Schluchten der Gassen anfullte, sich uber den Duchern nur selten, unten am Boden niemals verfluchtigte. Die Menschen, die dort lebten, rochen in diesem Brei nichts Besonderes mehr; er war ja aus ihnen entstanden und hatte sie wieder und wieder durchtrunkt, er war ja die Luft, die sie atmeten und von der sie lebten, er war wie eine langgetragene warme Kleidung, die man nicht mehr riecht und nicht mehr auf der Haut spurt. Grenouille aber roch alles wie zum ersten Mal. Und er roch nicht nur die Gesamtheit dieses Duftgemenges, sondern er spaltete es analytisch auf in seine kleinsten und entferntesten Teile und Teilchen. Seine feine Nase entwirrte das Knuuel aus Dunst und Gestank zu einzelnen Fuden von Grundgeruchen, die nicht mehr weiter zerlegbar waren. Es machte ihm unsugliches Vergnugen, diese Fuden aufzudruseln und aufzuspinnen.
          Oft blieb er stehen, an eine Hausmauer gelehnt oder in eine dunkle Ecke gedrungt, mit geschlossenen Augen, halbgeuffnetem Mund und gebluhten Nustern, still wie ein Raubfisch in einem großen, dunklen, langsam fließenden Wasser. Und wenn endlich ein Lufthauch ihm das Ende eines zarten Duftfadens zuspielte, dann stieß er zu und ließ nicht mehr los, dann roch er nichts mehr als diesen einen Geruch, hielt ihn fest, zog ihn in sich hinein und bewahrte ihn in sich fur alle Zeit. Es mochte ein altbekannter Geruch sein oder eine Variation davon, es konnte aber auch ein ganz neuer sein, einer, der kaum oder gar keine uhnlichkeit mit allem besaß, was er bis dahin gerochen, geschweige denn gesehen hatte: der Geruch von gebugelter Seide etwa; der Geruch eines Tees von Quendel, der Geruch eines Stucks silberbestickten Brokats, der Geruch eines Korkens aus einer Flasche mit seltenem Wein, der Geruch eines Schildpattkamms. Hinter solchen ihm noch unbekannten Geruchen war Grenouille her, sie jagte er mit der Leidenschaft und Geduld eines Anglers und sammelte sie in sich.
          Wenn er sich am dicken Brei der Gassen sattgerochen hatte, ging er in luftigeres Gelunde, wo die Geruche dunner waren, sich mit Wind vermischten und entfalteten, fast wie ein Parfum: auf den Platz der Hallen etwa, wo in den Geruchen abends noch der Tag fortlebte, unsichtbar, aber so deutlich, als wuselten da noch im Gedrunge die Hundler, als stunden da noch die vollgepackten Kurbe mit Gemuse und Eiern, die Fusser voll Wein und Essig, die Sucke mit Gewurzen und Kartoffeln und Mehl, die Kusten mit Nugeln und Schrauben, die Fleischtische, die Tische voll von Stoffen und Geschirr und Schuhsohlen und all den hundert undern Dingen, die dort tagsuber verkauft wurden... das ganze Getriebe war bis in die kleinste Einzelheit prusent in der Luft, die es hinterlassen hatte. Grenouille sah den ganzen Markt riechend, wenn man so sagen kann. Und er roch ihn genauer, als mancher ihn sehen kunnte, denn er nahm ihn im nachhinein wahr und deshalb auf huhere Weise: als Essenz, als den Geist von etwas Gewesenem, der nicht durch die ublichen Attribute der Gegenwart gesturt war, alsda sind der Lurm, das Grelle, das eklige Aneinander der leibhaftigen Menschen.
          Oder er ging dorthin, wo man seine Mutter gekupft hatte, zur Place de Greve, die wie eine große Zunge in den Fluss hineinleckte. Hier lagen, ans Ufer gezogen oder an Pfosten vertuut, die Schiffe und rochen nach Kohle und Korn und Heu und feuchten Tauen.
          Und von Westen her kam durch diese einzige Schneise, die der Fluss durch die Stadt schnitt, ein breiter Windstrom und brachte Geruche vom Land her, von den Wiesen bei Neuilly, von den Wuldern zwischen Saint-Germain und Versailles, von weit entfernt gelegenen Studten wie Rouen oder Caen und manchmal sogar vom Meer. Das Meer roch wie ein gebluhtes Segel, in dem sich Wasser, Salz und eine kalte Sonne fingen. Es roch simpel, das Meer, aber zugleich roch es groß und einzigartig, so dass Grenouille zugerte, seinen Geruch aufzuspalten in das Fischige, das Salzige, das Wussrige, das Tangige, das Frische und so weiter. Er ließ den Geruch des Meeres lieber beisammen, verwahrte ihn als ganzes im Geduchtnis und genoss ihn ungeteilt. Der Geruch des Meeres gefiel ihm so gut, dass er sich wunschte, ihn einmal rein und unvermischt und in solchen Mengen zu bekommen, dass er sich dran besaufen kunnte. Und sputer, als er aus Erzuhlungen erfuhr, wie groß das Meer sei und dass man darauf tagelang mit Schiffen fahren konnte, ohne Land zu sehen, da war ihm nichts lieber als die Vorstellung, er suße auf so einem Schiff, hoch oben im Korb auf dem vordersten Mast, und fluge dahin durch den unendlichen Geruch des Meeres, der ja eigentlich gar kein Geruch war, sondern ein Atem, ein Ausatmen, das Ende aller Geruche, und luse sich auf vor Vergnugen in diesem Atem. Aber dahin sollte es nie kommen, denn Grenouille, der an der Place de Greve am Ufer stand und mehrmals einen kleinen Fetzen Meerwind, den er in die Nase bekommen hatte, aus- und einatmete, sollte das Meer, das eigentliche Meer, den großen Ozean, der im Westen lag, in seinem Leben niemals sehen und sich nie mit diesem Geruch vermischen durfen.
          Das Viertel zwischen Saint-Eustache und dem Hotel de Ville hatte er bald so genau durchrochen, dass er sich darin bei stockfinsterer Nacht zurechtfand. Und so dehnte er sein Jagdgebiet aus, zunuchst nach Westen hin zum Faubourg Saint-Honore, dann die Rue Saint-Antoine hinauf bis zur Bastille, und schließlich sogar auf die andere Seite des Flusses hinuber in das Sorbonneviertel und in den Faubourg Saint-Germain, wo die reichen Leute wohnten. Durch die Eisengitter der Toreinfahrten roch es nach Kutschenleder und nach dem Puder in den Perucken der Pagen, und uber die hohen Mauern hinweg strich aus den Gurten der Duft des Ginsters und der Rosen und der frisch geschnittenen Liguster. Hier war es auch, dass Grenouille zum ersten Mal Parfums im eigentlichen Sinn des Wortes roch: einfache Lavendel- oder Rosenwusser, mit denen bei festlichen Anlussen die Springbrunnen der Gurten gespeist wurden, aber auch komplexere, kostbarere Dufte von Moschustinktur gemischt mit dem ul von Neroli und Tuberose, Joncquille, Jasmin oder Zimt, die abends wie ein schweres Band hinter den Equipagen herwehten. Er registrierte diese Dufte, wie er profane Geruche registrierte, mit Neugier, aber ohne besondere Bewunderung. Zwar merkte er, dass es die Absicht der Parfums war, berauschend und anziehend zu wirken, und er erkannte die Gute der einzelnen Essenzen, aus denen sie bestanden. Aber als ganzes erschienen sie ihm doch eher grob und plump, mehr zusammengepanscht als komponiert, und er wusste, dass er ganz andere Wohlgeruche wurde herstellen kunnen, wenn er nur uber die gleichen Grundstoffe verfugte.
          Viele dieser Grundstoffe kannte er schon von den Blumen- und Gewurzstunden des Marktes her; andere waren ihm neu, und diese filterte er aus den Duftgemischen heraus und bewahrte sie namenlos im Geduchtnis: Amber, Zibet, Patschuli, Sandelholz, Bergamotte, Vetiver, Opoponax, Benzoe, Hopfenblute, Bibergeil...
          Wuhlerisch ging er nicht vor. Zwischen dem, was landluufig als guter oder schlechter Geruch bezeichnet wurde, unterschied er nicht, noch nicht. Er war gierig. Das Ziel seiner Jagden bestand darin, schlichtweg alles zu besitzen, was die Welt an Geruchen zu bieten hatte, und die einzige Bedingung war, dass die Geruche neu seien. Der Duft eines schweißenden Pferds galt ihm ebensoviel wie der zarte grune Geruch schwellender Rosenknospen, der stechende Gestank einer Wanze nicht weniger als der Dunst von gespicktem Kalbsbraten, der aus den Herrschaftskuchen quoll. Alles, alles fraß er, saugte er in sich hinein. Und auch in der synthetisierenden Geruchskuche seiner Phantasie, in der er stundig neue Duftkombinationen zusammenstellte, herrschte noch kein usthetisches Prinzip. Es waren Bizarrerien, die er schuf und alsbald wieder zersturte wie ein Kind, das mit Bauklutzen spielt, erfindungsreich und destruktiv, ohne erkennbares schupferisches Prinzip.

    8


          Am 1. September 1753, dem Jahrestag der Thronbesteigung des Kunigs, ließ die Stadt Paris am Pont Royal ein Feuerwerk abbrennen. Es war nicht so spektakulur wie das Feuerwerk zur Feier der Verehelichung des Kunigs oder wie jenes legendure Feuerwerk aus Anlass der Geburt des Dauphin, aber es war immerhin ein sehr beeindruckendes Feuerwerk. Man hatte goldene Sonnenruder auf die Masten der Schiffe montiert. Von der Brucke spieen sogenannte Feuerstiere einen brennenden Sternenregen in den Fluss. Und wuhrend alluberall unter betuubendem Lurm Petarden platzten und Knallfrusche uber das Pflaster zuckten, stiegen Raketen in den Himmel und malten weiße Lilien an das schwarze Firmament. Eine vieltausendkupfige Menge, welche sowohl auf der Brucke als auch auf den Quais zu beiden Seiten des Flusses versammelt war, begleitete das Spektakel mit begeisterten Ahs und Ohs und Bravos und sogar mit Vivats - obwohl der Kunig seinen Thron schon vor achtunddreißig Jahren bestiegen und den Huhepunkt seiner Beliebtheit lungst uberschritten hatte. So viel vermag ein Feuerwerk.
          Grenouille stand stumm im Schatten des Pavillon de Flore, am rechten Ufer, dem Pont Royal gegenuber. Er ruhrte keine Hand zum Beifall, er schaute nicht einmal hin, wenn die Raketen aufstiegen. Er war gekommen, weil er glaubte, irgend etwas Neues erschnuppern zu kunnen, aber es stellte sich bald heraus, dass das Feuerwerk geruchlich nichts zu bieten hatte. Was da in verschwenderischer Vielfalt funkelte und spruhte und krachte und pfiff, hinterließ ein huchst eintuniges Duftgemisch von Schwefel, ul und Salpeter.
          Er war schon im Begriff, die langweilige Veranstaltung zu verlassen, um an der Galerie des Louvre entlang heimwurts zu gehen, als ihm der Wind etwas zutrug, etwas Winziges, kaum Merkliches, ein Bruselchen, ein Duftatom, nein, noch weniger: eher die Ahnung eines Dufts als einen tatsuchlichen Duft - und zugleich doch die sichere Ahnung von etwas Niegerochenem. Er trat wieder zuruck an die Mauer, schloss die Augen und bluhte die Nustern. Der Duft war so ausnehmend zart und fein, dass er ihn nicht festhalten konnte, immer wieder entzog er sich der Wahrnehmung, wurde verdeckt vom Pulverdampf der Petarden, blockiert von den Ausdunstungen der Menschenmassen, zerstuckelt und zerrieben von den tausend andren Geruchen der Stadt. Aber dann, plutzlich, war er wieder da, ein kleiner Fetzen nur, eine kurze Sekunde lang als herrliche Andeutung zu riechen... und verschwand alsbald. Grenouille litt Qualen. Zum ersten Mal war es nicht nur sein gieriger Charakter, dem eine Krunkung widerfuhr, sondern tatsuchlich sein Herz, das litt. Ihm schwante sonderbar, dieser Duft sei der Schlussel zur Ordnung aller anderen Dufte, man habe nichts von den Duften verstanden, wenn man diesen einen nicht verstand, und er Grenouille, hutte sein Leben verpfuscht, wenn es ihm nicht gelunge, diesen einen zu besitzen. Er musste ihn haben, nicht um des schieren Besitzes, sondern um der Ruhe seines Herzens willen.
          Ihm wurde fast schlecht vor Aufregung. Er hatte noch nicht einmal herausbekommen, aus welcher Richtung der Duft uberhaupt kam. Manchmal dauerten die Intervalle, ehe ihm wieder ein Fetzchen zugeweht wurde, minutenlang, und jedesmal uberfiel ihn die grußliche Angst, er hutte ihn auf immer verloren. Endlich rettete er sich in den verzweifelten Glauben, der Duft komme vom anderen Ufer des Flusses, irgendwoher aus sudustlicher Richtung.
          Er luste sich von der Mauer des Pavillon de Flore, tauchte in die Menschenmenge ein und bahnte sich seinen Weg uber die Brucke. Alle paar Schritte blieb er stehen, stellte sich auf die Zehenspitzen, um uber die Kupfe der Menschen hinwegzuschnuppern, roch zunuchst nichts vor lauter Erregung, roch dann endlich doch etwas, erschnupperte sich den Duft, sturker sogar als zuvor, wusste sich auf der richtigen Fuhrte, tauchte unter, wuhlte sich weiter durch die Menge der Gaffer und der Feuerwerker, die alle Augenblicke ihre Fackeln an die Lunten der Raketen hielten, verlor im beißenden Qualm des Pulvers seinen Duft, geriet in Panik, stieß und rempelte weiter und wuhlte sich fort, erreichte nach endlosen Minuten das andere Ufer, das Hotel de Mailly, den Quai Malaquest, die Einmundung der Rue de Seine...
          Hier blieb er stehen, sammelte sich und roch. Er hatte ihn. Er hielt ihn fest. Wie ein Band kam der Geruch die Rue de Seine herabgezogen, unverwechselbar deutlich, dennoch weiterhin sehr zart und sehr fein. Grenouille spurte, wie sein Herz pochte, und er wusste, dass es nicht die Anstrengung des Laufens war, die es pochen machte, sondern seine erregte Hilflosigkeit vor der Gegenwart dieses Geruches. Er versuchte, sich an irgend etwas Vergleichbares zu erinnern und musste alle Vergleiche verwerfen. Dieser Geruch hatte Frische; aber nicht die Frische der Limetten oder Pomeranzen, nicht die Frische von Myrrhe oder Zimtblatt oder Krauseminze oder Birken oder Kampfer oder Kiefernnadeln, nicht von Mairegen oder Frostwind oder von Quellwasser..., und er hatte zugleich Wurme; aber nicht wie Bergamotte, Zypresse oder Moschus, nicht wie Jasmin und Narzisse, nicht wie Rosenholz und nicht wie Iris... Dieser Geruch war eine Mischung aus beidem, aus Fluchtigem und Schwerem, keine Mischung davon, eine Einheit, und dazu gering und schwach und dennoch solid und tragend, wie ein Stuck dunner schillernder Seide... und auch wieder nicht wie Seide, sondern wie honigsuße Milch, in der sich Biskuit lust - was j a nun beim besten Willen nicht zusammenging: Milch und Seide! Unbegreiflich dieser Duft, unbeschreiblich, in keiner Weise einzuordnen, es durfte ihn eigentlich gar nicht geben. Und doch war er da in herrlichster Selbstverstundlichkeit. Grenouille folgte ihm, mit bunglich pochendem Herzen, denn er ahnte, dass nicht er dem Duft folgte, sondern dass der Duft ihn gefangengenommen hatte und nun unwiderstehlich zu sich zog.
          Er ging die Rue de Seine hinauf. Niemand war auf der Straße. Die Huuser standen leer und still. Die Leute waren unten am Fluss beim Feuerwerk. Kein hektischer Menschengeruch sturte, kein beißender Pulvergestank. Die Straße duftete nach den ublichen Duften von Wasser, Kot, Ratten und Gemuseabfall. Daruber aber schwebte zart und deutlich das Band, das Grenouille leitete. Nach wenigen Schritten war das wenige Nachtlicht des Himmels von den hohen Huusern verschluckt, und Grenouille ging weiter im Dunkeln. Er brauchte nichts zu sehen. Der Geruch fuhrte ihn sicher.
          Nach funfzig Metern bog er rechts ab in die Rue des Marais, eine womuglich noch dunklere, kaum eine Armspanne breite Gasse. Sonderbarerweise wurde der Duft nicht sehr viel sturker. Er wurde nur reiner, und dadurch, durch seine immer grußer werdende Reinheit, bekam er eine immer muchtigere Anziehungskraft. Grenouille ging ohne eigenen Willen. An einer Stelle zog ihn der Geruch hart nach rechts, scheinbar mitten in die Mauer eines Hauses hinein. Ein niedriger Gang tat sich auf, der in den Hinterhof fuhrte. Traumwandlerisch durchschritt Grenouille diesen Gang, durchschritt den Hinterhof, bog um eine Ecke, gelangte in einen zweiten, kleineren Hinterhof, und hier nun endlich war Licht: Der Platz umfasste nur wenige Schritte im Geviert. An der Mauer sprang ein schruges Holzdach vor. Auf einem Tisch darunter klebte eine Kerze. Ein Mudchen saß an diesem Tisch und putzte Mirabellen. Sie nahm die Fruchte aus einem Korb zu ihrer Linken, entstielte und entkernte sie mit einem Messer und ließ sie in einen Eimer fallen. Sie mochte dreizehn, vierzehn Jahre alt sein. Grenouille blieb stehen. Er wusste sofort, was die Quelle des Duftes war, den er uber eine halbe Meile hinweg bis ans andere Ufer des Flusses gerochen hatte: nicht dieser schmuddelige Hinterhof, nicht die Mirabellen. Die Quelle war das Mudchen.
          Fur einen Moment war er so verwirrt, dass er tatsuchlich dachte, er habe in seinem Leben noch nie etwas so Schunes gesehen wie dieses Mudchen. Dabei sah er nur ihre Silhouette von hinten gegen die Kerze. Er meinte naturlich, er habe noch nie so etwas Schunes gerochen. Aber da er doch Menschengeruche kannte, viele Tausende, Geruche von Munnern, Frauen, Kindern, wollte er nicht begreifen, dass ein so exquisiter Duft einem Menschen entstrumen konnte. ublicherweise rochen Menschen nichtssagend oder miserabel. Kinder rochen fad, Munner urinus, nach scharfem Schweiß und Kuse, Frauen nach ranzigem Fett und verderbendem Fisch. Durchaus uninteressant, abstoßend rochen die Menschen... Und so geschah es, dass Grenouille zum ersten Mal in seinem Leben seiner Nase nicht traute und die Augen zuhilfe nehmen musste, um zu glauben, was er roch. Die Sinnesverwirrung dauerte freilich nicht lange. Es war tatsuchlich nur ein Augenblick, den er benutigte, um sich optisch zu vergewissern und sich alsdann desto ruckhaltloser den Wahrnehmungen seines Geruchssinns hinzugeben. Nun roch er, dass sie ein Mensch war, roch den Schweiß ihrer Achseln, das Fett ihrer Haare, den Fischgeruch ihres Geschlechts, und roch mit grußtem Wohlgefallen. Ihr Schweiß duftete so frisch wie Meerwind, der Talg ihrer Haare so suß wie Nussul, ihr Geschlecht wie ein Bouquet von Wasserlilien, die Haut wie Aprikosenblute..., und die Verbindung all dieser Komponenten ergab ein Parfum so reich, so balanciert, so zauberhaft, dass alles, was Grenouille bisher an Parfums gerochen, alles, was er selbst in seinem Innern an Geruchsgebuuden spielerisch erschaffen hatte, mit einem Mal zu schierer Sinnlosigkeit verkam. Hunderttausend Dufte schienen nichts mehr wert vor diesem einen Duft. Dieser eine war das huhere Prinzip, nach dessen Vorbild sich die undern ordnen mussten. Er war die reine Schunheit.
          Fur Grenouille stand fest, dass ohne den Besitz des Duftes sein Leben keinen Sinn mehr hatte. Bis in die kleinste Einzelheit, bis in die letzte zarteste Verustelung musste er ihn kennenlernen; die bloße komplexe Erinnerung an ihn genugte nicht. Er wollte wie mit einem Prugestempel das apotheotische Parfum ins Kuddelmuddel seiner schwarzen Seele pressen, es haargenau erforschen und fortan nur noch nach den inneren Strukturen dieser Zauberformel denken, leben, riechen.
          Er ging langsam auf das Mudchen zu, immer nuher, trat unter das Vordach und blieb einen Schritt hinter ihr stehen. Sie hurte ihn nicht.
          Sie hatte rote Haare und trug ein graues Kleid ohne urmel. Ihre Arme waren sehr weiß und ihre Hunde gelb vom Saft der aufgeschnittenen Mirabellen. Grenouille stand uber sie gebeugt und sog ihren Duft jetzt vullig unvermischt ein, so wie er aufstieg von ihrem Nacken, ihren Haaren, aus dem Ausschnitt ihres Kleides, und ließ ihn in sich hineinstrumen wie einen sanften Wind. Ihm war noch nie so wohl gewesen. Dem Mudchen aber wurde es kuhl.
          Sie sah Grenouille nicht. Aber sie bekam ein banges Gefuhl, ein sonderbares Frusteln, wie man es bekommt, wenn einen plutzlich eine alte abgelegte Angst befullt. Ihr war, als herrsche da ein kalter Zug in ihrem Rucken, als habe jemand eine Ture aufgestoßen, die in einen riesengroßen kalten Keller fuhrt. Und sie legte ihr Kuchenmesser weg, zog die Arme an die Brust und wandte sich um.
          Sie war so starr vor Schreck, als sie ihn sah, dass er viel Zeit hatte, ihr seine Hunde um den Hals zu legen. Sie versuchte keinen Schrei, ruhrte sich nicht, tat keine abwehrende Bewegung. Er seinerseits sah sie nicht an. Ihr feines sommersprossenubersprenkeltes Gesicht, den roten Mund, die großen funkelnd grunen Augen sah er nicht, denn er hielt seine Augen fest geschlossen, wuhrend er sie wurgte, und hatte nur die eine Sorge, von ihrem Duft nicht das geringste zu verlieren.
          Als sie tot war, legte er sie auf den Boden mitten in die Mirabellenkerne, riss ihr Kleid auf, und der Duftstrom wurde zur Flut, sie uberschwemmte ihn mit ihrem Wohlgeruch. Er sturzte sein Gesicht auf ihre Haut und fuhr mit weitgebluhten Nustern von ihrem Bauch zurBrust, zum Hals, in ihr Gesicht und durch die Haare und zuruck zum Bauch, hinab an ihr Geschlecht, an ihre Schenkel, an ihre weißen Beine. Er roch sie ab vom Kopf bis an die Zehen, er sammelte die letzten Reste ihres Dufts am Kinn, im Nabel und in den Falten ihrer Armbeuge.
          Als er sie welkgerochen hatte, blieb er noch eine Weile neben ihr hocken, um sich zu versammeln, denn er war ubervoll von ihr. Er wollte nichts von ihrem Duft verschutten. Erst musste er die innern Schotten dicht verschließen. Dann stand er auf und blies die Kerze aus...... Um diese Zeit kamen die ersten Heimkehrer singend und vivatrufend die Rue de Seine herauf. Grenouille roch sich im Dunkeln auf die Gasse und zur Rue des Petits Augustins hinuber, die parallel zur Rue de Seine zum Fluss fuhrte. Wenig sputer entdeckte man die Tote. Geschrei erhob sich. Fackeln wurden angezundet. Die Wache kam. Grenouille war lungst am anderen Ufer.
          In dieser Nacht erschien ihm sein Verschlag wie ein Palast und seine Bretterpritsche wie ein Himmelbett. Was Gluck sei, hatte er in seinem Leben bisher nicht erfahren. Er kannte allenfalls sehr seltene Zustunde von dumpfer Zufriedenheit. Jetzt aber zitterte er vor Gluck und konnte vor lauter Gluckseligkeit nicht schlafen. Ihm war, als wurde er zum zweiten Mal geboren, nein, nic ht zum zweiten, zum ersten Mal, denn bisher hatte er bloß animalisch existiert in huchst nebuluser Kenntnis seiner selbst. Mit dem heutigen Tag aber schien ihm, als wisse er endlich, wer er wirklich sei: numlich nichts anderes als ein Genie; und dass sein Leben Sinn und Zweck und Ziel und huhere Bestimmung habe: numlich keine geringere, als die Welt der Dufte zu revolutionieren; und dass er allein auf der Welt dazu alle Mittel besitze: numlich seine exquisite Nase, sein phunomenales Geduchtnis und, als Wichtigstes von allem, den prugenden Duft dieses Mudchens aus der Rue des Marais, in welchem zauberformelhaft alles enthalten war, was einen großen Duft, was ein Parfum ausmachte: Zartheit, Kraft, Dauer, Vielfalt und erschreckende, unwiderstehliche Schunheit. Er hatte den Kompass fur sein kunftiges Leben gefunden. Und wie alle genialen Scheusale, denen durch ein uußeres Ereignis ein gerades Geleis ins Spiralenchaos ihrer Seelen gelegt wird, wich Grenouille von dem, was er als Richtung seines Schicksals erkannt zu haben glaubte, nicht mehr ab. Jetzt wurde ihm klar, weshalb er so zuh und verbissen am Leben hing: Er musste ein Schupfer von Duften sein. Und nicht nur irgendeiner. Sondern der grußte Parfumeur aller Zeiten.
          Noch in derselben Nacht inspizierte er, wachend erst und dann im Traum, das riesige Trummerfeld seiner Erinnerung. Er prufte die Millionen und Abermillionen von Duftbauklutzen und brachte sie in eine systematische Ordnung: Gutes zu Gutem, Schlechtes zu Schlechtem, Feines zu Feinem, Grobes zu Grobem, Gestank zu Gestank, Ambrosisches zu Ambrosischem. Im Verlauf der nuchsten Woche wurde diese Ordnung immer feiner, der Katalog der Dufte immer reichhaltiger und differenzierter, die Hierarchie immer deutlicher. Und bald schon konnte er beginnen, die ersten planvollen Geruchsgebuude aufzurichten: Huuser, Mauern, Stufen, Turme, Keller, Zimmer, geheime Gemucher... eine tuglich sich erweiternde, tuglich sich verschunende und perfekter gefugte innere Festung der herrlichsten Duftkompositionen. Dass am Anfang dieser Herrlichkeit ein Mord gestanden hatte, war ihm, wenn uberhaupt bewusst, vollkommen gleichgultig. An das Bild des Mudchens aus der Rue des Marais, an ihr Gesicht, an ihren Kurper, konnte er sich schon nicht mehr erinnern. Er hatte ja das Beste von ihr aufbewahrt und sich zu eigen gemacht: das Prinzip ihres Dufts.

    9


          Zu jener Zeit gab es in Paris ein gutes Dutzend Parfumeure. Sechs von ihnen lebten am rechten Ufer, sechs am linken Ufer, und einer akkurat dazwischen, numlich auf dem Pont au Change, welcher das rechte Ufer mit der Ile de la Citu verband. Diese Brucke war zu beiden Seiten so dicht mit vierstuckigen Huusern bebaut, dass man beim uberschreiten den Fluss an keiner Stelle zu Gesicht bekam, sondern sich auf einer ganz normalen, fest fundierten und obendrein noch uußerst eleganten Straße wuhnte. In der Tat galt der Pont au Change fur eine der feinsten Geschuftsadressen der Stadt. Hier befanden sich die renommiertesten Luden, hier saßen die Goldschmiede, die Ebenisten, die besten Peruckenmacher und Taschner, die Verfertiger feinster Dessous und Strumpfe, Rahmenmacher, Reitstiefelhundler, Epaulettensticker, Goldknupfegießer und Bankiers. Und hier lag auch das Geschufts- und Wohnhaus des Parfumeurs und Handschuhmachers Giuseppe Baldini. uber sein Schaufenster spannte sich ein pruchtiger grunlackierter Baldachin, daneben hing Baldinis Wappen, ganz in Gold, ein goldener Flacon, aus dem ein Strauß von goldenen Blumen wuchs, und vor der Ture lag ein roter Teppich, der ebenfalls Baldinis Wappen trug, als goldene Stickerei. uffnete man die Ture, dann erklang ein persisches Glockenspiel, und zwei silberne Reiher begannen, aus ihren Schnubeln Veilchenwasser in eine vergoldete Schale zu speien, die ihrerseits die Flakonform von Baldinis Wappen besaß.
          Hinter dem Kontor aus hellem Buchsbaum aber stand Baldini selbst, alt und starr wie eine Suule, in silberbepuderter Perucke und blauem goldbetresstem Rock. Eine Wolke von Frangipaniwasser, mit dem er sich allmorgendlich bespruhte, umgab ihn geradezu sichtbar und ruckte seine Person in nebelhafte Ferne. In seiner Unbeweglichkeit sah er aus wie sein eignes Inventar. Nur wenn das Glockenspiel erklang und wenn die Reiher spien - beides geschah nicht allzu oft -, wurde plutzlich Leben in ihn kommen, wurde seine Gestalt in sich zusammensinken, klein und wuselig werden und unter vielen Bucklingen hinter dem Kontor hervorgesaust kommen, so schnell, dass die Frangipaniwasserwolke kaum zu folgen vermuchte, und den Kunden bitten, Platz zu nehmen zur Vorfuhrung erlesenster Dufte und Kosmetika.
          Baldini hatte deren Tausende. Sein Angebot reichte von Essences absolues, Blutenulen, Tinkturen, Auszugen, Sekreten, Balsamen, Harzen und sonstigen Drogen in trockener, flussiger oder wachsartiger Form, uber diverse Pomaden, Pasten, Puder, Seifen, Cremes, Sachets, Bandolinen, Brillantinen, Bartwichsen, Warzentropfen und Schunheitspflusterchen bis hin zu Badewussern, Lotionen, Riechsalzen, Toilettenessigen und einer Unzahl echter Parfums. Doch Baldini begnugte sich nicht mit diesen Produkten der klassischen Schunheitspflege. Sein Ehrgeiz bestand darin, in seinem Laden alles zu versammeln, was irgendwie duftete oder in irgendeiner Weise dem Duft diente. Und so fanden sich neben Ruucherpastillen, Ruucherkerzen und Ruucherbundern auch sumtliche Gewurze vom Anissamen bis zur Zimtrinde, Sirups, Likure und Obstwusser, Weine aus Zypern, Malaga und Korinth, Honige, Kaffees, Tees, getrocknete und kandierte Fruchte, Feigen, Bonbons, Schokoladen, Maronen, ja sogar eingelegte Kapern, Gurken und Zwiebeln und marinierter Thunfisch. Und dann wieder duftender Siegellack, parfumiertes Briefpapier, nach Rosenul riechende Liebestinte, Schreibmappen aus spanischem Leder, Federhalter aus weißem Sandelholz, Kustchen und Truhen aus Zedernholz, Potpourris und Schalen fur Blutenblutter, Weihrauchbehulter aus Messing, Flakons und Tiegelchen aus Kristall mit geschliffenen Stupseln aus Bernstein, riechende Handschuhe, Taschentucher, mit Muskatblute gefullte Nuhnadelkissen und moschusbedampfte Tapeten, die ein Zimmer lunger als einhundert Jahre mit Duft erfullen konnten.
          Naturlich hatten all diese Waren nicht im pompusen, zur Straße (oder zur Brucke) hin gelegenen Laden Platz, und so mussten, in Ermanglung eines Kellers, nicht nur der Speicher des Hauses, sondern der gesamte erste und zweite Stock sowie fast sumtliche zum Fluss hin gelegenen Ruume des Erdgeschosses als Lager dienen. Die Folge davon war, dass im Hause Baldini ein unbeschreibliches Chaos von Duften herrschte. So erlesen die Qualitut der einzelnen Produkte war - denn Baldini kaufte nur allererste Qualitut -, so unertruglich war ihr geruchlicher Zusammenklang, gleich einem tausendkupfigen Orchester, in welchem jeder Musiker eine andre Melodie fortissimo spielt. Baldini selbst und seine Angestellten waren gegen dieses Chaos abgestumpft wie alternde Dirigenten, die ja sumtlich schwerhurig sind, und auch seine Frau, die im dritten Stock wohnte und diesen erbittert gegen ein weiteres Vordringen der Lagerruume verteidigte, nahm die vielen Geruche kaum noch als sturend wahr. Anders der Kunde, der zum ersten Mal Baldinis Laden betrat. Ihm schlug das herrschende Duftgemisch wie eine Faust ins Gesicht, machte ihn, je nach Konstitution, exaltiert oder benommen, verwirrte in jedem Falle seine Sinne derart, dass er oft nicht mehr wusste, weshalb er uberhaupt gekommen war. Laufburschen vergaßen ihre Bestellungen. Trutzigen Herren wurde es mulmig. Und manche Dame erlitt einen halb hysterischen, halb klaustrophobischen Anfall, sank in Ohnmacht und konnte nur noch mit schurfstem Riechsalz aus Nelkenul, Ammoniak und Kampfersprit wiederhergestellt werden.
          Unter diesen Umstunden war es eigentlich nicht verwunderlich, dass das persische Glockenspiel von Giuseppe Baldinis Ladenture immer seltener erklang und die silbernen Reiher immer seltener spien.

    10


          "Chenier!" rief Baldini hinter dem Kontor hervor, wo er seit Stunden suulenstarr gestanden und die Ture angestarrt hatte, "ziehen Sie Ihre Perucke an!" Und zwischen Olivenulfussern und hungenden Schinken aus Bayonne erschien Chenier, Baldinis Geselle, etwas junger als dieser, aber auch schon ein alter Mann, und kam nach vorn in die feinere Abteilung des Ladens. Er zog seine Perucke aus der Rocktasche und stulpte sie sich uber. "Sie gehen aus, Herr Baldini?"
          "Nein", sagte Baldini, "ich werde mich fur einige Stunden in mein Arbeitszimmer zuruckziehen und wunsche, absolut nicht gesturt zu werden."
          "Ah, ich verstehe! Sie entwerfen ein neues Parfum."
          baldini So ist es. Zur Beduftung einer spanischen Haut fur den Grafen Verhamont. Er verlangt etwas vollkommen Neues. Er verlangt etwas wie... wie ... ich glaube, es hieß >Amor und Psyche<, was er verlangte, und stammt angeblich von diesem... diesem Stumper aus der Rue Saint-Andre des Arts, diesem... diesem... chenier Pelissier.
          baldini Ja. Pelissier. Richtig. So heisst der Stumper.
          >Amor und Psyche< von Pelissier. Kennen Sie es?
          chenier Jaja. Dochdoch. Man riecht es jetzt uberall. An jeder Straßenecke riecht man es. Aber wenn Sie mich fragen - nichts Besonderes! Es kann sich bestimmt in keiner Weise messen mit dem, welches Sie komponieren werden, Herr Baldini.
          baldini Naturlich nicht.
          chenier Es riecht uußerst gewuhnlich, dieses >Amor und Psyche<.
          baldini Vulgur?
          chenier Durchaus vulgur, wie alles von Pelissier. Ich glaube, es ist Limettenul darin.
          baldini Wirklich? Was noch?
          chenier Orangenblutenessenz vielleicht. Und vielleicht Rosmarintinktur. Aber ich kann es nicht sicher sagen.
          baldini Es ist mir auch vullig gleichgultig.
          chenier Naturlich.
          baldini Es ist mir schnurzegal, was der Stumper Pelissier in sein Parfum gepanscht hat. Ich werde mich nicht einmal davon inspirieren lassen!
          chenier Da haben Sie Recht, Monsieur.
          baldini Wie Sie wissen, lasse ich mich nie inspirieren. Wie Sie wissen, erarbeite ich meine Parfums.
          chenier Ich weiß, Monsieur.
          baldini Gebure sie allein aus mir!
          chenier Ich weiß.
          baldini Und ich gedenke, fur den Grafen Verhamont etwas zu kreieren, was wirklich Furore macht.
          chenier Davon bin ich uberzeugt, Herr Baldini.
          baldini Sie ubernehmen den Laden. Ich brauche Ruhe. Halten Sie mir alles vom Leibe, Chenier...
          Und damit schlurfte er, nun gar nicht mehr statuarisch, sondern, wie es seinem Alter zukam, gebeugt, ja fast wie geprugelt, davon und stieg langsam die Treppe zum ersten Stock hinauf, wo sein Arbeitszimmer lag. Chenier nahm den Platz hinterm Kontor ein, stellte sich genauso hin, wie zuvor der Meister gestanden hatte, und schaute mit starrem Blick zur Ture. Er wusste, was in den nuchsten Stunden passieren wurde: numlich gar nichts im Laden, und oben im Arbeitszimmer Baldinis die ubliche Katastrophe. Baldini wurde seinen blauen, von Frangipaniwasserdurchtrunkten Rock ausziehen, sich an den Schreibtisch setzen und auf eine Eingebung warten. Diese Eingebung wurde nicht kommen. Er wurde hierauf an den Schrank mit den Hunderten von Probefluschchen eilen und aufs Geratewohl etwas zusammenmixen. Diese Mischung wurde missraten. Er wurde fluchen, das Fenster aufreißen und sie in den Fluss hinunterwerfen. Er wurde etwas anderes probieren, auch das wurde missraten, er wurde nun schreien und toben und in dem schon betuubend riechenden Zimmer einen Heulkrampf bekommen. Er wurde gegen sieben Uhr abends elend herunterkommen, zittern und weinen und sagen:
          "Chenier, ich habe keine Nase mehr, ich kann das Parfum nicht geburen, ich kann die spanische Haut fur den Grafen nicht liefern, ich bin verloren, ich bin innerlich tot, ich will sterben, bitte, Chenier, helfen Sie mir zu sterben!" Und Chenier wurde vorschlagen, dass man zu Pelissier schickte um eine Flasche >Amor und Psyche<, und Baldini wurde zustimmen unter der Bedingung, dass kein Mensch von dieser Schande erfuhre, Chenier wurde schwuren, und nachts wurden sie heimlich das Leder fur den Grafen Verhamont mit dem fremden Parfum beduften. So wurde es sein und nicht anders, und Chenier wunschte nur, er hutte das ganze Theater schon hinter sich. Baldini war kein großer Parfumeur mehr. Ja, fruher, in seiner Jugend, vor dreißig, vierzig Jahren, da hatte er >Rose des Sudens< erfunden und >Baldinis galantes Bouquet< zwei wirklich große Dufte, denen er sein Vermugen verdankte. Aber jetzt war er alt und verbraucht und kannte die Moden der Zeit nicht mehr und den neuen Geschmack der Menschen, und wenn er uberhaupt noch einmal einen eigenen Duft zusammenstoppelte, dann war es vollkommen demodiertes, unverkuufliches Zeug, das sie ein Jahr sputer zehnfach verdunnten und als Springbrunnenwasserzusatz verhukerten. Schade um ihn, dachte Chenier und uberprufte den Sitz seiner Perucke im Spiegel, schade um den alten Baldini; schade um sein schunes Geschuft, denn er wird's herunterbringen; und schade um mich, denn bis er's heruntergebracht haben wird, bin ich zu alt, um es zu ubernehmen...

    11


          Zwar hatte Giuseppe Baldini seinen duftenden Rock ausgezogen, aber nur aus alter Gewohnheit. Der Duft des Frangipaniwassers sturte ihn schon lungst nicht mehr beim Riechen, er trug ihn ja schon seit Jahrzehnten mit sich herum und nahm ihn uberhaupt nicht mehr wahr. Er hatte auch die Ture des Arbeitszimmers zugeschlossen und sich Ruhe ausgebeten, aber er setzte sich nicht an den Schreibtisch, um zu grubeln und auf eine Eingebung zu warten, denn er wusste viel besser als Chenier, dass er keine Eingebung haben wurde; er hatte numlich noch nie eine gehabt. Zwar war er alt und verbraucht, das stimmte, und auch kein großer Parfumeur mehr; aber er wusste, dass er im Leben noch nie einer gewesen war. >Rose des Sudens< hatte er von seinem Vater geerbt und das Rezept fur >Baldinis galantes Bouquet< einem durchreisenden Genueser Gewurzhundler abgekauft. Die ubrigen seiner Parfums waren altbekannte Gemische. Erfunden hatte er noch nie etwas. Er war kein Erfinder. Er war ein sorgfultiger Verfertiger von bewuhrten Geruchen, wie ein Koch war er, der mit Routine und guten Rezepten eine große Kuche macht und doch noch nie ein eigenes Gericht erfunden hat. Den ganzen Hokuspokus mit Labor und Experimentieren und Inspiration und Geheimnistuerei fuhrte er nur auf, weil das zum stundischen Berufsbild eines Maitre Parfumeur et Gantier gehurte. Ein Parfumeur, das war ein halber Alchimist, der Wunder schuf, so wollten es die Leute - gut so! Dass seine Kunst ein Handwerk war wie jedes andere auch, das wusste nur er selbst, und das war sein Stolz. Er wollte gar kein Erfinder sein. Erfindung war ihm sehr suspekt, denn sie bedeutete immer den Bruch einer Regel. Er dachte auch gar nicht daran, fur den Grafen Verhamont ein neues Parfum zu erfinden. Er wurde sich allerdings auch nicht am Abend von Chenier uberreden lassen, >Amor und Psyche< von Pelissier zu besorgen. Er hatte es schon. Da stand es, auf dem Schreibtisch vor dem Fenster, in einem kleinen Glasflakon mit geschliffenem Stupsel. Schon vor ein paar Tagen hatte er es gekauft. Naturlich nicht persunlich. Er konnte doch nicht persunlich zu Pelissier gehen und ein Parfum kaufen! Sondern durch einen Mittelsmann, und dieser wieder durch einen Mittelsmann... Vorsicht war geboten. Denn Baldini wollte das Parfum nicht einfach zum Beduften der spanischen Haut verwenden, dazu hutte die geringe Menge auch gar nicht ausgereicht. Er hatte etwas Schlimmeres im Sinn: Er wollte es kopieren.
          Das war ubrigens nicht verboten. Es war nur außerordentlich unfein. Das Parfum eines Konkurrenten heimlich nachzumachen und unter eigenem Namen zu verkaufen, war schrecklich unfein. Aber noch unfeiner war es, sich dabei ertappen zu lassen, und darum durfte Chenier nichts davon wissen, denn Chenier war geschwutzig.
          Ach, wie schlimm, dass man sich als rechtschaffener Mann gezwungen sah, so krumme Wege zu gehen! Wie schlimm, dass man das Kostbarste, was man besaß, die eigene Ehre, auf so schubige Weise befleckte! Aber was sollte er tun? Immerhin war der Graf Verhamont ein Kunde, den er keinesfalls verlieren durfte. Er hatte ja ohnehin kaum noch einen Kunden. Er musste der Kundschaft ja schon wieder nachlaufen wie zu Beginn der zwanziger Jahre, als er am Anfang seiner Karriere stand und mit dem Bauchladen durch die Straßen zog. Weiß Gott kam er, Giuseppe Baldini, Inhaber der grußten Duftstoffhandlung von Paris, in bester Geschuftslage, finanziell nur noch uber die Runden, wenn er mit dem Kufferchen in der Hand Hausbesuche machte. Und das gefiel ihm gar nicht, denn er war schon weit uber sechzig und hasste es, in kalten Vorzimmern zu warten und alten Marquisen Tausendblumenwasser und Vierruuberessig vorzufuhren oder ihnen eine Migrunesalbe aufzuschwatzen. Außerdem herrschte in diesen Vorzimmern eine ganz ekelhafte Konkurrenz. Da war dieser Emporkummling Brouet aus der Rue Dauphine, der von sich behauptete, er habe das grußte Pomadenprogramm Europas; oder Calteau aus der Rue Mauconseil, der es zum Hoflieferanten der Comtesse von Artois gebracht hatte; oder dieser vullig unberechenbare Antoine Pelissier aus der Rue Saint-Andre-des-Arts, der in jeder Saison einen neuen Duft lancierte, nach welchem die ganze Welt verruckt war. >So ein Parfum von Pelissier konnte den ganzen Markt in Unordnung bringen. War in einem Jahr Ungarisches Wasser in Mode, und hatte sich Baldini entsprechend mit Lavendel, Bergamotte und Rosmarin eingedeckt, um den Bedarf zu befriedigen - so kam Pelissier mit >Air de Musc< heraus, einem ultraschweren Moschusduft. Jeder Mensch musste plutzlich tierisch riechen, und Baldini konnte sein Rosmarin zu Haarwasser verarbeiten und den Lavendel in Riechsuckchen nuhen. Hatte er dagegen fur das nuchste Jahr entsprechende Mengen an Moschus, Zibet und Castoreum bestellt, so fiel es Pelissier ein, ein Parfum namens >Waldblume< zu kreieren, was prompt ein Erfolg wurde. Und hatte Baldini endlich in nuchtelangen Versuchen oder durch hohe Bestechungsgelder herausgefunden, woraus >Waldblumen< bestand - da trumpfte Pelissier schon wieder auf mit >Turkische Nuchte< oder >Lissabonner Duft< oder >Bouquet de la Cour< oder weiß der Teufel womit sonst. Dieser Mensch war auf jeden Fall in seiner zugellosen Kreativitut eine Gefahr fur das ganze Gewerbe. Man wunschte sich die Rigiditut des alten Zunftrechts zuruck. Man wunschte sich die drakonischsten Maßnahmen gegen diesen Aus-Der-Reihe-Tunzer, gegen diesen Duftinflationur. Das Patent gehurte ihm entzogen, ein saftiges Berufsverbot auferlegt..., und uberhaupt sollte der Kerl erst einmal eine Lehre machen! Denn ein gelernter Parfumeur- und Handschuhmachermeister war er nicht, dieser Pelissier. Sein Vater war nichts als ein Essigsieder gewesen, und Essigsieder war auch Pelissier, nichts anderes. Und bloß weil er als Essigsieder berechtigt war, mit Spirituosen umzugehen, konnte er uberhaupt ins Gehege der echten Parfumeure einbrechen und darin herumwuten wie ein Stinktier. - Wozu brauchte man in jeder Saison einen neuen Duft? War das nutig? Das Publikum war fruher auch sehr zufrieden gewesen mit Veilchenwasser und einfachen Blumenbouquets, die man vielleicht alle zehn Jahre einmal geringfugig underte. Jahrtausendelang hatten die Menschen mit Weihrauch und Myrrhe, ein paar Balsamen, ulen und getrockneten Wurzkruutern vorlieb genommen. Und auch als sie gelernt hatten, mit Kolben und Alambic zu destillieren, vermittels Wasserdampf den Kruutern, Blumen und Hulzern das duftende Prinzip in Form von utherischem ul zu entreißen, es mit eichenen Pressen aus Samen und Kernen und Fruchtschalen zu quetschen oder mit sorgsam gefilterten Fetten den Blutenbluttern zu entlocken, war die Zahl der Dufte noch bescheiden gewesen. Damals wure eine Figur wie Pelissier gar nicht muglich gewesen, denn damals brauchte es schon zur Erzeugung einer simplen Pomade Fuhigkeiten, von denen sich dieser Essigpanscher gar nichts truumen ließ. Man musste nicht nur destillieren kunnen, man musste auch Salbenmacher sein und Apotheker, Alchimist und Handwerker, Hundler, Humanist und Gurtner zugleich. Man musste Hammelnierenfett von jungem Rindertalg unterscheiden kunnen und ein Viktoriaveilchen von einem solchen aus Parma. Man musste die lateinische Sprache beherrschen. Man musste wissen, wann der Heliotrop zu ernten ist und wann das Pelargonium bluht und dass die Blute des Jasmins mit aufgehender Sonne ihren Duft verliert. Von diesen Dingen hatte dieser Pelissier selbstredend keine Ahnung. Wahrscheinlich hatte er Paris noch nie verlassen, in seinem Leben bluhenden Jasmin noch nie gesehen. Geschweige denn, dass er einen Schimmer von der gigantischen Schufterei besaß, deren es bedurfte, um aus hunderttausend Jasminbluten einen kleinen Klumpen Concrete oder ein paar Tropfen Essence Absolue herauszuwringen. Wahrscheinlich kannte er nur diese, kannte Jasmin nur als konzentrierte dunkelbraune Flussigkeit, die in einem kleinen Fluschchen neben vielen anderen Fluschchen, aus denen er seine Modeparfums mixte, im Tresorschrank stand. Nein, eine Figur wie dieser Schnusel Pelissier hutte in den guten alten handwerklichen Zeiten kein Bein auf den Boden gebracht. Dazu fehlte ihm alles: Charakter, Bildung, Genugsamkeit und der Sinn fur zunftische Subordination. Seine parfumistischen Erfolge verdankte er einzig und allein einer Entdeckung, die vor nunmehr zweihundert Jahren der geniale Mauritius Frangipani - ein Italiener ubrigens! - gemacht hatte und die darin bestand, dass Duftstoffe in Weingeist luslich sind. Indem Frangipani seine Riechpulverchen mit Alkohol vermischte und damit ihren Duft auf eine fluchtige Flussigkeit ubertrug, hatte er den Duft befreit von der Materie, hatte den Duft vergeistigt, den Duft als reinen Duft erfunden, kurz: das Parfum erschaffen. Was fur eine Tat! Welch epochale Leistung! Vergleichbar wirklich nur den grußten Errungenschaften des Menschengeschlechts wie der Erfindung der Schrift durch die Assyrer, der euklidischen Geometrie, den Ideen des Plato und der Verwandlung von Trauben in Wein durch die Griechen. Eine wahrhaft prometheische Tat! Und doch, wie alle großen Geistestaten nicht nur Licht, sondern auch Schatten werfen und der Menschheit neben Wohltaten auch Verdruss und Elend bereiten, so hatte leider auch die herrliche Entdeckung Frangipanis uble Folgen: Denn nun, da man gelernt hatte, den Geist der Blumen und Kruuter, der Hulzer, Harze und der tierischen Sekrete in Tinkturen festzubannen und auf Fluschchen abzufullen, entglitt die Kunst des Parfumierens nach und nach den wenigen universalen handwerklichen Kunnern und stand Quacksalbern offen, sofern sie nur eine leidlich feine Nase besaßen, wie zum Beispiel diesem Stinktier Pelissier. Ohne sich darum zu bekummern, wie der wunderbare Inhalt seiner Fluschchen je entstanden war, konnte er einfach seinen olfaktorischen Launen folgen und zusammenmischen, was ihm gerade einfiel oder was das Publikum gerade wunschte.
          Bestimmt besaß dieser Bastard Pelissier mit seinen funfunddreißig Jahren schon jetzt ein grußeres Vermugen als er, Baldini, es sich in der dritten Generation durch harte beharrliche Arbeit endlich angehuuft hatte. Und Pelissiers nahm tuglich zu, wuhrend seins, Baldinis, sich tuglich verminderte. So etwas wure fruher doch gar nicht muglich gewesen! Dass ein angesehener Handwerker und eingefuhrter Commergant um seine schiere Existenz zu kumpfen hatte, das gab es doch erst seit wenigen Jahrzehnten! Seitdem uberall und in allen Bereichen die hektische Neuerungssucht ausgebrochen ist, dieser hemmungslose Tatendrang, diese Experimentierwut, diese Großmannssucht im Handel, im Verkehr und in den Wissenschaften!
          Oder der Geschwindigkeitswahnsinn! Wozu brauchte man die vielen neuen Straßen, die uberall gebuddelt wurden, und die neuen Brucken? Wozu? War es von Vorteil, wenn man bis Lyon in einer Woche reisen konnte? Wem war daran gelegen? Wem nutzte es? Oder uber den Atlantik zu fahren, in einem Monat nach Amerika zu rasen - als wure man nicht jahrtausendelang sehr gut ohne diesen Kontinent ausgekommen. Was hatte der zivilisierte Mensch im Urwald der Indianer verloren oder bei den Negern? Sogar nach Lappland gingen sie, das lag im Norden, im ewigen Eise, wo Wilde lebten, die rohe Fische fraßen. Und noch einen weiteren Kontinent wollten sie entdecken, der angeblich in der Sudsee lag, wo immer das war. Und wozu dieser Wahnsinn? Weil die anderen es auch taten, die Spanier, die verfluchten Englunder, die impertinenten Hollunder, mit denen man sich dann herumschlagen musste, was man sich uberhaupt nicht leisten konnte. 300000 Livres kostet so ein Kriegsschiff gut und gerne, und versenkt ist es in funf Minuten mit einem einzigen Kanonenschuss, auf Nimmerwiedersehn, bezahlt von unseren Steuern. Den zehnten Teil auf alle Einkunfte verlangt der Herr Finanzminister neuerdings, und das ist ruinus, auch wenn man diesen Teil nicht zahlt, denn schon die ganze Geisteshaltung ist verderblich.
          Das Ungluck des Menschen ruhrt daher, dass er nicht still in seinem Zimmer bleiben will, dort, wo er hingehurt. Sagt Pascal. Aber Pascal war ein großer Mann gewesen, ein Frangipani des Geistes, ein Handwerker recht eigentlich, und ein solcher ist heute nicht mehr gefragt. Jetzt lesen sie aufwieglerische Bucher von Hugenotten oder Englundern. Oder sie schreiben Traktate oder sogenannte wissenschaftliche Großwerke, in denen sie alles und jedes in Frage stellen. Nichts mehr soll stimmen, alles soll jetzt plutzlich anders sein. In einem Glas Wassers sollen neuerdings ganz kleine Tierchen schwimmen, die man fruher nicht gesehen hat; die Syphilis soll eine ganz normale Krankheit sein und keine Strafe Gottes mehr; Gott soll die Welt nicht an sieben Tagen erschaffen haben, sondern in Jahrmillionen, wenn er es uberhaupt war; die Wilden sind Menschen wie wir; unsere Kinder erziehen wir falsch; und die Erde ist nicht mehr rund wie bisher, sondern oben und unten platt wie eine Melone - als ob es darauf ankume! In jedem Bereich wird gefragt und gebohrt und geforscht und geschnuffelt und herumexperimentiert. Es genugt nicht mehr, dass man sagt, was ist und wie es ist - es muss jetzt alles noch bewiesen werden, am besten mit Zeugen und Zahlen und irgendwelchen lucherlichen Versuchen. Diese Diderots und d'Alemberts und Voltaires und Rousseaus und wie die Schreiberlinge alle hießen - sogar geistliche Herren sind darunter und Herren von Adel! -, sie haben es wahrhaft geschafft, ihre eigne perfide Ruhelosigkeit, die schiere Lust am Nichtzufriedensein und des um alles in der Welt Sich-nicht-begnugen-kunnens, kurz: das grenzenlose Chaos, das in ihren Kupfen herrscht, auf die gesamte Gesellschaft auszudehnen!
          Wo man hinsah, herrschte Hektik. Leute lasen Bucher, sogar Frauen. Priester hockten im Kaffeehaus. Und wenn die Polizei mal eingriff und einen dieser Oberschurken ins Gefungnis steckte, dann heulten die Verleger auf und reichten Petitionen ein, und huchste Herren und Damen machten ihren Einfluss geltend, bis man ihn nach ein paar Wochen wieder freisetzte oder ins Ausland ziehen ließ, wo er dann hemmungslos weiterpamphletisierte. In den Salons palaverte man nur noch uber Kometenbahnen und Expeditionen, uber Hebelkraft und Newton, uber Kanalbau, Blutkreislauf und den Durchmesser des Erdballs.
          Und selbst der Kunig ließ sich irgendeinen neumodischen Unsinn vorfuhren, eine Art kunstliches Gewitter namens Elektrizitut: Im Angesicht des ganzen Hofes rieb ein Mensch an einer Flasche, und es funkte, und Seine Majestut, so hurt man, zeigte sich tief beeindruckt. Unvorstellbar, dass sein Urgroßvater, der wahrhaft große Ludwig, unter dessen segensreicher Herrschaft Baldini lange Jahre noch das Gluck hatte gelebt zu haben, eine so lucherliche Demonstration vor seinen Augen geduldet hutte! Aber das war der Geist der neuen Zeit, und buse wurde alles enden!
          Denn wenn man schon ungeniert und auf die frechste Art die Autoritut von Gottes Kirche in Zweifel ziehen konnte; wenn man uber die nicht minder gottgewollte Monarchie und die geheiligte Person des Kunigs sprach, als seien beide bloß variable Posten in einem ganzen Katalog von anderen Regierungsformen, die man nach Gusto auswuhlen kunne; wenn man sich schließlich noch so weit verstieg, wie das geschah, Gott selbst, den Allmuchtigen, Ihn Huchstpersunlich, als entbehrlich hinzustellen und allen Ernstes zu behaupten, es seien Ordnung, Sitte und das Gluck auf Erden ohne Ihn zu denken, rein aus der eingeborenen Moralitut und der Vernunft der Menschen selber... o Gott, o Gott! - dann allerdings brauchte man sich nicht zu wundern, wenn sich alles von oben nach unten kehrte und die Sitten verlotterten und die Menschheit das Strafgericht dessen, den sie verleugnete, auf sich herabzog. Buse wird es enden. Der große Komet von 1681, uber den sie sich lustig gemacht haben, den sie als nichts als einen Haufen von Sternen bezeichnet haben, er war eben doch ein warnendes Vorzeichen Gottes gewesen, denn er hatte jetzt wusste man es ja - ein Jahrhundert der Auflusung angezeigt, der Zersetzung, des geistigen und politischen und religiusen Sumpfes, den sich die Menschheit selber schuf, in dem sie dereinst selbst versinken wird und in dem nur noch schillernde und stinkende Sumpfbluten gediehen wie dieser Pelissier!
          Er stand am Fenster, der alte Mann Baldini, und schaute mit gehussigem Blick gegen die schrugstehende Sonne auf den Fluss hinaus. Lastkuhne tauchten unter ihm auf und glitten langsam nach Westen auf den Pont Neuf und den Hafen vor den Galerien des Louvre zu. Keiner wurde hier gegen die Strumung herauf gestakt, sie nahmen den Flussarm auf der anderen Seite der Insel. Hier strumte alles nur weg, die leeren und die beladenen Schiffe, die Ruderboote und die flachen Kuhne der Fischer, das schmutzigbraune Wasser und das golden gekruuselte, alles strumte weg, langsam, breit und unaufhaltsam. Und wenn Baldini ganz steil nach unten blickte, hart an der Hauswand entlang, dann war es, als suge das strumende Wasser die Fundamente der Brucke davon, und es schwindelte ihm.
          Es war ein Fehler gewesen, das Haus auf der Brucke zu kaufen, und ein doppelter Fehler, eines auf der westlich gelegenen Seite zu nehmen. Nun hatte er dauernd den wegstrumenden Fluss vor Augen, und es war ihm, als strume er selbst und sein Haus und sein in vielen Jahrzehnten erworbener Reichtum davon wie der Fluss und als sei er zu alt und zu schwach, sich noch gegen diese gewaltige Strumung zu stemmen. Manchmal, wenn er auf dem linken Ufer zu tun hatte, im Viertel um die Sorbonne oder bei Saint-Sulpice, dann ging er nicht uber die Insel und den Pont Saint-Michel, sondern er nahm den lungeren Weg uber den Pont Neuf, denn diese Brucke war unbebaut. Und dann stellte er sich an die ustliche Brustung und schaute flussaufwurts, um wenigstens ein Mal alles auf sich zustrumen zu sehen; und fur einige Augenblicke schwelgte er in der Vorstellung, die Tendenz seines Lebens habe sich umgekehrt, die Geschufte florierten, die Familie gediehe, die Frauen flugen ihm zu und seine Existenz, statt zu zerrinnen, mehre und mehre sich.
          Aber dann, wenn er den Blick nur ein klein wenig hob, sah er in einigen hundert Metern Entfernung sein eigenes Haus gebrechlich schmal und hoch auf dem Pont au Change, und er sah das Fenster seines Arbeitszimmers im ersten Stock und sah sich selbst dort am Fenster stehen, sah sich hinaussehen auf den Fluss und das wegstrumende Wasser beobachten, wie jetzt. Und damit war der schune Traum verflogen, und Baldini, auf dem Pont Neuf stehend, wandte sich ab, niedergeschlagener als zuvor, niedergeschlagen wie jetzt, da er sich vom Fenster abwendete, zum Schreibtisch ging und sich setzte.

    12


          Vor ihm stand der Flakon mit Pelissiers Parfum. Die Flussigkeit schimmerte goldbraun im Sonnenlicht, klar, ohne die geringste Trubung. Ganz unschuldig sah sie aus, wie heller Tee - und enthielt doch neben vier Funfteln Alkohol ein Funftel eines geheimnisvollen Gemisches, das eine ganze Stadt in Aufregung versetzen konnte. Dieses Gemisch wiederum mochte aus drei oder aus dreißig verschiedenen Stoffen bestehen, die in einem ganz bestimmten von unzuhligen muglichen Volumenverhultnissen zueinander standen. Es war die Seele des Parfums - soweit man bei einem Parfum dieses eiskalten Geschuftemachers Pelissier von Seele reden konnte -, und ihren Aufbau galt es nun herauszufinden.
          Baldini schneuzte sich sorgfultig die Nase und ließ die Jalousie am Fenster etwas herunter, denn das direkte Sonnenlicht war jedem Riechstoff und jeder feineren geruchlichen Konzentration abtruglich. Aus der Schublade des Schreibtischs holte er ein frisches weißes Spitzentaschentuch und entfaltete es. Dann uffnete er den Flakon durch eine leichte Drehung des Stupsels. Den Kopf hielt er dabei weit zuruck und kniff die Nasenflugel zusammen, denn er wollte um Gottes willen nicht einen vorschnellen Geruchseindruck direkt aus der Flasche erwischen. Parfum musste in entfaltetem, luftigem Zustand gerochen werden, niemals konzentriert. Er sprenkelte einige Tropfen auf das Taschentuch, wedelte es durch die Luft, um den Alkohol davonzujagen, und hielt es sich dann unter die Nase. Mit drei ganz kurzen, ruckartigen Stußen riss er den Duft in sich hinein wie ein Pulver, blies ihn sofort wieder aus, fuchelte sich Luft zu, schnuffelte noch einmal im Dreierrhythmus und nahm zum Abschluss einen ganz tiefen Atemzug, den er langsam und mehrmals verhaltend, gleichsam ihn wie uber eine lange flache Treppe gleiten lassend, ausstrumte. Er warf das Taschentuch auf den Tisch und ließ sich gegen die Sessellehne zuruckfallen.
          Das Parfum war ekelhaft gut. Dieser miserable Pelissier war leider ein Kunner. Ein Meister, Gott sei's geklagt, und wenn er tausendmal nichts gelernt hatte! Baldini wunschte, es wure von ihm, dieses >Amor und Psyche<. Es war keine Spur ordinur. Absolut klassisch, rund und harmonisch war es. Und trotzdem faszinierend neu. Es war frisch, aber nicht reißerisch. Es war blumig, ohne schmalzig zu sein. Es besaß Tiefe, eine herrliche, haftende, schwelgerische, dunkelbraune Tiefe - und war doch kein bisschen uberladen oder schwulstig.
          Baldini stand fast ehrfurchtig auf und hielt sich das Taschentuch noch einmal unter die Nase. "Wunderbar, wunderbar..." murmelte er und schnuffelte gierig, "es hat einen heiteren Charakter, es ist lieblich, es ist wie eine Melodie, es macht direkt gute Laune... Unsinn, gute Laune!" Und er schleuderte das Tuchlein wutend auf den Tisch zuruck, wandte sich ab und ging in die hinterste Ecke des Zimmers, als schume er sich seiner Begeisterung.
          Lucherlich! Sich zu solchen Elogen hinreißen zu lassen. >Wie eine Melodie. Heiter. Wunderbar. Gute Laune.< - Bludsinn! Kindischer Bludsinn. Eindruck des Augenblicks. Alter Fehler. Temperamentsfrage. Wahrscheinlich italienisches Erbteil. Urteile nicht, solange du riechst! Das ist die erste Regel, Baldini, alter Schafskopf! Rieche, wenn du riechst, und urteile, wenn du gerochen hast! >Amor und Psyche< ist ein nicht unebenes Parfum. Ein durchaus gelungenes Produkt. Ein geschickt zusammengestelltes Machwerk. Um nicht zu sagen ein Blendwerk. Und etwas anderes als ein Blendwerk war von einem Mann wie Pelissier auch gar nicht zu erwarten. Naturlich fabrizierte ein Kerl wie Pelissier kein Dutzendparfum. Der Schurke blendete mit huchster Kunnerschaft, verwirrte den Geruchssinn mit perfekter Harmonie, ein Wolf im Schafspelz klassischer Geruchskunst war dieser Mensch, mit einem Wort: ein Scheusal mit Talent. Und das war schlimmer als ein Pfuscher mit dem rechten Glauben.
          Aber du, Baldini, wirst dich nicht beturen lassen. Du warst nur einen Augenblick lang uberrascht vom ersten Eindruck des Machwerks. Aber weiß man denn, wie es in einer Stunde riechen wird, wenn seine fluchtigsten Substanzen sich verflogen haben und sein Mittelbau hervortritt? Oder wie es heute Abend riechen wird, wenn nur noch jene schweren, dunklen Komponenten wahrzunehmen sind, die jetzt geruchlich wie im Zwielicht unter angenehmen Blutenschleiern liegen? Wart es ab, Baldini!
          Die zweite Regel sagt: Das Parfum lebt in der Zeit; es hat seine Jugend, seine Reife und sein Alter. Und nur wenn es in allen drei verschiedenen Lebensaltern auf gleich angenehme Weise Duft verstrumt, ist es als gelungen zu bezeichnen. Wie oft hatten wir nicht schon den Fall, dass eine Mischung, die wir machten, bei der ersten Probe herrlich frisch roch, nach kurzer Zeit nach faulem Obst und endlich nur noch ekelhaft nach reinem Zibet, das wir zu hoch dosierten. Vorsicht uberhaupt mit Zibet! Ein Tropfen zu viel schafft Katastrophen. Alte Fehlerquelle. Wer weiß - vielleicht hat Pelissier zu viel Zibet erwischt? Vielleicht bleibt bis heut Abend von seinem ambitiusen >Amor und Psyche< nur noch ein Hauch von Katzenpisse ubrig? Wir werden's sehn.
          Wir werden's riechen. So wie ein scharfes Beil den Holzklotz in die kleinsten Scheite teilt, wird unsre Nase sein Parfum in jede Einzelheit zerspalten. Dann wird sich zeigen, dass dieser angebliche Zauberduft auf sehr normalem, wohlbekanntem Weg entstanden ist. Wir, Baldini, Parfumeur, werden dem Essigmischer Pelissier auf die Schliche kommen. Wir werden ihm die Maske von der Fratze reißen und dem Neuerer beweisen, wozu das alte Handwerk in der Lage ist. Haargenau wird es ihm nachgemischt, sein modisches Parfum. Es wird unter unsern Hunden neu entstehen, so perfekt kopiert, dass es der Windhund selbst nicht mehr von seinem eignen unterscheiden kann. Nein! Das genugt uns nicht! Wir werden's noch verbessern! Wir werden ihm Fehler nachweisen und sie ausmerzen und es ihm auf diese Weise unter die Nase reiben: Du bis ein Pfuscher, Pelissier! Ein kleiner Stinker bist du! Ein Emporkummling im Duftgewerbe, und sonst nichts!
          An die Arbeit jetzt, Baldini! Die Nase geschurft und gerochen ohne Sentimentalitut! Den Duft zerlegt nach den Regeln der Kunst! Bis heute Abend musst du im Besitz der Formel sein! Und er sturzte zuruck an den Schreibtisch, holte Papier, Tinte und ein frisches Taschentuch heraus, legte sich alles zurecht und begann seine analytische Arbeit. Das geschah so, dass er das mit frischem Parfum getrunkte Tuch rasch unter der Nase vorbeizog und aus der voruberfliegenden Duftwolke den einen oder anderen Bestandteil aufzufangen suchte, ohne allzusehr von der komplexen Mischung aller Teile abgelenkt zu sein; um dann, wuhrend er das Taschentuch mit ausgestrecktem Arm weit von sich hielt, den Namen des gefundenen Bestandteils rasch zu notieren und hierauf neuerdings das Tuch an der Nase vorbeifliegen zu lassen, das nuchste Duftfragment zu erhaschen und so fort...

    13


          Er arbeitete zwei Stunden lang ununterbrochen. Und immer hektischer wurden seine Bewegungen, immer fahriger das Gekrakel seiner Feder auf dem Papier, immer huher die Dosen des Parfums, das er aus dem Flakon in sein Taschentuch schuttete und sich unter die Nase hielt.
          Er roch jetzt kaum noch etwas, er war lungst betuubt von den utherischen Substanzen, die er einatmete, konnte nicht einmal mehr wiedererkennen, was er zu Beginn seines Probierens zweifelsfrei analysiert zu haben glaubte. Er wusste, dass es sinnlos war, weiterzuriechen. Er wurde nie herausbekommen, woraus dieses neumodische Parfum zusammengesetzt war, heute schon uberhaupt nicht mehr, aber auch morgen nicht, wenn sich seine Nase, so Gott wollte, wieder erholt haben wurde. Er hatte dieses zersetzende Riechen nie gelernt. Es war ihm eine unselig widerwurtige Beschuftigung, einen Duft zu zerspalten; ein Ganzes, ein gut oder weniger gut Gefugtes, aufzuteilen in seine simplen Fragmente. Es interessierte ihn nicht. Er wollte nicht mehr.
          Aber mechanisch fuhr seine Hand fort, mit jener tausendmal geubten zierlichen Bewegung das Spitzentaschentuch zu trunken, es zu schutteln und rasch am Gesicht vorbeizuwedeln, und mechanisch riss er bei jedem Voruberflug eine Portion duftgetrunkter Luft in sich hinein, um sie kunstgerecht verhalten ausstrumen zu lassen. Bis ihn endlich seine eigene Nase von der Qual befreite, indem sie von innen her allergisch schwoll und sich wie mit einem wuchsernen Pfropfen selbst verschloss. Jetzt konnte er gar nichts mehr riechen, kaum noch atmen. Wie von einem schweren Schnupfen zugelutet war die Nase, und in seinen Augenwinkeln sammelten sich kleine Trunen. Gott im Himmel sei Dank! Nun konnte er guten Gewissens ein Ende machen. Nun hatte er seine Pflicht getan, nach besten Kruften, nach allen Regeln der Kunst, und war, wie schon so oft, gescheitert. Ultra posse nemo obligatur. Feierabend. Morgen fruh wurde er zu Pelissier schicken um eine große Flasche >Amor und Psyche< und damit die spanische Haut fur den Grafen Verhamont beduften, wie bestellt. Und danach wurde er sein Kufferchen nehmen, mit den altmodischen Seifen, Sentbons, Pomaden und Sachets, und seine Runde machen durch die Salons greiser Herzoginnen. Und eines Tages wurde die letzte greise Herzogin gestorben sein und damit seine letzte Kundin. Und dann wurde er selbst ein Greis sein und wurde sein Haus verkaufen mussen, an Pelissier oder an irgendeinen anderen dieser aufstrebenden Hundler, vielleicht bekume er noch ein paar tausend Livre dafur. Und wurde ein, zwei Koffer packen und mit seiner alten Frau, wenn die bis dahin noch nicht tot war, nach Italien reisen. Und wenn er die Reise uberlebte, wurde er sich ein kleines Huuschen auf dem Lande bei Messina kaufen, wo es billig war. Und dort wurde er sterben, Giuseppe Baldini, einst grußter Parfumeur von Paris, in bitterster Armut, wann immer Gott es gefiel. Und so war es gut.
          Er stupselte den Flakon zu, legte die Feder aus der Hand und wischte sich ein letztes Mal mit dem getrunkten Taschentuch uber die Stirn. Er spurte die Kuhle des verdunstenden Alkohols, sonst nichts mehr. Dann ging die Sonne unter.
          Baldini erhob sich. Er uffnete die Jalousie, und sein Kurper tauchte bis herab zu den Knien ins Abendlicht und gluhte auf wie eine abgebrannte glosende Fackel. Er sah den tiefroten Saum der Sonne hinterm Louvre und das zartere Feuer auf den Schieferduchern der Stadt. Unter ihm der Fluss glunzte wie Gold , die Schiffe waren verschwunden. Und es kam wohl ein Wind auf, denn uber die Wasserfluche fielen die Buen wie Schuppen, und es glitzerte da und dort und immer nuher, als streue eine riesige Hand Millionen von Louisdor-Stucken ins Wasser, und die Richtung des Flusses schien sich fur einen Moment umgekehrt zu haben: er strumte auf Baldini zu, eine gleißende Flut von purem Gold. Baldinis Augen waren feucht und traurig. Eine Weile lang stand er still und beobachtete das herrliche Bild. Dann, plutzlich, riss er das Fenster auf, schlug die beiden Flugel weit auseinander und warf den Flakon mit Pelissiers Parfum in hohem Bogen hinaus. Er sah, wie er aufplatschte und fur einen Augenblick den glitzernden Wasserteppich zerriss.
          Frische Luft strumte ins Zimmer. Baldini schupfte Atem und merkte, wie sich die Schwellung seiner Nase luste. Dann schloss er das Fenster. Fast im gleichen Moment wurde es Nacht, ganz plutzlich. Das goldglunzende Bild der Stadt und des Flusses erstarrte zu einer aschgrauen Silhouette. Im Zimmer war es mit einem Schlag duster geworden. Baldini stand wieder in der gleichen Haltung wie zuvor und starrte zum Fenster hinaus. "Ich werde morgen nicht zu Pelissier schicken", sagte er und umklammerte mit beiden Hunden die Ruckenlehne seines Stuhles. "Ich werde es nicht tun. Und ich werde auch nicht meine Tour durch die Salons machen. Sondern ich werde morgen zum Notar gehen und mein Haus und mein Geschuft verkaufen. Das werde ich tun. E basta!"
          Er hatte einen trotzigen, bubenhaften Gesichtsausdruck bekommen und fuhlte sich auf einmal sehr glucklich. Er war wieder der alte, der junge Baldini, mutig, und entschlossen wie je, dem Schicksal die Stirn zu bieten - auch wenn das Stirnbieten in diesem Fall nur Ruckzug war. Und wenn schon! Es blieb ja nichts anderes ubrig. Die dumme Zeit ließ keine andre Wahl. Gott gibt gute und schlechte Zeiten, aber er will nicht, dass wir in schlechten Zeiten jammern und wehklagen, sondern dass wir uns munnlich bewuhren. Und Er hatte ein Zeichen gegeben. Das blutrot-goldene Trugbild der Stadt war eineWarnung gewesen: Handle, Baldini, eh es zu sput ist! Noch steht dein Haus fest, noch sind deine Lager gefullt, noch wirst du einen guten Preis fur dein niedergehendes Geschuft erzielen kunnen. Noch liegen die Entscheidungen in deiner Hand. In Messina bescheiden alt zu werden, das ist zwar nicht dein Lebensziel gewesen - aber es ist doch ehrenwerter und gottgefulliger als in Paris pompus zugrunde zu gehen. Sollen die Brouets, Calteaux und Pelissiers ruhig triumphieren. Giuseppe Baldini ruumt das Feld. Aber er tat es aus freien Stucken und ungebeugt!
          Er war jetzt direkt stolz auf sich. Und unendlich erleichtert. Zum ersten Mal seit vielen Jahren wich der subalterne Krampf aus seinem Rucken, der den Nacken verspannte und die Schultern immer devoter gewulbt hatte, und er stand ohne Anstrengung aufrecht, gelust und frei und freute sich. Sein Atem ging leicht durch die Nase. Er nahm den Geruch von >Amor und Psyche<, der das Zimmer beherrschte, deutlich wahr, aber er ließ sich nichts mehr von ihm anhaben. Baldini hatte sein Leben geundert und fuhlte sich wunderbar. Er wurde jetzt zu seiner Frau hinaufgehen und sie von seinen Entschlussen in Kenntnis setzen und dann nach Notre-Dame hinuberpilgern und eine Kerze anzunden, um Gott zu danken fur den gnudigen Fingerzeig und fur die unglaubliche Charaktersturke, die Er ihm, Giuseppe Baldini, verliehen hatte.
          Mit beinahe jugendlichem Elan warf er die Perucke auf seinen kahlen Schudel, schlupfte in den blauen Rock, ergriff den Leuchter, der auf dem Schreibtischstand, und verließ das Arbeitszimmer. Er hatte gerade die Kerze am Talglicht des Treppenhauses angezundet, um sich den Weg hinauf zur Wohnung zu beleuchten, als er es unten im Erdgeschoss klingeln hurte. Es war nicht das schune persische Geluute der Ladentur, sondern die scheppernde Klingel des Dienstboteneingangs, ein ekelhaftes Geruusch, das ihn schon immer gesturt hatte. Oft wollte er das Ding entfernen und durch eine angenehmere Glocke ersetzen lassen, aber dann war es ihm immer um die Ausgabe leid gewesen, und jetzt, fiel ihm plutzlich ein, und er kicherte bei dem Gedanken, jetzt war's egal; er wurde die aufdringliche Klingel samt dem Haus verkaufen. Sollte sein Nachfolger sich daruber urgern!
          Wieder schepperte die Klingel. Er lauschte nach unten. Offenbar hatte Chenier den Laden schon verlassen. Auch das Dienstmudchen machte keine Anstalten zu kommen. So stieg Baldini selbst hinab, um zu uffnen.
          Er riss den Riegel zuruck, schwenkte die schwere Tur auf - und sah nichts. Die Dunkelheit verschluckte den Schein der Kerze vollstundig. Dann, sehr allmuhlich, konnte er eine kleine Gestalt ausmachen, ein Kind oder einen halbwuchsigen Jungen, der etwas uber dem Arm trug.
          "Was willst du?"
          "Ich komme von Maitre Grimal, ich bringe das Ziegenleder", sagte die Gestalt und trat nuher und hielt Baldini den abgewinkelten Arm mit einigen ubereinandergehungten Huuten entgegen. Im Lichtschein erkannte Baldini das Gesicht eines Jungen mit ungstlich lauernden Augen. Seine Haltung war geduckt. Es schien, als verstecke er sich hinter seinem vorgehaltenen Arm wie einer, der Schluge erwartet. Es war Grenouille.

    14


          Das Ziegenleder fur die spanische Haut! Baldini erinnerte sich. Er hatte die Huute vor ein paar Tagen bei Grimal bestellt, feinstes weichstes Waschleder fur die Schreibunterlage des Grafen Verhamont, funfzehn Franc das Stuck. Aber jetzt brauchte er sie eigentlich nicht mehr, er konnte sich das Geld sparen. Andrerseits, wenn er den Jungen einfach zuruckschickte...? Wer weiß - es kunnte einen ungunstigen Eindruck machen, man wurde vielleicht reden, Geruchte kunnten entstehen: Baldini sei unzuverlussig geworden, Baldini bekomme keine Auftruge mehr, Baldini kunne nicht mehr zahlen... und so etwas war nicht gut, nein, nein, denn so etwas druckte womuglich den Verkaufswert des Geschufts. Es war besser, diese nutzlosen Ziegenhuute anzunehmen. Niemand brauchte zur Unzeit zu erfahren, dass Giuseppe Baldini sein Leben geundert hatte.
          "Komm herein!"
          Er ließ den Jungen eintreten, und sie gingen in den Laden hinuber, Baldini mit dem Leuchter voran, Grenouille mit seinen Huuten hinterdrein. Es war das erste Mal, dass Grenouille eine Parfumerie betrat, einen Ort, wo Geruche nicht Beiwerk waren, sondern ganz unverblumt im Mittelpunkt des Interesses standen. Naturlich kannte er sumtliche Parfum - und Drogenhandlungen der Stadt, nuchtelang war er vor den Auslagen gestanden, hatte seine Nase an die Spalten der Turen gedruckt. Er kannte sumtliche Dufte, die hier gehandelt wurden, und hatte sie in seinem Innern schon oft zu herrlichsten Parfums zusammengedacht. Es erwartete ihn also nichts Neues. Aber ebenso wie ein musikalisches Kind darauf brennt, ein Orchester aus der Nuhe zu sehen oder einmal in der Kirche auf die Empore hinaufzusteigen, zum verborgenen Manual der Orgel, so brannte Grenouille darauf, eine Parfumerie von innen zu sehen, und er hatte, als er hurte, es solle Leder zu Baldini geliefert werden, alles daran gesetzt, diese Besorgung ubernehmen zu durfen.
          Und nun stand er in Baldinis Laden, an dem Ort von Paris, an dem die grußte Anzahl professioneller Dufte auf engstem Raum versammelt war. Viel sah er nicht im voruberfliegenden Kerzenlicht, nur kurz den Schatten des Kontors mit der Waage, die beiden Reiher uber dem Becken, einen Sessel fur die Kunden, die dunklen Regale an den Wunden, das kurze Aufblinken von Messinggerut und weißen Etiketten auf Glusern und Tiegeln; und er roch auch nicht mehr, als er schon von der Straße her gerochen hatte. Aber er spurte sofort den Ernst, der in diesen Ruumen herrschte, fast muchte man sagen, den heiligen Ernst, wenn das Wort "heilig" fur Grenouille irgendeine Bedeutung besessen hutte; den kalten Ernst spurte er, die handwerkliche Nuchternheit, den trockenen Geschuftssinn, die an jedem Mubel, an jedem Gerut, an den Bottichen und Flaschen und Tupfen klebten. Und wuhrend er hinter Baldini herging, in Baldinis Schatten, denn Baldini nahm sich nicht die Muhe, ihm zu leuchten, uberkam ihn der Gedanke, dass er hierhergehure und nirgendwo anders hin, dass er hier bleiben werde, dass er von hier die Welt aus den Angeln heben wurde.
          Dieser Gedanke war naturlich von geradezu grotesker Unbescheidenheit. Es gab nichts, aber schon wirklich rein gar nichts, was einen dahergelaufenen Gerbereihilfsarbeiter dubioser Abkunft, ohne Verbindung oder Protektion, ohne die geringste stundische Position, zu der Hoffnung berechtigte, in der renommiertesten Duftstoffhandlung von Paris Fuß zu fassen; um so weniger, als, wie wir wissen, die Auflusung des Geschufts bereits beschlossene Sache war. Aber es handelte sich ja auch nicht um eine Hoffnung, die sich in Grenouilles unbescheidenen Gedanken ausdruckte, sondern um eine Gewissheit. Diesen Laden, so wusste er, wurde er nur noch verlassen, um seine Kleider bei Grimal abzuholen, und dann nicht mehr. Der Zeck hatte Blut gewittert. Jahrelang war er still gewesen, in sich verkapselt, und hatte gewartet. Jetzt ließ er sich fallen auf Gedeih und Verderb, vollkommen hoffnungslos. Und deshalb war seine Sicherheit so groß.
          Sie hatten den Laden durchquert. Baldini uffnete den nach der Flussseite gelegenen Hinterraum, der teils als Lager, teils als Werkstatt und Labor diente, wo die Seifen gekocht und die Pomaden geruhrt und die Riechwusser in bauchigen Flaschen gemischt wurden. "Da!" sagte er und wies auf einen großen Tisch, der vor dem Fenster stand, "da leg sie hin!"
          Grenouille trat aus Baldinis Schatten heraus, legte die Leder auf den Tisch, sprang dann rasch wieder zuruck und stellte sich zwischen Baldini und die Tur. Baldini blieb noch eine Weile stehen. Er hielt die Kerze etwas beiseite, damit keine Wachstropfen auf den Tisch fielen, und strich mit dem Fingerrucken uber die glatte Fluche des Leders. Dann schlug er das oberste um und fuhr uber die samtige, zugleich rauhe und weiche Innenseite. Es war sehr gut, dieses Leder. Wie geschaffen fur eine spanische Haut. Es wurde sich beim Trocknen kaum verziehen, es wurde, wenn man es richtig mit dem Falzbein strich, wieder geschmeidig werden, er spurte das sofort, wenn er es nur zwischen Daumen und Zeigefinger druckte; es konnte Duft fur funf oder zehn Jahre aufnehmen; es war ein sehr, sehr gutes Leder - vielleicht wurde er Handschuhe daraus machen, drei Paar fur sich und drei Paar fur seine Frau, fur die Reise nach Messina.
          Er zog seine Hand zuruck. Ruhrend sah der Arbeitstisch aus: wie alles bereit lag; die Glaswanne fur das Duftbad, die Glasplatte zum Trocknen, die Reibschalen zum Anmischen der Tinktur, Pistill und Spatel, Pinsel und Falzbein und Schere. Es war, als schliefen die Dinge nur, weil es dunkel war, und als wurden sie morgen wieder lebendig. Vielleicht sollte er den Tisch mitnehmen nach Messina? Und einen Teil seines Werkzeugs, nur die wichtigsten Stucke...? Man saß und arbeitete sehr gut an diesem Tisch. Er bestand aus Eichenbrettern, und das Gestell ebenfalls, und er war quer verstrebt, da zitterte und wackelte nichts an diesem Tisch, dem machte keine Suure etwas aus und kein ul und kein Messerschnitt - und ein Vermugen wurde es kosten, ihn nach Messina zu bringen! Selbst mit dem Schiff! Und darum wird er verkauft, der Tisch, morgen wird er verkauft, und alles, was darauf, darunter und daneben ist, wird ebenfalls verkauft! Denn er, Baldini, hatte zwar ein sentimentales Herz, aber er hatte auch einen starken Charakter, und deshalb wurde er, so schwer es ihm fiel, seinen Entschluss durchfuhren; mit Trunen in den Augen gab er alles weg, aber er wurde es trotzdem tun, denn er wusste, dass es richtig war, er hatte ein Zeichen bekommen.
          Er drehte sich um, um zu gehen. Da stand dieser kleine verwachsene Mensch in der Tur, den hatte er fast schon vergessen. "Es ist gut", sagte Baldini. "Richte dem Meister aus, das Leder ist gut. Ich werde in den nuchsten Tagen vorbeikommen, um zu bezahlen."
          "Jawohl", sagte Grenouille und blieb stehen und verstellte Baldini, der sich anschickte, seine Werkstatt zu verlassen, den Weg. Baldini stutzte ein wenig, hielt aber in seiner Ahnungslosigkeit das Verhalten des Jungen nicht fur Chuzpe, sondern fur Schuchternheit.
          "Was ist?" fragte er. "Hast du mir noch etwas zu bestellen? Nun? Sag es nur!" Grenouille stand geduckt und schaute Baldini mit jenem Blick an, der scheinbar ungstlichkeit verriet, in Wirklichkeit aber einer lauernden Gespanntheit entsprang.
          "Ich will bei Ihnen arbeiten, Maitre Baldini. Bei Ihnen, in Ihrem Geschuft will ich arbeiten."
          Das war nicht bittend gesagt, sondern fordernd, und es war auch nicht eigentlich gesagt, sondern herausgepresst, hervorgezischelt, schlangenhaft. Und wieder verkannte Baldini das unheimliche Selbstbewusstsein Grenouilles als knabenhafte Unbeholfenheit. Er luchelte ihn freundlich an. "Du bist Gerberlehrling, mein Sohn", sagte er, "ich habe keine Verwendung fur einen Gerberlehrling. Ich habe selbst einen Gesellen, und einen Lehrling brauche ich nicht."
          "Sie wollen diese Ziegenleder riechen machen, Maitre Baldini? Diese Leder, die ich Ihnen gebracht habe, die wollen Sie doch riechen machen?" zischelte Grenouille, als habe er Baldinis Antwort gar nicht zur Kenntnis genommen.
          "In der Tat", sagte Baldini.
          "Mit >Amor und Psyche< von Pelissier?" fragte Grenouille und duckte sich noch tiefer zusammen. Jetzt zuckte ein milder Schrecken durch Baldinis Kurper. Nicht weil er sich fragte, woher der Bursche so genau Bescheid wusste, sondern einfach wegen der Namensnennung dieses verhassten Parfums, an dessen Entrutselung er heute gescheitert war.
          "Wie kommst du auf die absurde Idee, ich wurde ein fremdes Parfum benutzen, um..."
          "Sie riechen danach!" zischelte Grenouille. "Sie tragen es auf der Stirn, und in der rechten Rocktasche haben Sie ein Tuch, das ist getrunkt davon. Es ist nicht gut, dieses >Amor und Psyche<, es ist schlecht, es ist zu viel Bergamotte darin und zu viel Rosmarin und zu wenig Rosenul."
          "Aha", sagte Baldini, der von der Wendung des Gespruchs ins Exakte vullig uberrascht war, "was noch?"
          "Orangenblute, Limette, Nelke, Moschus, Jasmin, Weingeist und etwas, von dem ich den Namen nicht kenne, hier, sehen Sie, da! In dieser Flasche!" Und er deutete mit dem Finger ins Dunkle. Baldini hielt den Leuchter in die angegebene Richtung, sein Blick folgte dem Zeigefinger des Jungen und fiel auf eine Flasche im Regal, die mit einem graugelben Balsam gefullt war.
          "Storax?" fragte er.
          Grenouille nickte. "Ja. Das ist drin. Storax." Und dann krummte er sich wie von einem Krampf zusammengezogen und murmelte mindestens ein dutzendmal das Wort >Storax< vor sich hin:
          "Storaxstoraxstoraxstorax..."
          Baldini hielt die Kerze gegen das storaxkruchzende Huuflein Mensch und dachte: Entweder ist er besessen, oder er ist ein betrugerischer Gauner, oder er ist ein begnadetes Talent. Denn dass die angegebenen Stoffe in richtiger Zusammensetzung das Parfum >Amor und Psyche< ergeben konnten, war durchaus muglich; es war sogar wahrscheinlich. Rosenul, Nelke und Storax - nach diesen drei Komponenten hatte er heute Nachmittag so verzweifelt gesucht; mit ihnen fugten sich die anderen Teile der Komposition - die auch er erkannt zu haben glaubte - wie Segmente zu einem hubschen runden Kuchen. Es war jetzt nur noch die Frage, in welchem exakten Verhultnis zueinander man sie fugen musste. Um das herauszufinden, wurde er, Baldini, tagelang herumexperimentieren mussen, eine entsetzliche Arbeit, fast noch schlimmer als das bloße Identifizieren der Teile, denn nun galt es, zu messen und zu wugen und zu notieren und dabei doch hullisch aufzupassen, denn die kleinste Unaufmerksamkeit - ein Zittern mit der Pipette, ein Fehler beim Tropfenzuhlen - konnte alles verderben. Und jeder verpatzte Versuch war grußlich teuer. Jede verdorbene Mischung kostete ein kleines Vermugen... Er wollte den kleinen Menschen auf die Probe stellen, wollte ihn nach der exakten Formel von >Amor und Psyche< fragen. Wenn er sie wusste, auf Gramm und Tropfen genau - dann war er offenkundig ein Betruger, der sich auf irgendeine Weise das Rezept von Pelissier ergaunert hatte, um sich bei Baldini Zutritt und Anstellung zu verschaffen. Erriet er sie aber ungefuhr, dann war er ein Geruchsgenie und forderte als solches Baldinis professionelles Interesse heraus. Nicht dass Baldini seinen gefassten Entschluss, das Geschuft aufzugeben, in Frage stellte! Es kam ihm nicht auf das Parfum von Pelissier als solches an. Selbst wenn der Bursche es ihm literweise verschaffte, Baldini dachte nicht im Traum daran, die spanische Haut des Grafen Verhamont damit zu beduften, aber... Aber man war doch nicht sein Leben lang Parfumeur gewesen, hatte sich nicht ein Leben lang mit der Zusammensetzung von Duften beschuftigt, um von einer Stunde zur anderen seine ganze professionelle Leidenschaft zu verlieren! Es interessierte ihn jetzt, die Formel dieses verfluchten Parfums herauszubekommen, und mehr noch, das Talent dieses unheimlichen Jungen zu erforschen, der ihm einen Duft von der Stirne abgelesen hatte. Er wollte wissen, was da dahintersteckte. Er war ganz einfach neugierig.
          "Du hast, so scheint es, eine feine Nase, junger Mann", sagte er, nachdem Grenouille mit seinem Gekruchze aufgehurt hatte, und trat zuruck in die Werkstatt, um den Leuchter vorsichtig auf dem Arbeitstisch abzustellen, "eine zweifellos feine Nase, aber..."
          "Ich habe die beste Nase von Paris, Maitre Baldini",schnarrte Grenouille dazwischen. "Ich kenne alle Geruche der Welt, alle, die in Paris sind, alle, nur kenne ich von manchen die Namen nicht, aber ich kann auch die Namen lernen, alle Geruche, die Namen haben, das sind nicht viele, das sind nur einige Tausende, ich werde sie alle lernen, ich werde den Namen des Balsams nie vergessen, Storax, der Balsam heisst Storax heisst er, Storax..."
          "Schweig!" rief Baldini, "unterbrich mich nicht, wenn ich spreche! Du bist vorlaut und anmaßend. Kein Mensch kennt tausend Geruche beim Namen. Selbst ich kenne nicht tausend beim Namen, sondern nur einige hundert, denn mehr gibt es nicht in unserem Gewerbe als einige hundert, alles andre ist nicht Geruch, sondern Gestank!"
          Grenouille, der sich wuhrend seiner lungeren eruptiven Zwischenrede beinahe kurperlich entfaltet, in der Erregung sogar fur einen Moment mit beiden Armen im Kreis gefuchtelt hatte, um das >alles, alles<, was er kenne, zu umschreiben, klappte bei Baldinis Entgegnung augenblicks wieder in sich zusammen wie eine kleine schwarze Krute und verharrte auf der Turschwelle, bewegungslos lauernd.
          "Ich bin mir", fuhr Baldini fort, "selbstverstundlich lungst daruber im klaren, dass >Amor und Psyche< aus Storax, Rosenul und Nelke sowie Bergamott und Rosmarinextrakt et cetera besteht. Um das herauszufinden, bedarf es, wie gesagt, bloß einer leidlich feinen Nase, und es mag durchaus sein, dass Gott dir eine leidlich feine Nase gegeben hat, wie vielen, vielen anderen Menschen auch - namentlich in deinem Alter. Der Parfumeur jedoch" - und hier hob Baldini den Zeigefinger und wulbte seine Brust heraus - "der Parfumeur jedoch braucht mehr als eine leidlich feine Nase. Er braucht ein uber viele Jahrzehnte geschultes, unbestechlich arbeitendes Riechorgan, das ihn in Stand versetzt, auch komplizierteste Geruche nach Art und Menge sicher zu entrutseln, ebenso wie neue, unbekannte Duftgemische zu kreieren. Eine solche Nase" - und er tippte mit dem Finger an die seine "hat man nicht, junger Mann! Eine solche Nase erwirbt man sich mit Ausdauer und Fleiß. Oder kunntest du mir vielleicht auf Anhieb die exakte Formel von >Amor und Psyche< nennen? Nun? Kunntest du das?"
          Grenouille antwortete nicht.
          "Kunntest du sie mir vielleicht ungefuhr verraten?" sagte Baldini und beugte sich ein wenig vor, um die Krute in der Tur genauer zu sehen, "nur so in etwa, schutzungsweise? Nun? Sprich, du beste Nase von Paris!"
          Doch Grenouille schwieg.
          "Siehst du?" sagte Baldini gleichermaßen befriedigt wie enttuuscht und richtete sich wieder auf, "du kannst es nicht. Naturlich nicht. Wie solltest du es auch kunnen. Du bist wie einer, der beim Essen schmeckt, ob Kerbel oder Petersilie in der Suppe ist. Nun gut das ist schon etwas. Aber deshalb bist du noch lange kein Koch. In jeder Kunst und auch in jedem Handwerk - merke dir das, bevor du gehst! - gilt das Talent so gut wie nichts, aber alles die Erfahrung, die durch Bescheidenheit und Fleiß erworben wird."
          Er griff nach dem Leuchter auf dem Tisch, als Grenouilles gePresste Stimme von der Tur her schnarrte:
          "Ich weiß nicht, was eine Formel ist, Mahre, das weiß ich nicht, sonst weiß ich alles!"
          "Eine Formel ist das A und O jeden Parfums", erwiderte Baldini streng, denn er wollte dem Gespruch nun ein Ende machen. "Sie ist die akribische Anweisung, in welchem Verhultnis die einzelnen Ingredienzen zu mischen sind, damit der eine gewunschte, unverwechselbare Duft entstehe; das ist die Formel. Sie ist das Rezept - wenn du dieses Wort besser verstehst." "Formel, Formel", kruchzte Grenouille und wurde etwas grußer in der Tur, "ich brauche keine Formel. Ich habe das Rezept in meiner Nase. Soll ich es fur Sie mischen, Maitre, soll ich es mischen, soll ich?"
          "Wie denn?" rief Baldini mit ziemlicher Lautsturke und hielt dem Gnom die Kerze vors Gesicht. "Wie denn mischen?"
          Grenouille zuckte zum ersten Mal nicht mehr zuruck. "Aber sie sind doch alle da, die man braucht, die Geruche, sind doch alle da, in diesem Raum", sagte er und deutete wieder ins Dunkle. "Rosenul da! Orangenblute da! Nelke da! Rosmarin da...!"
          "Freilich sind sie da!" brullte Baldini. "Alle sind sie da! Aber ich sage dir doch, Holzkopf, das nutzt nichts, wenn man die Formel nicht hat!"
          "...Jasmin da! Weingeist da! Bergamotte da! Storax da!" kruchzte Grenouille weiter und deutete bei jedem Namen auf einen anderen Punkt im Raum, wo es so dunkel war, dass man den Schatten der Regale mit den Flaschen huchstens ahnen konnte.
          "Du siehst wohl auch bei Nacht, he?" fuhr Baldini ihn an, "du hast nicht nur die feinste Nase, sondern auch die schurfsten Augen von Paris, wie? Wenn du nur leidlich gute Ohren hast, dann mach sie auf, denn ich sage dir: Du bist ein kleiner Betruger. Wahrscheinlich hast du irgend etwas aufgeschnappt bei Pelissier, hast was ausspioniert, wie? Und glaubst, du kunntest mich hinters Licht fuhren?"
          Grenouille stand jetzt ganz auseinandergefaltet, sozusagen in voller Kurpergruße in der Ture, mit leicht auseinandergestellten Beinen und leicht abgespreizten Armen, so dass er aussah wie eine schwarze Spinne, die sich an Schwelle und Rahmen festkrallte. "Geben Sie mir zehn Minuten", sagte er in ziemlich flussiger Rede, "und ich werde Ihnen das Parfum >Amor und Psyche< herstellen. Jetzt gleich und hier in diesem Raum. Maitre, geben Sie mir funf Minuten!"
          "Du glaubst, ich lasse dich in meiner Werkstatt herumpantschen? Mit Essenzen, die ein Vermugen wert sind? Dich?"
          "Ja", sagte Grenouille.
          "Pah!" rief Baldini und stieß dabei den ganzen Atem, den er hatte, auf einmal heraus. Dann holte er tief Luft, sah den spinnenhaften Grenouille lange an und uberlegte. Im Grunde ist es egal, dachte er, denn morgen hat sowie soalles ein Ende. Ich weiß zwar, dass er das, was er behauptet, nicht kann, ja gar nicht kunnen kann, er wure denn noch grußer als der große Frangipani. Aber warum soll ich mir das, was ich weiß, nicht noch vor Augen demonstrieren lassen? Womuglich kommt mir sonst in Messina eines Tages man wird ja manchmal sonderbar im Alter und versteift sich auf die verrucktesten Ideen - der Gedanke, ich hutte ein olfaktorisches Genie, ein Wesen, auf dem die Gnade Gottes uberreichlich ruhte, ein Wunderkind, als solches nicht erkannt... - Es ist ganz ausgeschlossen. Nach allem, was mir der Verstand sagt, ist es ausgeschlossen - aber Wunder gibt es, das steht fest. Nun, wenn ich dereinst sterbe in Messina, und auf dem Sterbelager kommt mir der Gedanke: Damals in Paris, an jenem Abend, hast du vor einem Wunder die Augen zugemacht...? Das wure nicht sehr angenehm, Baldini! Soll der Narr die paar Tropfen Rosenul und Moschustinktur verkleckern, du selbst huttest sie auch verkleckert, wenn dich das Parfum von Pelissier noch wirklich interessierte. Und was sind schon die paar Tropfen - wiewohl teuer, sehr, sehr teuer! - gemessen an der Sicherheit des Wissens und an einem ruhigen Lebensabend?
          "Pass auf!" sagte er mit kunstlich strenger Stimme, "pass auf! Ich... - wie heisst du uberhaupt?"
          "Grenouille", sagte Grenouille. "Jean-Baptiste Grenouille."
          "Aha", sagte Baldini. "Also pass auf, Jean-Baptiste Grenouille! Ich habe es mir uberlegt. Du sollst die Gelegenheit bekommen, jetzt, sofort, deine Behauptung zu beweisen. Dies ist zugleich eine Gelegenheit fur dich, durch ein eklatantes Scheitern die Tugend der Bescheidenheit zu lernen, welche - in deinem jungen Alter vielleicht verzeihlicherweise noch kaum entwickelt - eine unabdingbare Voraussetzung fur dein sputeres Fortkommen als Mitglied deiner Zunft und deines Standes, als Ehemann, als Untertan, als Mensch und als ein guter Christ sein wird. Ich bin bereit, dir diese Lehre auf meine Kosten zu erteilen, denn aus bestimmten Grunden bin ich heute spendabel aufgelegt, und, wer weiß, vielleicht wird mir eines Tages die Ruckerinnerung an diese Szene etwas Heiterkeit bereiten. Aber glaube nicht, du kunntest mich ubertulpeln! Giuseppe Baldinis Nase ist alt, aber sie ist scharf, scharf genug, auch den kleinsten Unterschied zwischen deiner Mixtur und diesem Produkt hier" - und dabei zog er sein >Amor und Psyche< - getrunktes Tuchlein aus der Tasche und wedelte es Grenouille vor die Nase - "sofort festzustellen. Tritt nuher, beste Nase von Paris! Tritt nuher an diesen Tisch und zeige, was du kannst! Doch gib acht, dass du mir nichts umstußt und herunterwirfst! Ruhre mir nichts an! Erst will ich mehr Licht machen. Wir wollen große Beleuchtung haben fur dieses kleine Experiment, nicht wahr?"
          Und damit nahm er zwei andere Leuchter, die am Rand des großen Eichentisches standen, und zundete sie an. Er postierte sie alle drei nebeneinander an der hinteren Lungsseite, schob das Leder beiseite, ruumte den mittleren Teil des Tisches frei. Dann, mit zugleich ruhigen und raschen Griffen, holte er die Gerute, die das Geschuft erforderte, von einem kleinen Gestell: die große bauchige Mischflasche, den glusernen Trichter, die Pipette, das kleine und das große Messglas, und stellte sie wohlgeordnet vor sich auf die Eichenplatte.
          Grenouille hatte sich inzwischen vom Turrahmen gelust. Schon wuhrend Baldinis pompuser Rede war das Versteifte, lauernd Verdruckte von ihm abgefallen. Er hurte nur die Zustimmung, nur das Ja, mit dem innern Jubel eines Kindes, das sich ein Zugestundnis ertrotzt hat und auf die Einschrunkungen, Bedingungen und moralischen Ermahnungen, die sich daran knupfen, pfeift. Locker dastehend, einem Menschen zum ersten Mal uhnlicher als einem Tier, ließ er den Rest von Baldinis Suada uber sich ergehen und wusste, dass er diesen Mann, der ihm nun nachgab, schon uberwultigt hatte.
          Wuhrend Baldini noch mit seinen Kerzenleuchtern auf dem Tisch hantierte, schlupfte Grenouille schon in das seitliche Dunkel der Werkstatt, wo die Regale mit den kostbaren Essenzen, ulen und Tinkturen standen, und griff sich, der sicheren Witterung seiner Nase folgend, die benutigten Fluschchen von den Borden. Neun waren es an der Zahl: Orangenblutenessenz, Limettenul, Nelken- und Rosenul, Jasmin-, Bergamotte- und Rosmarinextrakt, Moschustinktur und Storaxbalsam, die er sich rasch herunterpfluckte und am Rand des Tisches zurechtstellte. Als letztes schleppte er einen Ballon mit hochprozentigem Weingeist heran. Dann stellte er sich hinter Baldini, der noch immer mit beduchtiger Pedanterie seine Mischgefuße arrangierte, dieses Glas ein wenig dahin ruckte, jenes noch ein wenig dorthin, damit alles seine gute altgewohnte Ordnung habe und sich im vorteilhaftesten Licht der Leuchter prusentiere - und wartete, zitternd vor Ungeduld, dass der Alte sich entferne und ihm Platz mache.
          "So!" sagte Baldini endlich und trat zur Seite. "Hier ist alles aufgereiht, was du fur dein - nennen wir es freundlicherweise >Experiment< benutigst. Zerbrich mir nichts, vertropfe mir nichts! Denn merke: Diese Flussigkeiten, mit denen du jetzt funf Minuten lang hantieren darfst, sind von einer Kostbarkeit und Seltenheit, wie du sie nie wieder in deinem Leben in so konzentrierter Form in Hunden halten wirst!"
          "Wie viel soll ich Ihnen machen, Maitre?" fragte Grenouille."Was machen...?" sagte Baldini, der seine Rede noch nicht beendet hatte. "Wie viel von dem Parfum?" schnarrte Grenouille, "wie viel davon wollen Sie haben? Soll ich diese dicke Flasche bis zum Rand vollfullen?" Und er deutete auf eine Mischflasche, die gut und gerne drei Liter fasste.
          "Nein, das sollst du nicht!" schr ie Baldini entsetzt, und es schrie aus ihm die ebenso tief verwurzelte wie spontane Angst vor der Verschwendung seines Eigentums. Und als geniere er sich uber diesen entlarvenden Schrei, brullte er gleich hinterher: "Und in die Rede fallen sollst du mir auch nicht!" um dann in ruhigerem, ironisch eingefurbtem Ton fortzufahren: "Wozu brauchen wir drei Liter von einem Parfum, das wir beide nicht schutzen? Im Grunde genugte ein halber Messbecher voll. Da solch kleine Quantituten jedoch unpruzis zu mischen sind, will ich dir gestatten, eine Drittelfullung der Mischflasche anzusetzen."
          "Gut", sagte Grenouille. "Ich werde diese Flasche zu einem Drittel mit >Amor und Psyche< fullen. Aber, Maitre Baldini, ich mache es auf meine Art. Ich weiß nicht, ob das die zunftige Art ist, denn die kenne ich nicht, aber ich mache es auf meine Art."
          "Bitte!" sagte Baldini, der wusste, dass es bei diesem Geschuft nicht meine oder deine, sondern eben nur eine, eine einzig mugliche und richtige Art gab, die darin bestand, in Kenntnis der Formel und unter entsprechender Umrechnung auf die zu erzielende Endmenge ein aufs Exakteste vermessenes Konzentrat aus den verschiedenen Essenzen herzustellen, welches daraufhin mit Alkohol in einem wiederum exakten Verhultnis, das meistens zwischen eins zu zehn und eins zu zwanzig schwankte, zum endgultigen Parfum vergeistigt werden musste. Eine andre Art, das wusste er, gab es nicht. Und deshalb musste ihm das, was er nun zu sehen bekam und was er zunuchst mit sputtischer Distanz, dann mit Verwirrung und schließlich nur noch mit hilflosem Erstaunen beobachtete, als schieres Wunder erscheinen. Und die Szene utzte sich so in sein Geduchtnis ein, dass er sie bis ans Ende seiner Tage nicht mehr vergaß.

    15


          Der kleine Mensch Grenouille entkorkte als erstes den Ballon mit Weingeist. Er hatte Muhe, das schwere Gefuß hochzuwuchten. Fast bis in Kopfhuhe musste er es heben, denn so hoch stand die Mischflasche mit dem aufgesetzten Glastrichter, in den er, ohne Zuhilfenahme eines Messbechers, den Alkohol direkt aus dem Ballon goss. Baldini schauderte vor so viel geballtem Unvermugen: Nicht nur, dass der Kerl die parfumistische Weltordnung auf den Kopf stellte, indem er mit dem Lusungsmittel anfing, ohne das zu lusende Konzentrat zu besitzen - er war auch kaum physisch dazu in der Lage! Er zitterte vor Anstrengung, und Baldini rechnete jeden Moment damit, dass der schwere Ballon herunterkrachen und alles auf dem Tisch zertrummern werde. Die Kerzen, dachte er, um Gottes willen, die Kerzen! Es wird eine Explosion geben, er wird mein Haus abbrennen...! Und er wollte schon hinsturzen, um dem Verruckten den Ballon zu entreißen, als Grenouille ihn selber absetzte, heil zu Boden brachte und wieder verkorkte. In der Mischflasche schwankte die leichte klare Flussigkeit - es war kein Tropfen danebengegangen. Fur ein paar Momente verschnaufte sich Grenouille und machte dabei ein so zufriedenes Gesicht, als habe er den beschwerlichsten Teil der Arbeit schon hinter sich. Und in der Tat ging das Folgende mit einer derartigen Geschwindigkeit vonstatten, dass Baldini mit den Augen kaum folgen konnte, geschweige denn eine Reihenfolge oder auch nur einen irgendwie geregelten Ablauf des Geschehens hutte erkennen kunnen.
          Anscheinend wahllos griff Grenouille in die Reihe der Flakons mit den Duftessenzen, riss die Glasstupsel heraus, hielt sich den Inhalt fur eine Sekunde unter die Nase, schuttete dann von diesem, trupfelte von einem anderen, gab einen Schuss von einem dritten Fluschchen in den Trichter und so fort. Pipette, Reagenzglas, Messglas, Luffelchen und Ruhrstab - all die Gerute, die den komplizierten Mischprozess fur den Parfumeur beherrschbar machen, ruhrte Grenouille kein einziges Mal an. Es war, als spiele er nur, als pritschle und pansche er wie ein Kind, das aus Wasser, Gras und Dreck einen scheußlichen Sud kocht und dann behauptet, es sei eine Suppe. Ja, wie ein Kind, dachte Baldini; er sieht auch mit einem Mal aus wie ein Kind, trotz seinen klobigen Hunden, trotz seinem vernarbten, zerkerbten Gesicht und der knolligen Altmunnernase. Ich habe ihn fur ulter gehalten, als er ist, und jetzt kommt er mir junger vor; wie drei oder vier kommt er mir vor; wie diese unzugunglichen, unbegreiflichen, eigensinnigen kleinen Vormenschen, die, angeblich unschuldig, nur an sich selber denken, die alles auf der Welt sich despotisch unterordnen wollen und es wohl auch tun wurden, wenn man sie in ihrem Grußenwahn gewuhren ließe und nicht durch strengste erzieherische Maßnahmen nach und nach disziplinierte und an die selbstbeherrschte Existenz des Vollmenschen heranfuhrte. Ein solch fanatisches Kleinkind steckte in diesem jungen Mann, der mit gluhenden Augen am Tisch stand und seine ganze Umgebung vergessen hatte, offenbar gar nicht mehr wusste, dass es noch etwas andres gab in der Werkstatt außer ihm und diesen Flaschen, die er mit behender Tapsigkeit an den Trichter fuhrte, um sein wahnsinniges Gebruu zu mischen, von dem er hinterher todsicher behaupten wurde - und auch noch daran glaubte! - es sei das erlesene Parfum >Amor und Psyche<. Es schauderte Baldini, als er dem im flackernden Kerzenlicht so grußlich verkehrt und so grußlich selbstbewusst hantierenden Menschen zusah: Seinesgleichen - so dachte er, und ihm war fur einen Moment wieder so traurig und elend und wutend zumute wie am Nachmittag, als er auf die in der Dummerung rotgluhende Stadt geblickt hatte seinesgleichen hutte es fruher nicht gegeben; das war ein ganz neues Exemplar der Gattung, wie es nur in dieser maroden, verlotterten Zeit entstehen konnte... Aber er sollte seine Lehre bekommen, der prupotente Bursche! Zusammenputzen wurde er ihn am Ende dieser lucherlichen Auffuhrung, dass er davonschlich als das geduckte Huuflein Nichts, als welches er gekommen war. Geschmeiß! Man durfte sich uberhaupt mit niemandem mehr einlassen heutzutage, denn es wimmelte von lucherlichem Geschmeiß!
          So beschuftigt war Baldini mit seiner inneren Empurung und seinem Ekel vor der Zeit, dass er nicht recht begriff, was es bedeuten sollte, als Grenouille plutzlich sumtliche Flakons verstupselte, den Trichter aus der Mischflasche zog, die Flasche selbst mit einer Hand am Halse packte, sie mit der flachen linken Hand verschloss und heftig schuttelte. Erst als die Flasche mehrmals durch die Luft gewirbelt war, ihr kostbarer Inhalt wie Limonade vom Bauch in den Hals und zuruck sturzte, stieß Baldini einen Wut- und Entsetzensschrei aus. "Halt!" kreischte er. "Genug jetzt! Hur augenblicklich auf! Basta! Stell sofort die Flasche auf den Tisch und ruhre nichts mehr an, verstehst du, nichts mehr! Ich muss wahnsinnig gewesen sein, mir dein turichtes Geschwutz uberhaupt anzuhuren. Die Art und Weise, wie du mit den Dingen umgehst,deine Grobheit, dein primitiver Unverstand zeigen mir, dass du ein Stumper bist, ein barbarischer Stumper und ein lausiger frecher Rotzbengel obendrein. Du taugst nicht mal zum Limonadenmischer, nicht einmal zum einfachsten Lakritzwasserverkuufer taugst du, geschweige denn zum Parfumeur! Sei froh, sei dankbar und zufrieden, wenn dich dein Meister weiterhin mit Gerberbruhe panschen lusst! Wage es nicht noch einmal, hurst du mich? Wage es nicht noch einmal, deinen Fuß uber die Schwelle eines Parfumeurs zu setzen!"
          So sprach Baldini. Und wuhrend er noch sprach, war der Raum um ihn herum schon duftgesuttigt von >Amor und Psyche<. Es gibt eine uberzeugungskraft des Duftes, die sturker ist als Worte, Augenschein, Gefuhl und Wille. Die uberzeugungskraft des Duftes ist nicht abzuwehren, sie geht in uns hinein wie die Atemluft in unsere Lungen, sie erfullt uns, fullt uns vollkommen aus, es gibt kein Mittel gegen sie.
          Grenouille hatte die Flasche abgesetzt, die mit Parfum benetzte Hand vom Hals genommen und an seinem Rocksaum abgewischt. Ein, zwei Schritt zuruck, das linkische Zusammenklappen seines Kurpers unter Baldinis Standpauke schlugen genugend Wellen in der Luft, um den neugeschaffnen Duft ringsum zu verbreiten. Mehr war nicht nutig. Zwar, Baldini tobte noch und zeterte und schimpfte; doch mit jedem Atemzug fand seine uußerlich zur Schau gestellte Wut im Innern weniger Nahrung. Ihm schwante, dass er widerlegt war, weswegen seine Rede sich gegen Ende nur noch in hohles Pathos steigern konnte. Und als er schwieg, eine Weile lang geschwiegen hatte, brauchte es gar nicht mehr Grenouilles Bemerkung: "Es ist fertig." Er wusste es ohnehin.
          Aber trotzdem, obwohl ihn mittlerweile von allen Seiten her die >Amor-und-Psyche<-schwere Luft umwallte, trat er an den alten Eichentisch, um eine Probe vorzunehmen. Zog ein frisches, schneeweißes Spitzentuchlein aus der Rocktasche, aus der linken, entfaltete es und tupfte darauf ein paar Tropfen, die er mit der langen Pipette aus der Mischflasche gezogen hatte. Schwenkte das Tuchlein am ausgestreckten Arm, um es zu aerieren, und zog es dann mit der geubten zierlichen Bewegung unter seiner Nase hindurch, den Duft in sich einsaugend. Wuhrend er ihn ruckweise ausstrumen ließ, setzte er sich auf einen Hocker. Er war zuvor von seinem - Wutausbruch noch tiefrot im Gesicht gewesen - mit einem Mal ganz blass geworden. "Unglaublich", murmelte er leise vor sich hin, "bei Gott - unglaublich."
          Und wieder und wieder druckte er die Nase gegen das Tuchlein und schnuffelte und schuttelte den Kopf und murmelte "unglaublich.": Es war >Amor und Psyche<, ohne den geringsten Zweifel >Amor und Psyche<, das hassenswert geniale Duftgemisch, so pruzise kopiert, dass nicht einmal Pelissier selber es von seinem Produkt wurde unterscheiden kunnen. "Unglaublich..."
          Klein und blass saß der große Baldini auf dem Hocker und sah lucherlich aus mit seinem Tuchlein in der Hand, das er wie eine verschnupfte Jungfer gegen die Nase druckte. Die Sprache hatte es ihm nun vollstundig verschlagen. Er sagte nicht einmal "unglaublich" mehr, sondern stieß nur noch, indem er fortwuhrend leise nickte und auf den Inhalt der Mischflasche starrte, ein monotones "Hm, hm, hm...hm, hm, hm...hm, hm, hm.." aus. Nach einer Weile nuherte sich Grenouille und trat lautlos wie ein Schatten an den Tisch.
          "Es ist kein gutes Parfum", sagte er, "es ist sehr schlecht zusammengesetzt, dieses Parfum."
          "Hm, hm, hm", sagte Baldini, und Grenouille fuhr fort: "Wenn Sie erlauben, Maitre, will ich es verbessern. Geben Sie mir eine Minute, und ich mache Ihnen ein anstundiges Parfum daraus!"
          "Hm, hm, hm", sagte Baldini und nickte. Nicht weil er zustimmte, sondern weil er eben in einem so hilflos apathischen Zustand war, dass er zu allem und jedem "hm, hm, hm" gesagt und genickt hutte. Und er nickte auch weiter und murmelte "hm, hm, hm" und machte keine Anstalten einzugreifen, als Grenouille zum zweiten Mal zu mischen anfing, ein zweites Mal den Weingeist aus dem Ballon in die Mischflasche goss, zum bereits darin befindlichen Parfum hinzu, zum zweiten Mal den Inhalt der Flakons in scheinbar wahlloser Reihenfolge und Menge in den Trichter kippte. Erst gegen Ende der Prozedur - Grenouille schuttelte die Flasche diesmal nicht, sondern schwenkte sie nur sachte wie ein Cognacglas, vielleicht mit Rucksicht auf Baldinis Zartgefuhl, vielleicht weil ihm der Inhalt diesmal kostbarer erschien - erst jetzt also, als die Flussigkeit schon fertig in der Flasche kreiselte, erwachte Baldini aus seinem betuubten Zustand und erhob sich, das Tuchlein freilich immer noch vor die Nase gepresst, als wolle er sich gegen einen neuerlichen Angriff auf sein Inneres wappnen.
          "Es ist fertig, Maitre", sagte Grenouille. "Jetzt ist es ein recht guter Duft."
          "Jaja, schon gut, schon gut", erwiderte Baldini und winkte ab mit seiner freien Hand.
          "Wollen Sie nicht eine Probe nehmen?" gurgelte Grenouille weiter, "wollen Sie nicht, Maitre? Keine Probe?"
          "Sputer, bin jetzt nicht aufgelegt zu einer Probe... habe andere Sachen im Kopf. Geh jetzt! Komm!"
          Und er nahm einen der Leuchter und ging zur Tur hinaus, hinuber in den Laden. Grenouille folgte ihm. Sie kamen in den schmalen Korridor, der zum Dienstboteneingang fuhrte. Der Alte schlurfte auf die Pforte zu, riss den Riegel zuruck und uffnete. Er trat beiseite, um den Jungen hinauszulassen.
          "Darf ich nun bei Ihnen arbeiten, Maitre, darf ich?" fragte Grenouille, schon auf der Schwelle stehend, wieder geduckt, wieder lauernden Auges.
          "Ich weiß es nicht", sagte Baldini, "ich werde daruber nachdenken. Geh!"
          Und dann war Grenouille verschwunden, mit einem Mal weg, weggeschluckt von der Dunkelheit. Baldini stand da und glotzte in die Nacht. In der rechten Hand hielt er den Leuchter, in der linken das Tuchlein, wie einer, der Nasenbluten hat, und hatte doch nur Angst. Rasch riegelte er die Ture zu. Dann nahm er das schutzende Tuch vom Gesicht, schob es in die Tasche und ging durch den Laden in die Werkstatt zuruck. Der Duft war so himmlisch gut, dass Baldini schlagartig das Wasser in die Augen trat. Er brauchte keine Probe zu nehmen, er stand nur am Werktisch vor der Mischflasche und atmete. Das Parfum war herrlich. Es war im Vergleich zu >Amor und Psyche< wie eine Sinfonie im Vergleich zum einsamen Gekratze einer Geige. Und es war mehr. Baldini schloss die Augen und sah sublimste Erinnerungen in sich wachgerufen. Er sah sich als einen jungen Menschen durch abendliche Gurten von Neapel gehen; er sah sich in den Armen einer Frau mit schwarzen Locken liegen und sah die Silhouette eines Strauchs von Rosen auf dem Fenstersims, uber das ein Nachtwind ging; er hurte versprengte Vugel singen und von Ferne die Musik aus einer Hafenschenke; er hurte Flusterndes ganz dicht am Ohr, er hurte ein Ich lieb dich und spurte, wie sich ihm vor Wonne die Haare struubten, jetzt! jetzt in diesem Augenblick! Er riss die Augen auf und stuhnte vor Vergnugen. Dieses Parfum war kein Parfum, wie man es bisher kannte. Das war kein Duft, der besser riechen machte, kein Sentbon, kein Toilettenartikel. Das war ein vullig neuartiges Ding, das eine ganze Welt aus sich erschaffen konnte, eine zauberhafte, reiche Welt, und man vergaß mit einem Schlag die Ekelhaftigkeiten um sich her und fuhlte sich so reich, so wohl, so frei, so gut...
          Die gestruubten Haare an Baldinis Arm legten sich, und eine beturende Seelenruhe ergriff Besitz von ihm. Er nahm das Leder, das Ziegenleder, das am Rand des Tisches lag und nahm ein Messer und schnitt das Leder zu. Dann legte er die Stucke in die Wanne aus Glas und ubergoss sie mit dem neuen Parfum. Er sturzte eine Glasplatte auf die Wanne, zog den Rest des Duftes auf zwei Fluschchen, die er mit Etiketts versah, darauf schrieb er den Namen >Nuit Napolitaine<. Dann luschte er das Licht und ging.
          Oben bei seiner Frau beim Essen sagte er nichts. Vor allem sagte er nichts von dem hochheiligen Entschluss, den er am Nachmittag gefasst hatte. Auch seine Frau sagte nichts, denn sie merkte, dass er heiter war, und damit war sie sehr zufrieden. Er ging auch nicht mehr hinuber nach Notre-Dame, um Gott zu danken fur seine Charaktersturke. Ja, er vergaß an diesem Tag sogar zum ersten Mal, zur Nacht zu beten.

    16


          Am nuchsten Morgen ging er schnurstracks zu Grimal.Als erster bezahlte er das Ziegenleder, und zwar den vollen Preis, ohne Murren und ohne die geringste Feilscherei. Und dann lud er Grimal zu einer Flasche Weißwein in die Tour d'Argent ein und handelte ihm den Lehrling Grenouille ab. Selbstverstundlich verriet er nicht, weshalb er ihn wollte und wozu er ihn brauchte. Er schwindelte etwas daher von einem großen Auftrag in Duftleder, zu dessen Bewultigung er einer ungelernten Hilfskraft bedurfe. Einen genugsamen Burschen brauche er, der ihm einfachste Dienste verrichte, Leder zuschneide und so weiter. Er bestellte noch eine Flasche Wein und bot zwanzig Livre als Entschudigung fur die Unannehmlichkeit, die er Grimal durch den Ausfall Grenouilles verursachte. Zwanzig Livre waren eine enorme Summe. Grimal schlug sofort ein. Sie gingen in die Gerberei, wo Grenouille sonderbarerweise schon mit gepacktem Bundel wartete, Baldini zahlte seine zwanzig Livre und nahm ihn, im Bewusstsein, das beste Geschuft seines Lebens gemacht zu haben, gleich mit.
          Grimal, der seinerseits uberzeugt war, das beste Geschuft seines Lebens gemacht zu haben, kehrte in die Tour d'Argent zuruck, trank dort zwei weitere Flaschen Wein, zog dann gegen Mittag in den Lion d'Or am andern Ufer um und besoff sich dort so hemmungslos, dass er, als er sput nachts abermals in die Tour d'Argent umziehen wollte, die Rue Geoffroi L'Anier mit der Rue des Nonaindieres verwechselte und somit, statt, wie er gehofft hatte, direkt auf den Pont Marie zu stoßen, verhungnisvollerweise auf den Quai des Ormes geriet, von wo aus er der Lunge nach mit dem Gesicht voraus ins Wasser platschte wie in ein weiches Bett. Er war augenblicklich tot. Der Fluss aber brauchte noch geraume Zeit, ihn vom seichten Ufer weg, an den vertuuten Lastkuhnen vorbei, in die sturkere mittlere Strumung zu ziehen, und erst in den fruhen Morgenstunden schwamm der Gerber Grimal, oder vielmehr seine nasse Leiche, in flotterer Fahrt flussabwurts, gen Westen.
          Als er den Pont au Change passierte, lautlos, ohne an den Bruckenpfeiler anzuecken, ging Jean-Baptiste Grenouille zwanzig Meter uber ihm gerade zu Bett. Er hatte in der hinteren Ecke von Baldinis Werkstatt eine Pritsche hingestellt bekommen, von der er nun Besitz ergriff, wuhrend sein ehemaliger Brotherr, alle viere von sich gestreckt, die kalte Seine hinunter schwamm. Wohlig rollte er sich zusammen und machte sich klein wie der Zeck. Mit beginnendem Schlaf versenkte er sich tiefer und tiefer in sich hinein und hielt triumphalen Einzug in seiner inneren Festung, auf der er sich ein geruchliches Siegesfest ertruumte, eine gigantische Orgie mit Weihrauchqualm und Myrrhendampf, zu Ehren seiner selbst.

    17


          Mit dem Erwerb von Grenouille begann der Aufstieg des Hauses Giuseppe Baldini zu nationalem, ja europuischem Ansehen. Das persische Glockenspiel stand nicht mehr still, und die Reiher hurten nicht mehr auf zu speien im Laden auf dem Pont au Change.
          Am ersten Abend noch musste Grenouille einen großen Ballon >Nuit Napolitaine< ansetzen, von dem im Laufe des folgenden Tages uber achtzig Flakons verkauft wurden. Der Ruf des Duftes verbreitete sich mit rasender Geschwindigkeit. Chenier bekam ganz glasige Augen vom Geldzuhlen und einen schmerzenden Rucken von den tiefen Bucklingen, die er verrichten musste, denn es erschienen hohe und huchste Herrschaften, oder zumindest die Diener von hohen und huchsten Herrschaften. Und einmal flog sogar die Tur auf, dass es nur so schepperte, und herein trat der Lakai des Grafen d'Argenson und schrie, wie nur Lakaien schreien kunnen, dass er funf Flaschen von dem neuen Duft haben wolle, und Chenier zitterte noch eine Viertelstunde sputer vor Ehrfurcht, denn der Graf d'Argenson war Intendant und Kriegsminister Seiner Majestut und der muchtigste Mann von Paris.
          Wuhrend Chenier im Laden allein dem Ansturm der Kundschaft ausgesetzt war, hatte sich Baldini mit seinem neuen Lehrling in der Werkstatt eingeschlossen. Chenier gegenuber rechtfertigte er diesen Umstand mit einer phantastischen Theorie, die er als "Arbeitsteilung und Rationalisierung" bezeichnete. Jahrelang, so erklurte er, habe er geduldig mitangesehen, wie Pelissier und seinesgleichen zunftverachtende Gestalten ihm die Kundschaft abspenstig gemacht und das Geschuft versaut hutten. Jetzt sei sein Langmut zu Ende. Jetzt nehme er die Herausforderung an und schlage wider diese frechen Parvenus zuruck, und zwar mit deren eigenen Mitteln: Zu jeder Saison, jeden Monat, wenn es sein musste auch jede Woche, werde er mit neuen Duften auftrumpfen, und mit was fur welchen! Er wolle aus dem vollen seiner kreativen Ader schupfen. Und dazu sei es nutig, dass er - unterstutzt allein von einer ungelernten Hilfskraft - ganz und ausschließlich die Produktion der Dufte betreibe, wuhrend Chenier sich ausschließlich deren Verkauf zu widmen habe. Mit dieser modernen Methode werde man ein neues Kapitel in der Geschichte der Parfumerie aufschlagen, die Konkurrenz hinwegfegen und unermesslich reich werden - ja, er sage bewusst und ausdrucklich "man", denn er gedenke, seinen altgedienten Gesellen an diesen unermesslichen Reichtumern mit einem bestimmten Prozentsatz zu beteiligen.
          Vor wenigen Tagen noch hutte Chenier solche Reden seines Meisters als Anzeichen eines beginnenden Alterswahnsinns gedeutet. Jetzt ist er reif fur die Charitu<, hutte er gedacht, >jetzt kann's nicht mehr lange dauern, bis er das Pistill endgultig aus der Hand legt. < Nun aber dachte er nichts mehr. Er kam gar nicht mehr dazu, er hatte einfach zu viel zu tun. Er hatte so viel zu tun, dass er abends vor Erschupfung kaum noch in der Lage war, die pralle Kasse auszuleeren und sich seinen Anteil abzuzweigen. Er kam nicht im Traum darauf zu zweifeln, dass es mit rechten Dingen zuging, wenn Baldini beinahe tuglich mit irgendeinem neuen Duft aus seiner Werkstatt trat.
          Und was fur Dufte waren das! Nicht nur Parfums der huchsten, allerhuchsten Schule, sondern auch Cremes und Puder, Seifen, Haarlotionen, Wusser, ule ... Alles, was zu duften hatte, duftete jetzt neu und anders und herrlicher als je zuvor. Und auf alles, aber wirklich alles, selbst auf die neuartigen Dufthaarbunder, die Baldinis kuriose Laune eines Tages hervorbrachte, sprang das Publikum los wie behext, und Preise spielten keine Rolle. Alles, was Baldini produzierte, wurde ein Erfolg. Und der Erfolg war dermaßen uberwultigend, dass Chenier ihn wie ein Naturereignis hinnahm und nicht mehr nach seinen Ursachen forschte. Dass etwa der neue Lehrling, der unbeholfene Gnom, der in der Werkstatt hauste wie ein Hund und den man manchmal, wenn der Meister heraustrat, im Hintergrund stehen und Gluser wischen und Murser putzen sah - dass dieses Nichts von Mensch etwas zu tun haben sollte mit dem sagenhaften Aufbluhen des Geschufts, das hutte Chenier nicht einmal dann geglaubt, wenn man es ihm gesagt hutte.
          Naturlich hatte der Gnom alles damit zu tun. Das, was Baldini in den Laden brachte und Chenier zum Verkauf uberließ, war nur ein Bruchteil dessen, was Grenouille hinter verschlossenen Turen zusammenmischte. Baldini kam mit dem Riechen nicht mehr nach. Es war ihm manchmal eine regelrechte Qual, unter den Herrlichkeiten, die Grenouille hervorbrachte, eine Wahl zu treffen. Dieser Zauberlehrling hutte alle Parfumeure Frankreichs mit Rezepten versorgen kunnen, ohne sich zu wiederholen, ohne auch nur ein Mal etwas Minderwertiges oder auch nur Mittelmußiges hervorzubringen. - Das heisst, mit Rezepten, also Formeln, hutte er sie eben nicht versorgen kunnen, denn zunuchst komponierte Grenouille seine Dufte noch auf jene chaotische und vullig unprofessionelle Manier, die Baldini schon kannte, indem er numlich aus der freien Hand in scheinbar wildem Durcheinander Ingredienzien mischte. Um das verruckte Geschuft, wenn nicht zu kontrollieren, so doch wenigstens begreifen zu kunnen, verlangte Baldini eines Tages von Grenouille, er muge sich, auch wenn er das fur unnutig halte, beim Ansetzen seiner Mischungen der Waage, des Messbechers und der Pipette bedienen; er muge sich ferner angewuhnen, den Weingeist nicht als Duftstoff zu begreifen, sondern als Lusungsmittel, welches erst im nachhinein zuzusetzen sei; und ermuge schließlich um Gottes willen langsam hantieren, gemuchlich und langsam, wie es sich fur einen Handwerker gehure.
          Grenouille tat das. Und zum ersten Mal war Baldini in der Lage, die einzelnen Handhabungen des Hexenmeisters zu verfolgen und zu dokumentieren. Mit Feder und Papier saß er neben Grenouille und notierte, immer wieder zur Langsamkeit mahnend, wie viel Gramm von diesem, wie viel Messstriche von jenem, wie viel Tropfen von einem dritten Ingredienz in die Mischflasche wanderten. Auf diese sonderbare Weise, indem er numlich einen Vorgang nachtruglich mit eben jenen Mitteln analysierte, ohne deren vorherigen Gebrauch er eigentlich gar nicht hutte stattfinden durfen, gelangte Baldini endlich doch in den Besitz der synthetischen Vorschrift. Wie Grenouille ohne diese in der Lage war, seine Parfums zu mixen, blieb fur Baldini zwar weiterhin ein Rutsel, vielmehr ein Wunder, aber wenigstens hatte er das Wunder jetzt auf eine Formel gebracht und damit seinen nach Regeln durstenden Geist einigermaßen befriedigt und sein parfumistisches Weltbild vor dem vollstundigen Kollaps bewahrt.
          Nach und nach entlockte er Grenouille die Rezepturen sumtlicher Parfums, die dieser bisher erfunden hatte, und er verbot ihm schließlich sogar, neue Dufte anzusetzen, ohne dass er, Baldini, mit Feder und Papier zugegen war, den Prozess mit Argusaugen beobachtete und Schritt fur Schritt dokumentierte. Seine Notizen, bald viele Dutzende von Formeln, ubertrug er dann penibel mit gestochener Schrift in zwei verschiedene Buchlein, deren eines er in seinen feuerfesten Geldschrank einschloss und deren anderes er stundig bei sich trug und mit dem er nachts auch schlafen ging. Das gab ihm Sicherheit. Denn nun konnte er, wenn er wollte, Grenouilles Wunder selber nachvollziehen, die ihn, als er sie zum erstenmal erlebte, tief erschuttert hatten. Mit seiner schriftlichen Formelsammlung glaubte er, das entsetzliche schupferische Chaos, welches aus dem Innern seines Lehrlings hervorquoll, bannen zu kunnen. Auch hatte die Tatsache, dass er nicht mehr bloß blude staunend, sondern beobachtend und registrierend an den Schupfungsakten teilnahm, auf Baldini eine beruhigende Wirkung und sturkte sein Selbstvertrauen. Nach einer Weile glaubte er gar von sich, zum Gelingen der sublimen Dufte nicht unwesentlich beizutragen. Und wenn er sie erst einmal in seine Buchlein eingetragen hatte und im Tresor und dicht am eigenen Busen verwahrte, zweifelte er sowieso nicht mehr daran, dass sie nun ganz und gar sein eigen seien.
          Aber auch Grenouille profitierte von dem disziplinierenden Verfahren, das ihm von Baldini aufgezwungen wurde. Er selbst war zwar nicht darauf angewiesen. Er musste nie eine alte Formel nachschlagen, um ein Parfum nach Wochen oder Monaten zurekonstruieren, denn er vergaß Geruche nicht. Aber er erlernte mit der obligatorischen Verwendung von Messbecher und Waage die Sprache der Parfumerie, under spurte instinktiv, dass ihm die Kenntnis dieser Sprache von Nutzen sein konnte. Nach wenigen Wochen beherrschte Grenouille nicht nur die Namen sumtlicher Duftstoffe in Baldinis Werkstatt, sondern er war auch in der Lage, die Formel seiner Parfums selbst niederzuschreiben und umgekehrt, fremde Formeln und Anweisungen in Parfums und sonstige Riecherzeugnisse zu verwandeln. Und mehr noch! Nachdem er einmal gelernt hatte, seine parfumistischen Ideen in Gramm und Tropfen auszudrucken, bedurfte er nicht einmal mehr des experimentellen Zwischenschritts. Wenn Baldini ihm auftrug, einen neuen Duft, sei es fur ein Taschentuchparfum, fur ein Sachet, fur eine Schminke zu kreieren, so griff Grenouille nicht mehr zu Flakons und Pulvern, sondern er setzte sich einfach an den Tisch und schrieb die Formel direkt nieder. Er hatte gelernt, den Weg von seiner inneren Geruchsvorstellung zum fertigen Parfum um die Herstellung der Formel zu erweitern. Fur ihn war das ein Umweg. In den Augen der Welt, das heisst in Baldinis Augen, jedoch war es ein Fortschritt. Grenouilles Wunder blieben dieselben. Aber die Rezeptur, mit denen er sie nun versah, nahmen ihnen den Schrecken, und das war von Vorteil. Je besser Grenouille die handwerklichen Griffe und Verfahrensweisen beherrschte, je normaler er sich in der konventionellen Sprache der Parfumerie auszudrucken wusste, desto weniger furchtete und beargwuhnte ihn der Meister. Bald hielt Baldini ihn zwar noch fur einen ungewuhnlich begabten Geruchsmenschen, nicht mehr aber fur einen zweiten Frangipani oder gar fur einen unheimlichen Hexenmeister, und Grenouille war das nur recht. Der handwerkliche Komment diente ihm als willkommene Tarnung. Er lullte Baldini geradezu ein durch sein vorbildliches Verfahren beim Wugen der Zutaten, beim Schwenken der Mischflasche, beim Betupfen des weißen Probiertuchleins. Er konnte es fast schon so zierlich schutteln, so elegant an der Nase voruberfliegen lassen wie der Meister. Und gelegentlich, in wohldosierten Intervallen, beging er Fehler, die so beschaffen waren, dass Baldini sie bemerken musste: Vergaß zu filtrieren, stellte die Waage falsch ein, schrieb einen unsinnig hohen Prozentsatz von Ambertinktur in eine Formel... und ließ sich den Fehler verweisen, um ihn dann geflissentlichst zu korrigieren. So gelang es ihm, Baldini in der Illusion zu wiegen, es gehe letzten Endes alles doch mit rechten Dingen zu. Er wollte den Alten ja nicht verprellen. Er wollte ja wirklich von ihm lernen. Nicht das Mischen von Parfums, nicht die rechte Komposition eines Duftes, naturlich nicht! Auf diesem Gebiet gab es niemand auf der Welt, der ihn etwas hutte lehren kunnen, und die in Baldinis Laden vorhandenen Ingredienzien hutten auch bei weitem nicht ausgereicht, seine Vorstellungen eines wirklich großen Parfums zu verwirklichen. Was er bei Baldini an Geruchen realisieren konnte, waren Spielereien verglichen mit den Geruchen, die er in sich trug und die er eines Tages zu realisieren gedachte. Dazu aber, das wusste er, bedurfte es zweier unabdingbarer Voraussetzungen: Die eine war der Mantel einer burgerlichen Existenz; mindestens des Gesellentums, in dessen Schutz er seinen eigentlichen Leidenschaften frunen und seine eigentlichen Ziele ungesturt verfolgen konnte. Die andre war die Kenntnis jener handwerklichen Verfahren, nach denen man Duftstoffe herstellte, isolierte, konzentrierte, konservierte und somit fur eine huhere Verwendung uberhaupt erst verfugbar machte. Denn Grenouille besaß zwar in der Tat die beste Nase der Welt, sowohl analytisch als auch visionur, aber er besaß noch nicht die Fuhigkeit, sich der Geruche dinglich zu bemuchtigen.

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          Und so ließ er sich denn willig unterweisen in der Kunst des Seifenkochens aus Schweinefett, des Handschuhnuhens aus Waschleder, des Pudermischens aus Weizenmehl und Mandelkleie und gepulverten Veilchenwurzeln. Rollte Duftkerzen aus Holzkohle, Salpeter und Sandelholzspunen. Presste orientalische Pastillen aus Myrrhe, Benzoe und Bernsteinpulver. Knetete Weihrauch, Schellack, Vetiver und Zimt zu Ruucherkugelchen. Siebte und spaltete Poudre Imperiale aus gemahlenen Rosenbluttern, Lavendelblute, Kaskarillarinde. Ruhrte Schminken, weiß und aderblau, und formte Fettstifte, karmesinrot, fur die Lippen. Schlummte feinste Fingernagelpulver und Zahnkreiden, die nach Minze schmeckten. Mixte Kruuselflussigkeit fur das Peruckenhaar und Warzentropfen fur die Huhneraugen, Sommersprossenbleiche fur die Haut und Belladonnaauszug fur die Augen, Spanischfliegensalbe fur die Herren und Hygieneessig fur die Damen... Die Herstellung sumtlicher Wusserchen und Pulverchen, Toilette- und Schunheitsmittelchen, aber auch von Tee- und Wurzmischungen, von Likuren, Marinaden und dergleichen, kurz, alles, was Baldini ihn mit seinem großen uberkommenen Wissen zu lehren hatte, lernte Grenouille, ohne sonderliches Interesse zwar, doch klaglos und mit Erfolg.
          Mit besonderem Eifer war er hingegen bei der Sache, wenn Baldini ihn im Anfertigen von Tinkturen, Auszugen und Essenzen unterwies. Unermudlich konnte er Bittermandelkerne in der Schraubenpresse quetschen oder Moschuskurner stampfen oder fette graue Amberknollen mit dem Wiegemesser hacken oder Veilchenwurzeln raspeln, um die Spune dann in feinstem Alkohol zu digerieren. Er lernte den Gebrauch des Scheidetrichters kennen, mit welchem man das reine ul gepresster Limonenschalen von der truben Ruckstandsbruhe trennte. Er lernte Kruuter und Bluten zu trocknen, auf Rosten in schattiger Wurme, und das raschelnde Laub in wachsversiegelten Tupfen und Truhen zu konservieren. Er erlernte die Kunst, Pomaden auszuwaschen, Infusionen herzustellen, zu filtrieren, zu konzentrieren, zu klarifizieren und zu rektifizieren.
          Freilich war Baldinis Werkstatt nicht dazu geeignet, dass man darin in großem Stile Bluten- oder Kruuterule fabrizierte. Es hutte in Paris ja auch die notwendigen Mengen frischer Pflanzen kaum gegeben. Gelegentlich jedoch, wenn frischer Rosmarin, wenn Salbei, Minze oder Anissamen am Markt billig zu haben waren oder wenn ein grußerer Posten Irisknollen oder Baldrianwurzel, Kummel, Muskatnuss oder trockne Nelkenblute eingetroffen war, dann regte sich Baldinis Alchimistenader, und er holte seinen großen Alambic hervor, einen kupfernen Destillierbottich mit oben aufgesetztem Kondensiertopf - einen sogenannten Maurenkopfalambic, wie er stolz verkundete -, mit dem er schon vor vierzig Jahren an den sudlichen Hungen Liguriens und auf den Huhen des Luberon auf freiem Felde Lavendel destilliert habe. Und wuhrend Grenouille das Destilliergut zerkleinerte, heizte Baldini in hektischer Eile - denn rasche Verarbeitung war das A und O des Geschufts - eine gemauerte Feuerstelle ein, auf die er den kupfernen Kessel, mit einem guten Bodensatz Wasser gefullt, postierte. Er warf die Pflanzenteile hinein, stopfte den doppelwandigen Maurenkopf auf den Stutzen und schloss zwei Schluuchlein fur zu- und abfließendes Wasser daran an. Diese raffinierte Wasserkuhlungskonstruktion, so erklurte er, sei erst nachtruglich von ihm eingebaut worden, denn seinerzeit auf dem Felde habe man selbstverstundlich mit bloßer zugefuchelter Luft gekuhlt. Dann blies er das Feuer an.
          Allmuhlich begann es, im Kessel zu brodeln. Und nach einer Weile, erst zaghaft trupfchenweise, dann in fadendunnem Rinnsal, floss Destillat aus der dritten Ruhre des Maurenkopfs in eine Florentinerflasche, die Baldini untergestellt hatte. Es sah zunuchst recht unansehnlich aus, wie eine dunne, trube Suppe. Nach und nach aber, vor allem wenn die gefullte Flasche durch eine neue ausgetauscht und ruhig beiseite gestellt worden war, schied sich die Bruhe in zwei verschiedene Flussigkeiten: unten stand das Bluten- oder Kruuterwasser, obenauf schwamm eine dicke Schicht von ul. Goss man nun vorsichtig durch den unteren Schnabelhals der Florentinerflasche das nur zart duftende Blutenwasser ab, so blieb das reine ul zuruck, die Essenz, das starke riechende Prinzip der Pflanze. Grenouille war von dem Vorgang fasziniert. Wenn je etwas im Leben Begeisterung in ihm entfacht hatte freilich keine uußerlich sichtbare, sondern eine verborgene, wie in kalter Flamme brennende Begeisterung -, dann war es dieses Verfahren, mit Feuer, Wasser und Dampf und einer ausgeklugelten Apparatur den Dingen ihre duftende Seele zu entreißen. Diese duftende Seele, das utherische ul, war ja das Beste an ihnen, das einzige, um dessentwillen sie ihn interessierten. Der blude Rest: Blute, Blutter, Schale, Frucht, Farbe, Schunheit, Lebendigkeit und was sonst noch an uberflussigem in ihnen steckte, das kummerte ihn nicht. Das war nur Hulle und Ballast. Das gehurte weg.
          Von Zeit zu Zeit, wenn das Destillat wussrig klar geworden war, nahmen sie den Alambic vom Feuer, uffneten ihn und schutteten das zerkochte Zeug heraus. Es sah schlapp aus und blass wie aufgeweichtes Stroh, wie gebleichte Knochen kleiner Vugel, wie Gemuse, das zu lang gekocht hat, fad und fasrig, matschig, kaum noch als es selbst erkenntlich, eklig leichenhaft und so gut wie vollstundig des eigenen Geruchs beraubt. Sie warfen es zum Fenster hinaus in den Fluss. Dann beschickten sie mit neuen frischen Pflanzen, fullten Wasser nach und setzten den Alambic zuruck auf die Feuerstelle. Und wieder begann der Kessel zu brodeln, und wieder rann der Lebenssaft der Pflanzen in die Florentinerflaschen. So ging es oft die ganze Nacht hindurch. Baldini besorgte den Ofen, Grenouille behielt die Flaschen im Auge, mehr war nicht zu tun in der Zeit zwischen den Wechseln.
          Sie saßen auf Schemeln ums Feuer, im Banne des plumpen Bottichs, beide gebannt, wenn auch aus sehr verschiedenen Grunden. Baldini genoss die Glut des Feuers und das flackernde Rot der Flammen und des Kupfers, er liebte das Knistern des brennenden Holzes, das Gurgeln des Alambics, denn das war wie fruher. Da konnte man ins Schwurmen kommen! Er holte eine Flasche Wein aus dem Laden, denn die Hitze machte ihn durstig, und Weintrinken, das war auch wie fruher. Und dann fing er an, Geschichten zu erzuhlen, von damals, endlos. Vom spanischen Erbfolgekrieg, an dessen Verlauf er, gegen die usterreicher kumpfend, maßgeblich beteiligt gewesen sei; von den Camisards, mit denen er die Cevennen unsicher gemacht habe; von der Tochter eines Hugenotten im Esterei, die vom Lavendelduft berauscht ihm zu Willen gewesen sei; von einem Waldbrand, den er dabei um ein Haar entfacht und der dann wohl die gesamte Provence in Brand gesteckt hutte, so sicher wie das Amen in der Kirche, denn es ging ein scharfer Mistral; und vom Destillieren erzuhlte er, immer wieder davon, auf freiem Feld, nachts, beim Mondschein, bei Wein und bei Zikadengeschrei, und von einem Lavendelul, das er dabei erzeugt habe, so fein und kruftig, dass man es ihm mit Silber auf gewogen habe; von seiner Lehrzeit in Genua, von seinen Wanderjahren und von der Stadt Grasse, in der es so viele Parfumeure gebe wie anderswo Schuster, und so reiche darunter, dass sie lebten wie Fursten, in pruchtigen Huusern mit schattigen Gurten und Terrassen und holzgetufelten Esszimmern, in denen sie speisten von porzellanenen Tellern mit Goldbesteck, und so fort...
          Solche Geschichten erzuhlte der alte Baldini und trank Wein dazu und bekam vom Wein und von der Feuerglut und von der Begeisterung uber seine eignen Geschichten ganz feuerrote Buckchen. Grenouille aber, der etwas mehr im Schatten saß, hurte gar nicht zu. Ihn interessierten keine alten Geschichten, ihn interessierte ausschließlich der neue Vorgang. Er starrte unausgesetzt auf das Ruhrchen am Kopf des Alambics, aus dem in dunnem Strahl das Destillat rann. Und indem er es anstarrte, stellte er sich vor, er selbst sei so ein Alambic, in dem es brodele wie in diesem und aus dem ein Destillat hervorquelle wie hier, nur eben besser, neuer, ungewohnter, ein Destillat von jenen exquisiten Pflanzen, die er selbst in seinem Innern gezogen hatte, die dort bluhten, ungerochen außer von ihm selbst, und die mit ihrem einzigartigen Parfum die Welt in einen duftenden Garten Eden verwandeln kunnten, in welchem fur ihn das Dasein olfaktorisch einigermaßen ertruglich wure. Ein großer Alambic zu sein, der alle Welt mit seinen selbsterzeugten Destillaten uberschwemmte, das war der Wunschtraum, dem Grenouille sich hingab.
          Wuhrend aber Baldini, vom Wein entzundet, immer ausschweifendere Geschichten davon erzuhlte, wie es fruher gewesen war, und sich immer hemmungsloser in die eigenen Schwurmereien verstrickte, ließ Grenouille bald ab von seiner bizarren Phantasie. Er verbannte die Vorstellung vom großen Alambic furs erste aus seinem Kopf und uberlegte stattdessen, wie er sich seine neuerworbenen Kenntnisse fur nuherliegende Ziele nutzbar machen kunnte.

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          Nicht lang, und er war ein Spezialist auf dem Gebiet des Destillierens. Er fand heraus - und seine Nase half ihm dabei mehr als Baldinis Regelwerk -, dass die Hitze des Feuers von entscheidendem Einfluss auf die Gute des Destillates war. Jede Pflanze, jede Blute, jedes Holz und jede ulfrucht verlangten eine besondere Prozedur. Mal musste schurfster Dampf entwickelt, mal nur mußig stark gebrodelt werden, und manche Blute gab ihr Bestes erst, wenn man sie auf kleinster Flamme schwitzen ließ.
          uhnlich wichtig war die Aufbereitung. Minze und Lavendel konnte man in ganzen Buscheln destillieren. Andres wollte fein verlesen sein, zerpfluckt, gehackt, geraspelt, gestampft oder sogar als Maische angesetzt, bevor es in den Kupferkessel kam. Manches aber ließ sich uberhaupt nicht destillieren, und das erbitterte Grenouille aufs uußerste.
          Baldini hatte ihm, als er sah, wie sicher Grenouille die Apparatur beherrschte, freie Hand im Umgang mit dem Alambic gelassen, und Grenouille hatte diese Freiheit weidlich genutzt. Wuhrend er tagsuber Parfums mischte und sonstige Duft- und Wurzprodukte fertigte, beschuftigte er sich nachts ausschließlich mit der geheimnisvollen Kunst des Destillierens. Sein Plan war, vollkommen neue Geruchsstoffe zu produzieren, um damit wenigstens einige der Dufte, die er in seinem Innern trug, herstellen zu kunnen. Zunuchst hatte er auch kleine Erfolge. Es gelang ihm, ein ul von Brennesselbluten und von Kressesamen zu erzeugen, ein Wasser von der frischgeschulten Rinde des Holunder-Strauchs und von Eibenzweigen. Die Destillate uhnelten zwar im Duft den Ausgangsstoffen kaum noch, waren aber immerhin noch interessant genug, um fur weitere Verarbeitung zu taugen. Dann allerdings gab es Stoffe, bei denen das Verfahren vollstundig versagte. Grenouille versuchte etwa, den Geruch von Glas zu destillieren, den lehmig-kuhlen Geruch glatten Glases, der von normalen Menschen gar nicht wahrzunehmen ist. Er besorgte sich Fensterglas und Flaschenglas und verarbeitete es in großen Stucken, in Scherben, in Splittern, als Staub - ohne den geringsten Erfolg. Er destillierte Messing, Porzellan und Leder, Korn und Kieselsteine. Schiere Erde destillierte er. Blut und Holz und frische Fische. Seine eigenen Haare. Am Ende destillierte er sogar Wasser, Wasser aus der Seine, dessen eigentumlicher Geruch ihm wert schien, aufbewahrt zu werden. Er glaubte, mit Hilfe des Alambics kunne er diesen Stoffen ihren charakteristischen Duft entreißen, wie das bei Thymian, bei Lavendel und beim Kummelsamen muglich war. Er wusste ja nicht, dass die Destillation nichts anderes war als ein Verfahren zur Trennung gemischter Substanzen in ihre fluchtigen und weniger fluchtigen Einzelteile und dass sie fur die Parfumerie nur insofern von Nutzen war, als sie das fluchtige utherische ul gewisser Pflanzen von ihren duftlosen oder duftarmen Resten absondern konnte. Bei Substanzen, denen dieses utherische ul abging, war das Verfahren der Destillation naturlich vullig sinnlos. Uns heutigen Menschen, die wir physikalisch ausgebildet sind, leuchtet das sofort ein. Fur Grenouille jedoch war diese Erkenntnis das muhselig errungene Ergebnis einer langen Kette von enttuuschenden Versuchen. uber Monate hinweg hatte er Nacht fur Nacht am Alambic gesessen und auf jede erdenkliche Weise versucht, mittels Destillation radikal neue Dufte zu erzeugen, Dufte, wie es sie in konzentrierter Form auf Erden noch nicht gegeben hatte. Und bis auf ein paar lucherliche Pflanzenule war nichts dabei herausgekommen. Aus dem tiefen, unermesslich reichen Brunnen seiner Vorstellung hatte er keinen einzigen Tropfen konkreter Duftessenz gefurdert, von allem, was ihm geruchlich vorgeschwebt hatte, nicht ein Atom realisieren kunnen.
          Als er sich uber sein Scheitern klargeworden war, stellte er die Versuche ein und wurde lebensbedrohlich krank.

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          Er bekam hohes Fieber, das in den ersten Tagen von Ausschwitzungen begleitet war und sputer, als genugten die Poren der Haut nicht mehr, unzuhlige Pusteln erzeugte. Grenouilles Kurper war ubersut von diesenroten Bluschen. Viele von ihnen platzten auf und ergossen ihren wussrigen Inhalt, um sich dann wieder von neuem zu fullen. Andere wuchsen sich zu wahren Furunkeln aus, schwollen dick rot an und rissen wie Krater auf und spieen dickflussigen Eiter aus und mit gelben Schlieren durchsetztes Blut. Nach einer Weile sah Grenouille aus wie ein von innen gesteinigter Murtyrer, aus hundert Wunden schwurend. Da machte sich Baldini naturlich Sorgen. Es wure ihm sehr unangenehm gewesen, seinen kostbaren Lehrling ausgerechnet in einem Augenblick zu verlieren, wo er sich anschickte, seinen Handel uber die Grenzen der Hauptstadt, ja sogar des ganzen Landes auszudehnen. Denn in der Tat geschah es immer huufiger, dass nicht nur aus der Provinz, sondern auch von auslundischen Hufen Bestellungen eingingen fur jene neuartigen Dufte, nach denen Paris verruckt war; und Baldini trug sich mit dem Gedanken, zur Bewultigung dieser Nachfrage eine Filiale im Faubourg Saint-Antoine zu grunden, eine veritable kleine Manufaktur, wo die gungigsten Dufte en gros gemischt und en gros in nette kleine Flakons gefullt, von netten kleinen Mudchen verpackt nach Holland, England und ins Deutsche Reich verschickt werden sollten. Fur einen in Paris ansussigen Meister war ein solches Unterfangen nicht gerade legal, aber neuerdings verfugte Baldini ja uber Protektion huheren Orts, seine raffinierten Dufte hatten sie ihm verschafft, nicht nur beim Intendanten, sondern auch bei so wichtigen Persunlichkeiten wie Monsieur dem Zollpuchter von Paris und einem Mitglied des kuniglichen Finanzkabinetts und Furderer wirtschaftlich florierender Unternehmen wie dem Herrn Feydeau de Brou. Dieser hatte sogar kunigliches Privileg in Aussicht gestellt, das Beste, was man sich uberhaupt wunschen konnte, war es doch eine Art Passepartout zur Umgehung sumtlicher staatlicher und stundischer Bevormundung, das Ende aller geschuftlichen Sorgen und eine ewige Garantie fur sicheren, unangefochtenen Wohlstand.
          Und dann gab es noch einen anderen Plan, mit dem Baldini schwanger ging, einen Lieblingsplan, eine Art Gegenprojekt zu der Manufaktur im Faubourg Saint-Antoine, die, wenn nicht Massenware, so doch fur jedermann kuufliche produzierte: Er wollte fur eine ausgewuhlte Zahl hoher und huchster Kundschaft persunliche Parfums kreieren, vielmehr kreieren lassen, Parfums, die, wie angeschneiderte Kleider, nur zu einer Person passten, nur von dieser verwendet werden durften und allein ihren erlauchten Namen trugen. Er stellte sich ein >Parfum de la Marquise de Cernay< vor, ein >Parfum de la Marechale de Villars<, ein >Parfum du Duc d'Aiguillon< und so fort. Er truumte von einem >Parfum de Madame la Marquise de Pompadour<, ja sogar von einem >Parfum de Sa Majeste le Roi< im kustlichgeschliffenen achatenen Flakon mit ziselierter Goldfassung und dem auf der Innenseite des Fußes verborgen eingravierten Namen >Giuseppe Baldini, Parfumeur<. Des Kunigs Namen und sein eigener auf ein und demselben Gegenstand. Zu solch herrlichen Vorstellungen hatte sich Baldini verstiegen! Und nun war Grenouille krank geworden. Wo doch Grimal, Gott hab ihn selig, geschworen hatte, dem fehle nie etwas, der halte alles aus, sogar die schwarze Pest stecke der weg. War mir nichts, dir nichts krank auf den Tod. Wenn er sturbe? Entsetzlich! Dann sturben mit ihm die herrlichen Plune von der Manufaktur, von den netten kleinen Mudchen, vom Privilegium und vom Parfum des Kunigs.
          Also beschloss Baldini, nichts unversucht zu lassen, um das teure Leben seines Lehrlings zu retten. Er ordnete eine Umsiedlung von der Werkstattpritsche in ein sauberes Bett im Obergeschoß des Hauses an. Er ließ das Bett mit Damast beziehen. Er half eigenhundig mit, den Kranken die enge Stiege hinaufzutragen, obwohl ihn unsuglich vor den Pusteln und den schwurenden Furunkeln ekelte. Er befahl seiner Frau, Huhnerbruhe mit Wein zu kochen. Er schickte nach dem renommiertesten Arzt im Quartier, einem gewissen Procope, der im voraus bezahlt werden musste, zwanzig Franc! damit er sich uberhaupt herbemuhte.
          Der Doktor kam, hob mit spitzen Fingern das Laken hoch, warf einen einzigen Blick auf Grenouilles Kurper, der wirklich aussah wie von hundert Kugeln zerschossen, und verließ das Zimmer, ohne seine Tasche, die der Assistent ihm stundig nachtrug, auch nur geuffnet zu haben. Der Fall, begann er zu Baldini, sei vullig klar. Es handle sich um eine syphilitische Spielart der schwarzen Blattern untermischt mit eiternden Masern in stadio ultimo. Eine Behandlung sei schon deshalb nicht vonnuten, da ein Schnepper zum Aderlass an dem sich zersetzenden Leib, der einer Leiche uhnlicher sei als einem lebenden Organismus, gar nicht mehr ordnungsgemuß angebracht werden kunne. Und obwohl der fur den Krankheitsverlauf charakteristische pestilenzartige Gestank noch nicht wahrzunehmen sei - was allerdings verwundere und vom streng wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen ein kleines Kuriosum darstelle -, kunne am Ableben des Patienten innerhalb der kommenden achtundvierzig Stunden nicht der geringste Zweifel herrschen, so wahr er Doktor Procope heiße. Worauf er sich abermals zwanzig Franc auszahlen ließ fur absolvierten Besuch und erstellte Prognose - funf Franc davon ruckzahlbar fur den Fall, dass man ihm den Kadaver mit der klassischen Symptomatik zu Demonstrationszwecken uberließ - und sich empfahl. Baldini war außer sich. Er klagte und schrie vor Verzweiflung. Er biss sich in die Finger vor Wut uber sein Schicksal. Wieder einmal wurden ihm die Plune fur den ganz, ganz großen Erfolg kurz vor dem Ziel vermasselt. Seinerzeit, da waren's Pelissier und seine Spießgesellen mit ihrem Erfindungsreichtum gewesen. Jetzt war's dieser Junge mit seinem unerschupflichen Fundus an neuen Geruchen, dieser mit Gold gar nicht aufzuwiegende kleine Dreckskerl, der ausgerechnet jetzt, in der geschuftlichen Aufbauphase, die syphilitischen Blattern bekommen musste und die eitrigen Masern in stadio ultimo! Ausgerechnet jetzt! Warum nicht in zwei Jahren? Warum nicht in einem? Bis dahin hutte man ihn ausplundern kunnen wie eine Silbermine, wie einen Goldesel. In einem Jahr hutte er getrost sterben durfen. Aber nein! Er starb jetzt, Herrgottsakrament, binnen achtundvierzig Stunden!
          Fur einen kurzen Moment erwog Baldini den Gedanken, nach Notre-Dame hinuberzupilgern, eine Kerze anzuzunden und von der Heiligen Mutter Gottes Genesung fur Grenouille herbeizuflehen. Aber dann ließ er den Gedanken fallen, denn die Zeit drungte zu sehr. Er lief um Tinte und Papier und verscheuchte seine Frau aus dem Zimmer des Kranken. Er wolle selbst die Wache halten. Dann ließ er sich auf einem Stuhl neben dem Bett nieder, die Notizblutter auf den Knien, die tintenfeuchte Feder in der Hand, und versuchte, Grenouille eine parfumistische Beichte abzunehmen. Er muge doch um Gottes willen die Schutze, die er in seinem Innern trage, nicht sang- und klanglos mit sich nehmen! Er muge doch jetzt in seinen letzten Stunden ein Testament zu treuen Hunden hinterlassen, damit der Nachwelt nicht die besten Dufte aller Zeiten vorenthalten blieben! Er, Baldini, werde dieses Testament, diesen Formelkanon der sublimsten aller je gerochnen Dufte, treu verwalten und zum Bluhen bringen. Er werde unsterblichen Ruhm an Grenouilles Namen heften, ja, er werde - und hiermit schwure er's bei allen Heiligen - den besten dieser Dufte dem Kunig selbst zu Fußen legen, in einem achatenen Flakon mit ziseliertem Gold und eingravierter Widmung >Von Jean-Baptiste Grenouille, Parfumeur in Paris<. - So sprach, oder besser: so flusterte Baldini in Grenouilles Ohr, beschwurend, flehentlich, schmeichelnd und unausgesetzt.
          Aber es war alles umsonst. Grenouille gab nichts von sich als wussriges Sekret und blutigen Eiter. Stumm lag er im Damast und entuußerte sich dieser ekelhaften Sufte, nicht aber seiner Schutze, seines Wissens, nicht der geringsten Formel eines Dufts. Baldini hutte ihn erwurgen mugen, erschlagen hutte er ihn mugen, herausgeprugelt aus dem moribunden Kurper hutte er am liebsten die kostbaren Geheimnisse, wenn's Aussicht auf Erfolg gehabt... und wenn es seiner Auffassung von christlicher Nuchstenliebe nicht so eklatant widersprochen hutte.
          Und so suuselte und flutete er denn weiter in den sußesten Tunen und umhutschelte den Kranken und tupfte ihm mit kuhlen Tuchern - wiewohl es ihn grauenhafte uberwindung kostete - die schweißnasse Stirn und die gluhenden Vulkane der Wunden, und luffelte ihm Wein in den Mund, um seine Zunge zum Sprechen zu bringen, die ganze Nacht hindurch - vergebens. Im Morgengrauen gab er es auf. Er fiel erschupft in einen Sessel am anderen Ende des Zimmers und starrte, nicht einmal mehr wutend, sondern nur noch stiller Resignation ergeben, auf den kleinen sterbenden Kurper Grenouilles druben im Bett, den er weder retten noch berauben konnte, aus dem er nichts mehr fur sich bergen konnte, dessen Untergang er nur noch tatenlos mitansehen musste wie ein Kapitun den Untergang des Schiffs, das seinen ganzen Reichtum mit in die Tiefe reißt.
          Da uffneten sich mit einem Mal die Lippen des Todkranken, und mit einer Stimme, die in ihrer Klarheit und Festigkeit von bevorstehendem Untergang wenig ahnen ließ, sprach er: "Sagen Sie, Maitre: Gibt es noch andre Mittel als das Pressen oder Destillieren, um aus einem Kurper Duft zu gewinnen?"
          Baldini, der glaubte, dass die Stimme seiner Einbildung oder dem Jenseits entsprungen war, antwortete mechanisch: "Ja, die gibt es."
          "Welche?" fragte es vom Bett her, und Baldini riss die muden Augen auf. Regungslos lag Grenouille in den Kissen. Hatte die Leiche gesprochen? "Welche?" fragte es wieder, und diesmal erkannte Baldini die Bewegung auf Grenouilles Lippen. "Jetzt ist es aus", dachte er, "jetzt geht's dahin, das ist der Fieberwahn oder die Todesagonie." Und er stand auf, ging zum Bett hinuber und beugte sich uber den Kranken. Der hatte die Augen geuffnet und sah Baldini mit dem gleichen seltsam lauernden Blick an, mit dem er ihn bei der ersten Begegnung fixiert hatte.
          "Welche?" fragte er.
          Da gab Baldini seinem Herzen einen Stoß - er wollte einem Sterbenden den letzten Willen nicht versagen - und antwortete: "Es gibt deren drei, mein Sohn: Die enfleurage u chaud, die enfleurage u froid und die enfleurage u l'huile. Sie sind dem Destillieren in vieler Hinsicht uberlegen, und man bedient sich ihrer zur Gewinnung der feinsten aller Dufte: des Jasmins, der Rose und der Orangenblute."
          "Wo?" fragte Grenouille.
          "Im Suden", antwortete Baldini. "Vor allem in der Stadt Grasse."
          "Gut", sagte Grenouille.
          Und damit schloss er die Augen. Baldini richtete sich langsam auf. Er war sehr deprimiert. Er suchte seine Notizblutter zusammen, auf die er keine einzige Zeile geschrieben hatte, und blies die Kerze aus. Draußen tagte es schon. Er war hundemude. Man hutte einen Priester kommen lassen sollen, dachte er. Dann machte er mit der Rechten ein fluchtiges Zeichen des Kreuzes und ging hinaus.Grenouille aber war alles andere als tot. Er schlief nur sehr fest und truumte tief und zog seine Sufte in sich zuruck. Schon begannen die Bluschen auf seiner Haut zu verdorren, die Eiterkrater zu versiegen, schon begannen sich seine Wunden zu schließen. Im Verlauf einer Woche war er genesen.

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          Am liebsten wure er gleich weggegangen nach Suden, dorthin, wo man die neuen Techniken lernen konnte, von denen ihm der Alte gesprochen hatte. Aber daran war naturlich gar nicht zu denken. Er war ja nur ein Lehrling, das heißt ein Nichts. Strenggenommen, so erklurte ihm Baldini - nachdem er seine anfungliche Freude uber Grenouilles Wiederauferstehung uberwunden hatte -, strenggenommen war er noch weniger als ein Nichts, denn zum ordentlichen Lehrling gehurten tadellose, numlich eheliche Abkunft, standesgemuße Verwandtschaft und ein Lehrvertrag, was er alles nicht besitze. Wenn er, Baldini, ihm dennoch eines Tages zum Gesellenbrief verhelfen wolle, so nur in Anbetracht von Grenouilles nicht alltuglicher Begabung, eines tadellosen kunftigen Verhaltens und wegen seiner, Baldinis, unendlichen Gutherzigkeit, die er, auch wenn sie ihm oft zum Schaden gereicht habe, niemals verleugnen kunne.
          Es hatte freilich mit der Einlusung dieses Versprechens der Gutmutigkeit gute Weile, numlich knappe drei Jahre. In dieser Zeit erfullte sich Baldini mit Grenouilles Hilfe seine hochfliegenden Truume. Er grundete die Manufaktur im Faubourg Saint-Antoine, setzte sich mit seinen exklusiven Parfums bei Hofe durch, bekam kunigliches Privileg. Seine feinen Duftprodukte wurden bis nach Petersburg verkauft, bis nach Palermo, bis nach Kopenhagen. Eine moschusschwangere Note war sogar in Konstantinopel begehrt, wo man doch weiß Gott genug eigene Dufte besaß. In den feinen Kontoren der Londoner City duftete es ebenso nach Baldinis Parfums wie am Hofe von Parma, im Warschauer Schloss nicht anders als im Schlusschen des Grafen von und zur Lippe-Detmold. Baldini war, nachdem er sich bereits damit abgefunden hatte, sein Alter in bitterer Armut bei Messina zu verbringen, mit siebzig Jahren zum unumstritten grußten Parfumeur Europas aufgestiegen und zu einem der reichsten Burger von Paris.
          Anfang des Jahres 1756 - er hatte sich unterdessen das Nebenhaus auf dem Pont au Change zugelegt, ausschließlich zum Wohnen, denn das alte Haus war nun buchstublich bis unters Dach mit Duftstoffen und Spezereien vollgestopft - eruffnete er Grenouille, dass er nun gewillt sei, ihn freizusprechen, allerdings nur unter drei Bedingungen: Erstens durfe er sumtliche unter Baldinis Dach entstandenen Parfums kunftig weder selbst herstellen noch ihre Formel an Dritte weitergeben; zweitens musse er Paris verlassen und durfe es zu Baldinis Lebzeiten nicht wieder betreten; und drittens habe er uber die beiden ersten Bedingungen absolutes Stillschweigen zu bewahren. Dies alles solle er beschwuren bei sumtlichen Heiligen, bei der armen Seele seiner Mutter und bei seiner eigenen Ehre.
          Grenouille, der weder eine Ehre hatte noch an Heilige oder gar an die arme Seele seiner Mutter glaubte, schwor. Er hutte alles geschworen. Er hutte jede Bedingung Baldinis akzeptiert, denn er wollte diesen lucherlichen Gesellenbrief haben, der es ihm ermuglichte, unauffullig zu leben und unbehelligt zu reisen und Anstellung zu finden. Das andere war ihm gleichgultig. Was waren das auch schon fur Bedingungen! Paris nicht mehr betreten? Wozu brauchte er Paris! Er kannte es ja bis in den letzten stinkenden Winkel, er fuhrte es mit sich, wohin immer er ging, er besaß Paris, seit Jahren. - Keinen von Baldinis Erfolgsduften herstellen, keine Formeln weitergeben? Als ob er nicht tausend andere erfinden kunnte, ebenso gute und bessere, wenn er nur wollte! Aber er wollte ja gar nicht. Er hatte ja gar nicht vor, in Konkurrenz zu Baldini oder zu irgendeinem anderen der burgerlichen Parfumeure zu treten. Er war nicht darauf aus, mit seiner Kunst das große Geld zu machen, nicht einmal leben wollte er von ihr, wenn's anders muglich war zu leben. Er wollte seines Innern sich entuußern, nichts anderes, seines Innern, das er fur wunderbarer hielt als alles, was die uußere Welt zu bieten hatte. Und deshalb waren Baldinis Bedingungen fur Grenouille keine Bedingungen.
          Im Fruhjahr zog er los, an einem Tag im Mai, fruhmorgens. Er hatte von Baldini einen kleinen Rucksack bekommen, ein zweites Hemd, zwei Paar Strumpfe, eine große Wurst, eine Pferdedecke und funfundzwanzig Franc. Das sei weit mehr, als er zu geben verpflichtet sei, sagte Baldini, zumal Grenouille fur die profunde Ausbildung, die er genossen, keinen Sol Lehrgeld bezahlt habe. Verpflichtet sei er zu zwei Franc Weggeld, zu sonst gar nichts. Aber er kunne eben seine Gutmutigkeit so wenig verleugnen wie die tiefe Sympathie, die sich im Lauf der Jahre in seinem Herzen fur den guten Jean-Baptiste angesammelt habe. Er wunsche ihm viel Gluck auf seiner Wanderschaft und ermahne ihn noch einmal eindringlich, seines Schwurs nicht zu vergessen. Damit brachte er ihn an die Tur des Dienstboteneingangs, wo er ihn einst empfangen hatte, und entließ ihn.
          Die Hand gab er ihm nicht, so weit war es mit der Sympathie auch wieder nicht her. Er hatte ihm noch nie die Hand gegeben. Er hatte uberhaupt immer vermieden, ihn zu beruhren, aus einer Art frommem Ekel, so, als bestunde die Gefahr, dass er sich anstecke an ihm, sich besudele. Er sagte nur kurz adieu. Und Grenouille nickte und duckte sich weg und ging davon. Die Straße war menschenleer.

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    22


          Baldini schaute ihm nach, wie er die Brucke hinunterhatschte, zur Insel hinuber, klein, gebuckt, den Rucksack wie einen Buckel tragend, von hinten aussehend wie ein alter Mann. Druben am Parlamentspalast, wo die Gasse eine Biegung machte, verlor er ihn aus den Augen und war außerordentlich erleichtert.
          Er hatte den Kerl nie gemocht, nie, jetzt konnte er es sich endlich eingestehen. Die ganze Zeit, die er ihn unter seinem Dach beherbergt und ausgeplundert hatte, war ihm nicht wohl gewesen. Ihm war zumute gewesen wie einem unbescholtenen Menschen, der zum ersten Mal etwas Verbotenes tut, ein Spiel mit unerlaubten Mitteln spielt. Gewiss, das Risiko, dass man ihm auf die Schliche kam, war klein und die Aussicht auf den Erfolg war riesengroß gewesen; aber ebenso groß waren auch Nervositut und schlechtes Gewissen. Tatsuchlich war in all den Jahren kein Tag vergangen, an dem er nicht von der unangenehmen Vorstellung verfolgt gewesen wure, er musse auf irgendeine Weise dafur bezahlen, dass er sich mit diesem Menschen eingelassen hatte. Wenn's nur gutgeht! so hatte er sich immer wieder ungstlich vorgebetet, wenn's mir nur gelingt, dass ich den Erfolg dieses gewagten Abenteuers einheimse, ohne die Zeche dafur zu bezahlen! Wenn's mir nur gelingt! Es ist zwar nicht recht, was ich tue, aber Gott wird ein Auge zudrucken, bestimmt wird Er es tun! Er hat mich im Verlaufe meines Lebens oftmals hart genug gestraft, ohne jeden Anlass, also wure es nur gerecht, wenn Er sich dies mal konziliant verhielte. Worin besteht denn mein Vergehen schon, wenn es uberhaupt eines ist? Huchstens darin, dass ich mich ein wenig außerhalb der Zunftordnung bewege, indem ich die wunderbare Begabung eines Ungelernten exploitiere und seine Fuhigkeit als meine eigne ausgebe. Huchstens darin, dass ich um ein Kleines vom traditionellen Pfad der handwerklichen Tugend abgewichen bin. Huchstens darin, dass ich heute tue, was ich gestern noch verdammt habe. Ist das ein Verbrechen? Andere betrugen ihr Leben lang. Ich habe nur ein paar Jahre ein bisschen geschummelt. Und auch nur, weil mir der Zufall die einmalige Gelegenheit dazu gegeben hat. Vielleicht war es nicht einmal der Zufall, vielleicht war es Gott selbst, der mir den Zauberer ins Haus geschickt hat, zur Wiedergutmachung fur die Zeit der Erniedrigung durch Pelissier und seine Spießgesellen. Vielleicht richtet sich die guttliche Fugung uberhaupt nicht auf mich, sondern gegen Pelissier! Das kunnte sehr wohl muglich sein! Wie anders numlich wure Gott imstande, Pelissier zu strafen, als dadurch, dass er mich erhuhte? Mein Gluck wure infolgedessen das Mittel guttlicher Gerechtigkeit, und als solches durfte ich nicht nur, ich musste es akzeptieren, ohne Scham und ohne die geringste Reue...
          So hatte Baldini in den vergangenen Jahren oft gedacht, morgens, wenn er die schmale Treppe in den Laden hinunterstieg, abends, wenn er mit dem Inhalt der Kasse heraufkam und die schweren Gold- und Silbermunzen in seinen Geldschrank zuhlte, und nachts, wenn er neben dem schnarchenden Gerippe seiner Frau lag und aus lauter Angst vor seinem Gluck nicht schlafen konnte.
          Aber jetzt, endlich, war es vorbei mit den sinistren Gedanken. Der unheimliche Gast war fort und wurde nie mehr wiederkehren. Der Reichtum aber blieb und war fur alle Zukunft sicher. Baldini legte die Hand auf seine Brust und spurte durch den Stoff des Rocks das Buchlein uber seinem Herzen. Sechshundert Formeln waren darin aufgezeichnet, mehr als ganze Generationen von Parfumeuren jemals wurden realisieren kunnen. Wenn er heute alles verlure, so kunnte er allein mit diesem wunderbaren Buchlein binnen Jahresfrist abermals ein reicher Mann sein. Wahrlich, was konnte er mehr verlangen!
          Die Morgensonne fiel uber die Giebel der gegenuberliegenden Huuser gelb und warm auf sein Gesicht. Immer noch schaute Baldini nach Suden die Straße hinunter in Richtung Parlamentspalastes war einfach zu angenehm, dass von Grenouille nichts mehr zu sehen war! - und beschloss, aus einem uberbordenden Gefuhl von Dankbarkeit noch heute nach Notre-Dame hinuberzupilgern, ein Goldstuck in den Opferstock zu werfen, drei Kerzen anzuzunden und seinem Herrn auf den Knien zu danken, dass Er ihn mit so viel Gluck uberhuuft und vor Rache verschont hatte.
          Aber dummerweise kam ihm dann wieder etwas dazwischen, denn am Nachmittag, als er sich gerade auf den Weg in die Kirche machen wollte, wurde das Gerucht laut, die Englunder hutten Frankreich den Krieg erklurt. Das war zwar an und fur sich nichts Beunruhigendes. Da Baldini aber just dieser Tage eine Sendung mit Parfums nach London expedieren wollte, verschob er den Besuch in Notre-Dame und ging stattdessen in die Stadt, um Erkundigungen einzuholen, und anschließend in seine Manufaktur im Faubourg Saint-Antoine, um die Sendung nach London furs erste zu stornieren. Nachts im Bett, kurz vor dem Einschlafen, hatte er dann eine geniale Idee: Er wollte in Anbetracht der bevorstehenden kriegerischen Auseinandersetzungen um die Kolonien in der Neuen Welt ein Parfum lancieren unter dem Namen >Prestige du Quebecs einen harzigheroischen Duft, dessen Erfolg - das stand fest - ihn fur den Wegfall des Englandgeschufts mehr als entschudigen wurde. Mit diesem sußen Gedanken in seinem dummen alten Kopf, den er erleichtert auf das Kissen bettete, unter welchem sich der Druck des Formelbuchleins angenehm spurbar machte, entschlief Maitre Baldini und wachte in seinem Leben nicht mehr auf.
          In der Nacht numlich geschah eine kleine Katastrophe, welche, mit gebuhrender Verzugerung, den Anlass dazu gab, dass nach und nach sumtliche Huuser auf sumtlichen Brucken der Stadt Paris auf kuniglichen Befehl hin abgerissen werden mussten: Ohne erkennbare Ursache brach der Pont au Change auf seiner westlichen Seite zwischen dem dritten und vierten Pfeiler in sich zusammen. Zwei Huuser sturzten in den Fluss, so vollstundig und so plutzlich, dass keiner der Insassen gerettet werden konnte. Glucklicherweise handelte es sich nur um zwei Personen, numlich um Giuseppe Baldini und seine Frau Teresa. Die Bediensteten hatten sich, erlaubt oder unerlaubt, Ausgang genommen. Chenier, der erst in den fruhen Morgenstunden leicht angetrunken nach Hause kam - vielmehr nach Hause kommen wollte, denn das Haus war ja nicht mehr da -, erlitt einen nervusen Zusammenbruch. Er hatte sich dreißig Jahre lang der Hoffnung hingegeben, von Baldini, der keine Kinder und Verwandte hatte, im Testament als Erbe eingesetzt zu sein. Und nun, mit einem Schlag, war das gesamte Erbe weg, alles, Haus, Geschuft, Rohstoffe, Werkstatt, Baldini selbst - ja sogar das Testament, das vielleicht noch Aussicht auf das Eigentum an der Manufaktur gegeben hutte!
          Nichts wurde gefunden, die Leichen nicht, der Geldschrank nicht, die Buchlein mit den sechshundert Formeln nicht. Das einzige, was von Giuseppe Baldini, Europas grußtem Parfumeur, zuruckblieb, war ein sehr gemischter Duft von Moschus, Zimt, Essig, Lavendel und tausend anderen Stoffen, der noch mehrere Wochen lang den Lauf der Seine von Paris bis nach Le Havre uberschwebte.

    ZWEITER TEIL


    23


          Zu der Zeit, da das Haus Giuseppe Baldini sturzte, befand sich Grenouille auf der Straße nach Orleans. Er hatte den Dunstkreis der großen Stadt hinter sich gelassen, und mit jedem Schritt, den er sich weiter von ihr entfernte, wurde die Luft um ihn her klarer, reiner und sauberer. Sie dunnte sich gleichsam aus. Es hetzten sich nicht mehr Meter fur Meter Hunderte, Tausende verschiedener Geruche in rasendem Wechsel, sondern die wenigen, die es gab - der Geruch der sandigen Straße, der Wiesen, der Erde, der Pflanzen, des Wassers -, zogen in langen Bahnen uber das Land, langsam sich bluhend, langsam schwindend, kaum je abrupt unterbrochen.
          Grenouille empfand diese Simplizitut wie eine Erlusung. Die gemuchlichen Dufte schmeichelten seiner Nase. Zum ersten Mal in seinem Leben musste er nicht mit jedem Atemzug darauf gefasst sein, ein Neues, Unerwartetes, Feindliches zu wittern, oder ein Angenehmes zu verlieren. Zum ersten Mal konnte er fast frei atmen, ohne dabei immer lauernd riechen zu mussen. >Fast< sagen wir, denn wirklich frei strumte naturlich nichts durch Grenouilles Nase. Es blieb, auch wenn er nicht den kleinsten Anlass dazu hatte, immer eine instinktive Reserviertheit in ihm wach gegen alles, was von außen kam und in ihn eingelassen werden sollte. Sein Leben lang, selbst in den wenigen Momenten, in denen er Anklunge von so etwas wie Genugtuung, Zufriedenheit, ja vielleicht sogar Gluck erlebte, atmete er lieber aus als ein - wie er ja auch sein Leben nicht mit einem hoffnungsvollen Atemholen begonnen hatte, sondern mit einem murderischen Schrei. Aber von dieser Einschrunkung abgesehen, die bei ihm eine konstitutionelle Beschrunkung war, fuhlte sich Grenouille, je weiter er Paris hinter sich ließ, immer wohler, atmete er immer leichter, ging er immer beschwingteren Schritts und raffte sich sogar sporadisch zu einer geraden Kurperhaltung auf, so dass er von ferne betrachtet beinahe wie ein gewuhnlicher Handwerksbursche aussah, also wie ein ganz normaler Mensch.
          Am befreiendsten empfand er die Entfernung von den Menschen. In Paris lebten mehr Menschen auf engstem Raum als in irgendeiner anderen Stadt auf der Welt. Sechs-, siebenhunderttausend Menschen lebten in Paris. Auf den Straßen und Plutzen wimmelte es von ihnen, und die Huuser waren vollgepfropft mit ihnen vom Keller bis unter die Ducher. Es gab kaum einen Winkel in Paris, der nicht vor Menschen starrte, keinen Stein, kein Fleckchen Erde, das nicht nach Menschlichem roch.
          Dass es dieser geballte Menschenbrodem war, der ihn achtzehn Jahre lang wie gewitterschwule Luft bedruckt hatte, das wurde Grenouille erst jetzt klar, da er sich ihm zu entziehen begann. Bisher hatte er immer geglaubt, es sei die Welt im allgemeinen, von der er sich wegkrummen musse. Es war aber nicht die Welt, es waren die Menschen. Mit der Welt, so schien es, der menschenleeren Welt, ließ sich leben.
          Am dritten Tag seiner Reise geriet er ins olfaktorische Gravitationsfeld von Orleans. Lange noch bevor irgendein sichtbares Zeichen auf die Nuhe der Stadt hindeutete, gewahrte Grenouillle die Verdichtung des Menschlichen in der Luft und entschloss sich, entgegen seiner ursprunglichen Absicht, Orleans zu meiden. Er wollte sich die frischgewonnene Atemfreiheit nicht schon so bald wieder vom stickigen Menschenklima verderben lassen. Er machte einen großen Bogen um die Stadt, stieß bei Chuteauneuf auf die Loire und uberquerte sie bei Sully. Bis dorthin reichte seine Wurst. Er kaufte sich eine neue und zog dann, den Flusslauf verlassend, landeinwurts.
          Er mied jetzt nicht mehr nur die Studte, er mied auch die Durfer. Er war wie berauscht von der sich immer sturker ausdunnenden, immer menschenferneren Luft. Nur um sich neu zu verproviantieren, nuherte er sich einer Siedlung oder einem alleinstehenden Gehuft, kaufte Brot und verschwand wieder in den Wuldern. Nach einigen Wochen wurden ihm selbst die Begegnungen mit den wenigen Reisenden auf den abgelegenen Wegen zu viel, ertrug er nicht mehr den punktuell auftretenden Geruch der Bauern, die auf den Wiesen das erste Gras muhten. ungstlich wich er jeder Schafherde aus, nicht der Schafe wegen, sondern um den Geruch der Hirten zu umgehen. Er schlug sich querfeldein, nahm meilenweite Umwege in Kauf, wenn er eine noch Stunden entfernte Schwadron Reiter auf sich zukommen roch. Nicht weil er, wie andere Handwerksburschen und Herumtreiber, furchtete, kontrolliert und nach Papieren gefragt und womuglich zum Kriegsdienst verpflichtet zu werden - er wusste nicht einmal, dass Krieg war -, sondern einzig und allein, weil ihn vor dem Menschengeruch der Reiter ekelte. Und so kam es ganz von alleine und ohne besonderen Entschluss, dass sein Plan, auf schnellstem Wege nach Grasse zu gehen, allmuhlich verblasste; der Plan luste sich sozusagen in der Freiheit auf, wie alle anderen Plune und Absichten. Grenouille wollte nicht mehr irgendwohin, sondern nur noch weg, weg von den Menschen.
          Schließlich wanderte er nur noch nachts. Tagsuber verkroch er sich ins Unterholz, schlief unter Buschen, im Gestrupp, an muglichst unzugunglichen Orten, zusammengerollt wie ein Tier, die erdbraune Pferdedecke uber Kurper und Kopf gezogen, die Nase in die Ellbogenbeuge verkeilt und abwurts zur Erde gerichtet, damit auch nicht der kleinste fremde Geruch seine Truume sturte. Bei Sonnenuntergang erwachte er, witterte nach allen Himmelsrichtungen, und erst, wenn er sicher gerochen hatte, dass auch der letzte Bauer sein Feld verlassen und auch der wagemutigste Wanderer vor der hereinbrechenden Dunkelheit eine Unterkunft aufgesucht hatten, erst wenn die Nacht mit ihren vermeintlichen Gefahren das Land von Menschen reingefegt hatte, kam Grenouille aus seinem Versteck hervorgekrochen und setzte seine Reise fort. Er brauchte kein Licht, um zu sehen. Schon fruher, als er noch tagsuber gewandert war, hatte er oft stundenlang die Augen geschlossen gehalten und war nur der Nase nach gegangen. Das grelle Bild der Landschaft, das Blendende, die Plutzlichkeit und die Schurfe des Sehens mit den Augen schmerzten ihn. Allein das Mondlicht ließ er sich gefallen. Das Mondlicht kannte keine Farben und zeichnete nur schwach die Konturen des Gelundes. Es uberzog das Land mit schmutzigem Grau und erdrosselte fur eine Nacht lang das Leben. Diese wie in Blei gegossene Welt, in der sich nichts regte als der Wind, der manchmal wie ein Schattenuber die grauen Wulder fiel, und in der nichts lebte als die Dufte der nackten Erde, war die einzige Welt, die er gelten ließ, denn sie uhnelte der Welt seiner Seele.
          So zog er in sudliche Richtung. Ungefuhr in sudliche Richtung, denn er folgte keinem magnetischen Kompass, sondern nur dem Kompass seiner Nase, der ihn jede Stadt, jedes Dorf, jede Siedlung umgehen ließ. Wochenlang traf er keinen Menschen. Und er hutte sich im beruhigenden Glauben wiegen kunnen, er sei allein auf der dunklen oder vom kalten Mondlicht beschienenen Welt, wenn nicht der feine Kompass ihn eines Besseren belehrt hutte.
          Auch nachts gab es Menschen. Auch in den entlegensten Gebieten gab es Menschen. Sie hatten sich nur in ihre Schlupfwinkel zuruckgezogen wie die Ratten und schliefen. Die Erde war nicht rein von ihnen, denn selbst im Schlaf dunsteten sie ihren Geruch aus, der durch die offenen Fenster und durch die Ritzen ihrer Behausungen hinaus ins Freie drungte und die sich scheinbar selbst uberlassene Natur verpestete. Je mehr sich Grenouille an die reinere Luft gewuhnt hatte, desto empfindlicher traf ihn so ein Menschengeruch, der plutzlich, vullig unerwartet, nuchtens daherflatterte, scheußlich wie Adelgestank, und die Anwesenheit irgendeiner Hirtenunterkunft oder einer Kuhlerkate oder einer Ruuberhuhle verriet. Und er fluchtete weiter, immer sensibler reagierend auf den immer seltener werdenden Geruch des Menschlichen. So fuhrte ihn seine Nase in immer abgelegenere Gegenden des Landes, entfernte ihn immer weiter von den Menschen und trieb ihn immer heftiger dem Magnetpol der grußtmuglichen Einsamkeit entgegen.

    24


          Dieser Pol, numlich der menschenfernste Punkt des ganzen Kunigreichs, befand sich im Zentralmassiv der Auvergne, etwa funf Tagesreisen sudlich von Clermont, auf dem Gipfel eines zweitausend Meter hohen Vulkansnamens Plomb du Cantal.
          Der Berg bestand aus einem riesigen Kegel bleigrauen Gesteins und war umgeben von einem endlosen, kargen, nur von grauem Moos und grauem Gestrupp bewachsenen Hochland, aus dem hier und da braune Felsspitzen wie verfaulte Zuhne aufragten und ein paar von Brunden verkohlte Buume. Selbst am helllichten Tage war diese Gegend von so trostloser Unwirtlichkeit, dass der urmste Schafhirte der ohnehin armen Provinz seine Tiere nicht hierher getrieben hutte. Und bei Nacht gar, im bleichen Licht des Mondes, schien sie in ihrer gottverlassenen ude nicht mehr von dieser Welt zu sein. Selbst der weithin gesuchte auvergnatische Bandit Lebrun hatte es vorgezogen, sich in die Cevennen durchzuschlagen und dort ergreifen und vierteilen zu lassen, als sich am Plomb du Cantal zu verstecken, wo ihn zwar sicher niemand gesucht und gefunden hutte, wo er aber ebenso sicher den ihm schlimmer erscheinenden Tod der lebenslangen Einsamkeit gestorben wure. In meilenweitem Umkreis des Berges lebten kein Mensch und kein ordentliches warmblutiges Tier, bloß ein paar Fledermuuse und ein paar Kufer und Nattern. Seit Jahrzehnten hatte niemand den Gipfel bestiegen.
          Grenouille erreichte den Berg in einer Augustnacht des Jahres 1756. Als der Morgen graute, stand er auf dem Gipfel. Er wusste noch nicht, dass seine Reise hier zu Ende war. Er dachte, dies sei nur eine Etappe auf dem Weg in immer noch reinere Lufte, und er drehte sich im Kreise und ließ den Blick seiner Nase uber das gewaltige Panorama des vulkanischen udlands streifen: nach Osten hin, wo die weite Hochebene von Saint-Flour und die Sumpfe des Flusses Riou lagen; nach Norden hin, in die Gegend, aus der er gekommen und wo er tagelang durch karstiges Gebirge gewandert war; nach Westen, von woher der leichte Morgenwind ihm nichts als den Geruch von Stein und hartem Gras entgegentrug; nach Suden schließlich, wo die Ausluufer des Plomb sich meilenweit hinzogen bis zu den dunklen Schluchten der Truyere. uberall, in jeder Himmelsrichtung, herrschte die gleiche Menschenferne, und zugleich hutte jeder Schritt in jede Richtung wieder grußere Menschennuhe bedeutet. Der Kompass kreiselte. Er gab keine Orientierung mehr an. Grenouille war am Ziel. Aber zugleich war er gefangen.
          Als die Sonne aufging, stand er immer noch am gleichen Fleck und hielt seine Nase in die Luft. Mit verzweifelter Anstrengung versuchte er, die Richtung zu erschnuppern, aus der das bedrohlich Menschliche kam, und die Gegenrichtung, in die er weiterfliehen musste. In jeder Richtung argwuhnte er, doch noch einen verborgenen Fetzen menschlichen Geruchs zu entdecken. Doch da war nichts. Da war nur Ruhe, wenn man so sagen kann, geruchliche Ruhe. Ringsum herrschte nur der wie ein leises Rauschen wehende, homogene Duft der toten Steine, der grauen Flechten und der durren Gruser, und sonst nichts.
          Grenouille brauchte sehr lange Zeit, um zu glauben, was er nicht roch. Er war auf sein Gluck nicht vorbereitet. Sein Misstrauen wehrte sich lange gegen die bessere Einsicht. Er nahm sogar, wuhrend die Sonne stieg, seine Augen zuhilfe und suchte den Horizont nach dem geringsten Zeichen menschlicher Gegenwart ab, nach dem Dach einer Hutte, dem Rauch eines Feuers, einem Zaun, einer Brucke, einer Herde. Er hielt die Hunde an die Ohren und lauschte, nach dem Dengeln einer Sense etwa oder dem Gebell eines Hundes oder dem Schrei eines Kindes. Den ganzen Tag uber verharrte er in der gluhendsten Hitze auf dem Gipfel des Plomb du Cantal und wartete vergeblich auf das kleinste Indiz. Erst als die Sonne unterging, wich sein Misstrauen allmuhlich einem immer sturker werdenden Gefuhl der Euphorie: Er war dem verhassten Odium entkommen! Er war tatsuchlich vollstundig allein! Er war der einzige Menschauf der Welt!
          Ein ungeheurer Jubel brach in ihm aus. So wie ein Schiffbruchiger nach wochenlanger Irrfahrt die erste von Menschen bewohnte Insel ekstatisch begrußt, feierte Grenouille seine Ankunft auf dem Berg der Einsamkeit. Er schrie vor Gluck. Rucksack, Decke, Stock warf er von sich und trampelte mit den Fußen auf den Boden, warf die Arme in die Huhe, tanzte im Kreis, brullte seinen eigenen Namen in alle vier Winde, ballte die Fuuste, schuttelte sie triumphierend gegen das ganze weite unter ihm liegende Land und gegen die sinkende Sonne, triumphierend, als hutte er sie persunlich vom Himmel verjagt. Er fuhrte sich auf wie ein Wahnsinniger, bis tief in die Nacht hinein.

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          Die nuchsten Tage verbrachte er damit, sich auf dem Berg einzurichten - denn das stand fur ihn fest, dass er diese begnadete Gegend so schnell nicht mehr verlassen wurde. Als erstes schnupperte er nach Wasser und fand es in einem Einbruch etwas unterhalb des Gipfels, wo es in einem dunnen Film am Fels entlangrann. Es war nicht viel, aber wenn er geduldig eine Stunde lang leckte, hatte er seinen Feuchtigkeitsbedarf fur einen Tag gestillt. Er fand auch Nahrung, numlich kleine Salamander und Ringelnattern, die er, nachdem er ihnen den Kopf abgeknipst hatte, mit Haut und Knochen verschlang. Dazu aß er trockene Flechten und Gras und Moosbeeren. Diese nach burgerlichen Maßstuben vullig undiskutable Ernuhrungsweise verdross ihn nicht im mindesten. Schon in den letzten Wochen und Monaten hatte er sich nicht mehr von menschlich gefertigter Nahrung wie Brot und Wurst und Kuse ernuhrt, sondern, wenn er Hunger verspurte, alles zusammengefressen, was ihm an irgendwie Essbarem in die Quere gekommen war. Er war nichts weniger als ein Gourmet. Er hatte es uberhaupt nicht mit dem Genuss, wenn der Genuss in etwas anderem als dem reinen kurperlosen Geruch bestand. Er hatte es auch nicht mit der Bequemlichkeit und wure zufrieden gewesen, sein Lager auf blankem Stein einzurichten. Aber er fand etwas Besseres.
          Nahe der Wasserstelle entdeckte er einen naturlichen Stollen, der in vielen engen Windungen in das Innere des Berges fuhrte, bis er nach etwa dreißig Metern an einer Verschuttung endete. Dort, am Ende des Stollens, war es so eng, dass Grenouilles Schultern das Gestein beruhrten, und so niedrig, dass er nur gebuckt stehen konnte. Aber er konnte sitzen, und wenn er sich krummte, konnte er sogar liegen. Das genugte seinem Bedurfnis nach Komfort vollkommen. Denn der Ort hatte unschutzbare Vorzuge: Am Ende des Tunnels herrschte selbst tagsuber stockfinstere Nacht, es war totenstill, und die Luft atmete eine feuchte, salzige Kuhle. Grenouille roch sofort, dassnoch kein lebendes Wesen diesen Platz je betreten hatte. Es uberfiel ihn beinahe ein Gefuhl von heiliger Scheu, als er ihn in Besitz nahm. Sorgsam breitete er seine Pferdedecke auf den Boden, als bedecke er einen Altar, und legte sich darauf. Er fuhlte sich himmlisch wohl. Er lag im einsamsten Berg Frankreichs funfzig Meter tief unter der Erde wie in seinem eigenen Grab. Noch nie im Leben hatte er sich so sicher gefuhlt - schon gar nicht im Bauch seiner Mutter. Es mochte draußen die Welt verbrennen, hier wurde er nichts davon merken. Er begann still zu weinen. Er wusste nicht, wem er danken sollte fur so viel Gluck. In der folgenden Zeit ging er nur noch ins Freie, um an der Wasserstelle zu lecken, sich rasch seines Urins und seiner Exkremente zu entledigen, und um Echsen und Schlangen zu jagen. Nachts waren sie leicht zu erwischen, denn sie hatten sich unter Steinplatten oder in kleine Huhlen zuruckgezogen, wo er sie mit seiner Nase aufspurte.
          Zum Gipfel hinauf stieg er wuhrend der ersten Wochen wohl noch ein paar Mal, um den Horizont abzuwittern. Bald aber war dies mehr eine lustige Gewohnheit als eine Notwendigkeit geworden, denn kein einziges Mal hatte er Bedrohliches gerochen. Und so stellte er schließlich die Exkursionen ein und war nur noch darauf bedacht, so schnell wie muglich in seine Gruft zuruckzukehren, wenn er die furs schiere uberleben allernutigsten Verrichtungen hinter sich gebracht hatte. Denn hier, in der Gruft, lebte er eigentlich. Das heißt, er saß weit uber zwanzig Stunden am Tag in vollkommener Dunkelheit und vollkommener Stille und vollkommener Bewegungslosigkeit auf seiner Pferdedecke am Ende des steinernen Ganges, hatte den Rucken gegen das Gerull gelehnt, die Schultern zwischen die Felsen geklemmt, und genugte sich selbst.
          Man weiß von Menschen, die die Einsamkeit suchen: Bußer, Gescheiterte, Heilige oder Propheten. Sie ziehen sich vorzugsweise in Wusten zuruck, wo sie von Heuschrecken und wildem Honig leben. Manche wohnen auch in Huhlen und Klausen auf abgelegenen Inseln oder hocken sich - etwas spektakulurer - in Kufige, die auf Stangen montiert sind und hoch in den Luften schweben. Sie tun das, um Gott nuher zu sein. Sie kasteien sich mit der Einsamkeit und tun Buße durch sie. Sie handeln im Glauben, ein gottgefulliges Leben zu fuhren. Oder sie warten monate- oder jahrelang darauf, dass ihnen in der Einsamkeit eine guttliche Mitteilung zukomme, die sie dann eiligst unter den Menschen verbreiten wollen.
          Nichts von alledem traf auf Grenouille zu. Er hatte mit Gott nicht das geringste im Sinn. Er bußte nicht und wartete auf keine huhere Eingebung. Nur zu seinem eigenen, einzigen Vergnugen hatte er sich zuruckgezogen, nur, um sich selbst nahe zu sein. Er badete in seiner eigenen, durch nichts mehr abgelenkten Existenz und fand das herrlich. Wie seine eigene Leiche lag er in der Felsengruft, kaum noch atmend, kaum dass sein Herz noch schlug - und lebte doch so intensiv und ausschweifend, wie nie ein Lebemann draußen in der Welt gelebt hat.

    26


          Schauplatz dieser Ausschweifungen war - wie kunnte es anders sein - sein inneres Imperium, in das er von Geburt an die Konturen aller Geruche eingegraben hatte, denen er jemals begegnet war. Um sich in Stimmung zu bringen, beschwor er zunuchst die fruhesten, die allerentlegensten: den feindlichen, dampfigen Dunst der Schlafstube von Madame Gaillard; das ledrig verdorrte Odeur ihrer Hunde; den essigsauren Atem des Pater Terrier; den hysterischen, heißen mutterlichen Schweiß der Amme Bussie; den Leichengestank des Cimetiere des Innocents; den Murdergeruch seiner Mutter. Und er schwelgte in Ekel und Hass, und es struubten sich seine Haare vor wohligem Entsetzen.
          Manchmal, wenn ihn dieser Aperitif der Abscheulichkeiten noch nicht genugend in Fahrt gebracht hatte, gestattete er sich auch einen kleinen geruchlichen Abstecher zu Grimal und kostete vom Gestank der rohen, fleischigen Huute und der Gerbbruhen, oder er imaginierte den versammelten Brodem von sechshunderttausend Parisern in der schwulen lastenden Hitze des Hochsommers.
          Und dann brach mit einem Mal - das war der Sinn der ubung - mit orgastischer Gewalt sein angestauter Hass hervor. Wie ein Gewitter zog er her uber diese Geruche, die es gewagt hatten, seine erlauchte Nase zu beleidigen. Wie Hagel auf ein Kornfeld drosch er auf sie ein, wie ein Orkan zerstuubte er das Geluder und ersuufte es in einer riesigen reinigenden Sintflut destillierten Wassers. So gerecht war sein Zorn. So groß war seine Rache. Ah! Welch sublimer Augenblick! Grenouille, der kleine Mensch, zitterte vor Erregung, sein Kurper krampfte sich in wollustigem Behagen und wulbte sich auf, so dass er fur einen Moment mit dem Scheitel an die Decke des Stollens stieß, um dann langsam zuruckzusinken und liegen zu bleiben, gelust und tief befriedigt. Er war wirklich zu angenehm, dieser eruptive Akt der Extinktion aller widerwurtigen Geruche, wirklich zu angenehm... Fast war ihm diese Nummer das liebste in der ganzen Szenenfolge seines inneren Welttheaters, denn sie vermittelte das wunderbare Gefuhl rechtschaffener Erschupfung, das nur den wirklich großen, heldenhaften Taten folgt.
          Er durfte nun eine Weile lang guten Gewissens ruhen. Er streckte sich aus; kurperlich, so gut es eben ging im engen steinernen Gelass. Innerlich jedoch, auf den reingefegten Matten seiner Seele , da streckte er sich bequem der vollen Lunge nach und duste dahin und ließ sich feine Dufte um die Nase spielen: ein wurziges Luftchen etwa, wie von Fruhlingswiesen hergetragen; einen lauen Maienwind, der durch die ersten grunen Buchenblutter weht; eine Brise vom Meer, herb wie gesalzene Mandeln. Es war sputer Nachmittag, als er sich erhob - sozusagen sputer Nachmittag, denn es gab naturlich keinen Nachmittag oder Vormittag oder Abend oder Morgen, es gab kein Licht und keine Finsternis, es gab auch keine Fruhlingswiesen und keine grunen Buchenblutter... es gab uberhaupt keine Dinge in Grenouilles innerem Universum, sondern nur die Dufte von Dingen. (Darum ist es eine fauon de parler, von diesem Universum als einer Landschaft zu sprechen, eine aduquate freilich und die einzig mugliche, denn unsere Sprache taugt nicht zur Beschreibung der riechbaren Welt.) - Es war also sputer Nachmittag, will sagen ein Zustand und Zeitpunkt in Grenouilles Seele, wie er im Suden am Ende der Siesta herrscht, wenn die mittugliche Luhmung langsam abfullt von der Landschaft und das zuruckgehaltne Leben wieder beginnen will. Die wutentbrannte Hitze - Feindin der sublimen Dufte - war verflogen, das Dumonenpack vernichtet. Die inneren Gefilde lagen blank und weich in der lasziven Ruhe des Erwachens und warteten, dass der Wille ihres Herrn uber sie kume.
          Und Grenouille erhob sich - wie gesagt - und schuttelte den Schlaf aus seinen Gliedern. Er stand auf, der große innere Grenouille, wie ein Riese stellte er sich hin, in seiner ganzen Pracht und Gruße, herrlich war er anzuschauen - fast schade, dass ihn keiner sah! -, und blickte in die Runde, stolz und hoheitsvoll:
          Ja! Dies war sein Reich! Das einzigartige Grenouillereich! Von ihm, dem einzigartigen Grenouille erschaffen und beherrscht, von ihm verwustet, wann es ihm gefiel, und wieder aufgerichtet, von ihm ins Unermessliche erweitert und mit dem Flammenschwert verteidigt gegen jeden Eindringling. Hier galt nichts als sein Wille, der Wille des großen, herrlichen, einzigartigen Grenouille. Und nachdem die ublen Gestunke der Vergangenheit hinweggetilgt waren, wollte er nun, dass es dufte in seinem Reich. Und er ging mit muchtigen Schritten uber die brachen Fluren und sute Duft der verschiedensten Sorten, verschwenderisch hier, sparsam dort, in endlos weiten Plantagen und kleinen intimen Rabatten, den Samen faustweise verschleudernd oder einzeln an eigens ausgewuhlten Plutzen versenkend. Bis in die entlegensten Regionen seines Reiches eilte der Große Grenouille, der rasende Gurtner, und bald war kein Winkel mehr, in den er kein Duftkorn geworfen hutte.
          Und als er sah, dass es gut war und dass das ganze Land von seinem guttlichen Grenouillesamen durchtrunkt war, da ließ der Große Grenouille einen Weingeistregen herniedergehen, sanft und stetig, und es begann alluberall zu keimen und zu sprießen, und die Saat trieb aus, dass es das Herz erfreute. Schon wogte es uppig auf den Plantagen, und in den verborgenen Gurten standen die Stengel im Saft. Die Knospen der Bluten platzten schier aus ihrer Hulle. Da gebot der Große Grenouille Einhalt dem Regen. Und es geschah. Und er schickte die milde Sonne seines Luchelns uber das Land, worauf sich mit einem Schlag die millionenfache Pracht der Bluten erschloss, von einem Ende des Reichs bis zum anderen, zu einem einzigen bunten Teppich, geknupft aus Myriaden von kustlichen Duftbehultern. Und der Große Grenouille sah, dass es gut war, sehr, sehr gut. Und er blies den Wind seines Odems uber das Land. Und die Bluten, liebkost, verstrumten Duft und vermischten ihre Myriaden Dufte zu einem stundig changierenden und doch in stundigem Wechsel vereinten universalen Huldigungsduft an Ihn, den Großen, den Einzigen, den Herrlichen Grenouille, und dieser, auf einer goldduftenden Wolke thronend, sog den Odem schnuppernd wieder ein, und der Geruch des Opfers war ihm angenehm. Und er ließ sich herab, seine Schupfung mehrmals zu segnen, was ihm von dieser mit Jauchzen und Jubilieren und abermaligen herrlichen Duftausstußen gedankt wurde. Unterdessen war es Abend geworden, und die Dufte verstrumten sich weiter und mischten sich in der Bluue der Nacht zu immer phantastischeren Noten. Es stand eine wahre Ballnacht der Dufte bevor mit einem gigantischen Brillantduftfeuerwerk.
          Der Große Grenouille aber war etwas mude geworden und guhnte und sprach: "Siehe, ich habe ein großes Werk getan, und es gefullt mir sehr gut. Aber wie alles Vollendete beginnt es mich zu langweilen. Ich will mich zuruckziehen und mir zum Abschluss dieses arbeitsreichen Tages in den Kammern meines Herzens noch eine kleine Begluckung gunnen." Also sprach der Große Grenouille und segelte, wuhrend das einfache Duftvolk unter ihm freudig tanzte und feierte, mit weitausgespannten Flugeln von der goldenen Wolke herab uber das nuchtliche Land seiner Seele nach Haus in sein Herz.

    27


          Ach, es war angenehm, heimzukehren! Das Doppelamt des Ruchers und Weltenerzeugers strengte nicht schlecht an, und sich danach von der eigenen Brut stundenlang feiern zu lassen, war auch nicht die reinste Erholung. Der guttlichen Schupfungs- und Reprusentationsverpflichtungen mude, sehnte sich der Große Grenouille nach huuslichen Freuden.
          Sein Herz war ein purpurnes Schloss. Es lag in einer steinernen Wuste, getarnt hinter Dunen, umgeben von einer Oase aus Sumpf und hinter sieben steinernen Mauern. Es war nur im Flug zu erreichen. Es besaß tausend Kammern und tausend Keller und tausend feine Salons, darunter einen mit einem einfachen purpurnen Kanapee, auf welchem Grenouille, der nun nicht mehr der Große Grenouille war, sondern Grenouille ganz privat oder einfach der liebe Jean-Baptiste, sich von der Muhsal des Tages auszuruhen pflegte.
          In den Kammern des Schlosses aber standen Regale vom Boden bis hinauf an die Decke, und darin befanden sich alle Geruche, die Grenouille im Laufe seines Lebens gesammelt hatte, mehrere Millionen. Und in den Kellern des Schlosses, da ruhten in Fussern die besten Dufte seines Lebens. Sie wurden, wenn sie gereift waren, auf Flaschen gezogen und lagen dann in kilometerlangen feuchtkuhlen Gungen, geordnet nach Jahrgang und Herkunft, und es waren ihrer so viele, dass ein Leben nicht reichte, sie alle zu trinken.
          Und als der liebe Jean-Baptiste, endlich heimgekehrt in sein chez soi, im purpurnen Salon auf seinem simplen anheimelnden Sofa lag - die Stiefel, wenn man so will, endlich ausgezogen hatte -, klatschte er in die Hunde und rief seine Diener herbei, die unsichtbar, unfuhlbar, unhurbar und vor allem unriechbar, also vollstundig imaginure Diener waren, und befahl ihnen, in die Kammern zu gehen und aus der großen Bibliothek der Geruche diesen oder jenen Band zu besorgen und in den Keller zu steigen und ihm zu trinken zu holen. Es eilten die imaginuren Diener, und in peinigender Erwartung krampfte sich Grenouilles Magen zusammen. Es war ihm plutzlich zumute wie einem Trinker, den am Tresen die Angst befullt, man kunnte ihm aus irgendeinem Grund das bestellte Glas Schnaps verweigern. Was, wenn die Keller und Kammern mit einem Mal leer, was, wenn der Wein in den Fussern verdorben war? Warum ließ man ihn warten? Warum kam man nicht? Er brauchte das Zeug sofort, er brauchte es dringend, er war suchtig danach, er wurde auf dem Fleck sterben, wenn er es nicht bekume.
          Aber ruhig, Jean-Baptiste! Ruhig, Lieber! Man kommt ja, man bringt, was du begehrst. Schon fliegen die Diener herbei. Sie tragen auf unsichtbarem Tablett das Buch der Geruche, sie tragen in weißbehandschuhten unsichtbaren Hunden die kostbaren Flaschen, sie setzen sie ab, ganz behutsam, sie verneigen sich, und sie verschwinden.
          Und alleine gelassen, endlich - mal wieder! - allein, greift Jean-Baptiste nach den ersehnten Geruchen, uffnet die erste Flasche, schenkt sich ein Glas voll bis zum Rand, fuhrt es an die Lippen und trinkt. Trinkt das Glas kuhlen Geruchs in einem Zug leer, und es ist kustlich! Es ist so erlusend gut, dass dem lieben Jean-Baptiste vor Wonne das Wasser in die Augen schießt und er sich sofort das zweite Glas dieses Dufts einschenkt: eines Dufts aus dem Jahr 1752, aufgeschnappt im Fruhjahr, vor Sonnenaufgang auf dem Pont Royal, mit nach Westen gerichteter Nase, woher ein leichter Wind kam, in dem sich Meergeruch, Waldgeruch und ein wenig vom teerigen Geruch der Kuhne mischten, die am Ufer lagen. Es war der Duft der ersten zu Ende gehenden Nacht, die er, ohne Grimals Erlaubnis, in Paris herumstreunend verbracht hatte. Es war der frische Geruch des sich nuhernden Tages, des ersten Tagesanbruchs, den er in Freiheit erlebte. Dieser Geruch hatte ihm damals die Freiheit verheißen. Er hatte ihm ein anderes Leben verheißen. Der Geruch jenes Morgens war fur Grenouille ein Hoffnungsgeruch. Er verwahrte ihn sorgsam. Und er trank tuglich davon.
          Nachdem er das zweite Glas geleert hatte, fiel alle Nervositut, fielen Zweifel und Unsicherheit von ihm ab, und es erfullte ihn eine herrliche Ruhe. Er presste seinen Rucken gegen die weichen Kissen des Kanapees, schlug ein Buch auf und begann, in seinen Erinnerungen zu lesen. Er las von den Geruchen seiner Kindheit, von den Schulgeruchen, von den Geruchen der Straßen und Winkel der Stadt, von Menschengeruchen. Und angenehme Schauer durchrieselten ihn, denn es waren durchaus die verhassten Geruche, die exterminierten, die da beschworen wurden. Mit angewidertem Interesse las Grenouille im Buch der ekligen Geruche, und wenn der Widerwille das Interesse uberwog, so klappte er es einfach zu, legte es weg und nahm ein anderes.
          Nebenher trank er ohne Pause von den edlen Duften. Nach der Flasche mit dem Hoffnungsduft entkorkte er eine aus dem Jahre 1744, die gefullt war mit dem warmen Holzgeruch vor dem Haus der Madame Gaillard. Und nach diesem trank er eine Flasche sommerabendlichen Dufts, parfumdurchweht und blutenschwer, aufgelesen am Rande eines Parks in Saint-Germain-des-Pres anno 1753.
          Er war nun muchtig angefullt von Duften. Die Glieder lagen immer schwerer in den Kissen. Sein Geist benebelte sich wunderbar. Und doch war er noch nicht am Ende des Gelages. Zwar konnten seine Augen nicht mehr lesen, war ihm das Buch lungst aus der Hand geglitten - aber er wollte den Abend nicht beschließen, ohne noch die letzte Flasche, die herrlichste, geleert zu haben: Es war der Duft des Mudchens aus der Rue des Marais...
          Er trank ihn andachtsvoll und setzte sich zu diesem Zweck aufrecht auf das Kanapee, obwohl ihm das schwerfiel, denn der purpurne Salon schwankte und kreiste um ihn bei jeder Bewegung. In schulerhafter Haltung, die Knie aneinandergepresst, die Fuße dicht an dicht gestellt, auf den linken Oberschenkel seine linke Hand gelegt - so trank der kleine Grenouille den kustlichsten Duft aus den Kellern seines Herzens, Glas um Glas, und wurde immer trauriger dabei. Er wusste, dass er zu viel trank. Er wusste, dass er so viel Gutes nicht vertrug. Und trank doch, bis die Flasche leer war: Er ging durch den dunklen Gang von der Straße in den Hinterhof. Er ging auf den Lichtschein zu. Das Mudchen saß und schnitt die Mirabellen auf. Von weit her krachten die Raketen und Petarden des Feuerwerks...
          Er stellte das Glas ab und blieb noch, von der Sentimentalitut und vom Suff wie versteinert, ein paar Minuten lang sitzen, so lange, bis auch der letzte Nachgeschmack von der Zunge verschwunden war. Er glotzte vor sich hin. In seinem Hirn war es plutzlich so leer wie in den Flaschen. Dann kippte er um, seitlich aufs purpurne Kanapee und versank von einem Moment zum anderen in einen betuubenden Schlaf.
          Zur gleichen Zeit schlief auch der uußere Grenouille auf seiner Pferdedecke ein. Und sein Schlaf war ebenso abgrundtief wie der des inneren Grenouille, denn die herkuleischen Taten und Exzesse von diesem hatten jenen nicht weniger erschupft - schließlich waren beide ja ein und dieselbe Person.
          Als er aufwachte allerdings, wachte er nicht auf im purpurnen Salon seines purpurnen Schlosses hinter den sieben Mauern und auch nicht in den fruhlingshaften Duftgefilden seiner Seele, sondern einzig und allein im Steinverlies am Ende des Tunnels auf dem harten Boden in der Finsternis. Und ihm war speiubel vor Hunger und Durst und frustelig und elend wie einem suchtigen Trinker nach durchzechter Nacht. Auf allen vieren kroch er aus dem Stollen.
          Draußen war irgendeine Tageszeit, meistens die beginnende oder die endende Nacht, aber selbst bei Mitternacht stach ihm die Helligkeit des Sternenlichts wie Nadeln in die Augen. Die Luft erschien ihm staubig, raß, lungenbrennend, die Landschaft hart, er stieß sich an den Steinen. Und selbst die zartesten Geruche wirkten streng und beizend auf seine weltentwuhnte Nase. Grenouille, der Zeck, war empfindlich geworden wie ein Krebs, der sein Muschelgehuuse verlassen hat und nackt durchs Meer wandert.
          Er ging zur Wasserstelle, leckte die Feuchtigkeit von der Wand, ein, zwei Stunden lang, es war eine Tortur, die Zeit nahm kein Ende, die Zeit, in der ihm die wirkliche Welt auf der Haut brannte. Er riss sich ein paar Fetzen Moos von den Steinen, wurgte sie in sich hinein, hockte sich hin, schiss wuhrend er fraß schnell, schnell, schnell musste alles gehen -, und wie gejagt, wie wenn er ein kleines weichfleischiges Tier wure und droben am Himmel kreisten schon die Habichte, lief er zuruck zu seiner Huhle bis ans Ende des Stollens, wo die Pferdedecke lag. Hier war er endlich wieder sicher.
          Er lehnte sich zuruck gegen die Schutte von Gerull, streckte die Beine aus und wartete. Er musste seinen Kurper jetzt ganz still halten, ganz still, wie ein Gefuß, das von zu viel Bewegung uberzuschwappen droht. Allmuhlich gelang es ihm, den Atem zu zugeln. Sein aufgeregtes Herz schlug ruhiger, der innere Wellenschlag ließ langsam nach. Und plutzlich fiel die Einsamkeit wie eine schwarze Spiegelfluche uber sein Gemut. Er schloss die Augen. Die dunkle Ture in sein Inneres tat sich auf, und er trat ein. Die nuchste Vorstellung des grenouillschen Seelentheaters begann.

    28


          So ging es Tag fur Tag, Woche fur Woche, Monat fur Monat. So ging es sieben ganze Jahre lang.
          Wuhrend dieser Zeit herrschte in der uußeren Welt Krieg, und zwar Weltkrieg. Man schlug sich in Schlesien und Sachsen, in Hannover und Belgien, in Buhmen und Pommern. Die Truppen des Kunigs starben in Hessen und Westfalen, auf den Balearen, in Indien, am Mississippi und in Kanada, sofern sie nicht schon auf der Fahrt dorthin dem Typhus erlagen. Der Krieg kostete einer Million Menschen das Leben, den Kunig von Frankreich sein Kolonialreich und alle beteiligten Staaten so viel Geld, dass sie sich schließlich schweren Herzens entschlossen, ihn zu beenden.
          Grenouille wure einmal in dieser Zeit, im Winter, fast erfroren, ohne es zu merken. Funf Tage lag er im purpurnen Salon, und als er im Stollen erwachte, konnte er sich vor Kulte nicht mehr bewegen. Er schloss sofort wieder die Augen, um sich zu Tode zu schlafen. Doch dann kam ein Wettersturz, taute ihn auf und rettete ihn.
          Einmal war der Schnee so hoch, dass er nicht mehr die Kraft hatte, sich bis zu den Flechten durchzuwuhlen. Da ernuhrte er sich von steifgefrorenen Fledermuusen.
          Einmal lag ein toter Rabe vor der Huhle. Den aß er. Das waren die einzigen Vorkommnisse, die er von der uußeren Welt in den sieben Jahren zur Kenntnis nahm. Ansonsten lebte er nur in seinem Berg, nur im selbstgeschaffenen Reich seiner Seele. Und er wure bis zu seinem Tode dort geblieben (denn es mangelte ihm an nichts), wenn nicht eine Katastrophe eingetreten wure, die ihn aus dem Berg vertrieben und in die Welt zuruckgespieen hutte.

    29


          Die Katastrophe war kein Erdbeben, kein Waldbrand, kein Bergrutsch und kein Stolleneinsturz. Sie war uberhaupt keine uußere Katastrophe, sondern eine innere, und daher besonders peinlich, denn sie blockierte Grenouilles bevorzugten Fluchtweg. Sie geschah im Schlaf. Besser gesagt im Traum. Vielmehr im Traum im Schlaf im Herz in seiner Phantasie.
          Er lag auf dem Kanapee im purpurnen Salon und schlief. Um ihn standen die leeren Flaschen. Er hatte enorm viel getrunken, zum Abschluss gar zwei Flaschen vom Duft des rothaarigen Mudchens. Wahrscheinlich war das zu viel gewesen, denn sein Schlaf, wiewohl von todesuhnlicher Tiefe, war diesmal nicht traumlos, sondern von geisterhaften Traumschlieren durchzogen. Diese Schlieren waren deutlich erkennbare Fetzen eines Geruchs. Zuerst zogen sie nur in dunnen Bahnen an Grenouilles Nase vorbei, dann wurden sie dichter, wolkenhaft. Es war nun, als stunde er inmitten eines Moores, aus dem der Nebel stieg. Der Nebel stieg langsam immer huher. Bald war Grenouille vollkommen umhullt von Nebel, durchtrunkt von Nebel, und zwischen den Nebelschwaden war kein bisschen freie Luft mehr. Er musste, wenn er nicht ersticken wollte, diesen Nebel einatmen. Und der Nebel war, wie gesagt, ein Geruch. Und Grenouille wusste auch, was fur ein Geruch. Der Nebel war sein eigener Geruch. Sein, Grenouilles, Eigengeruch war der Nebel.
          Und nun war das Entsetzliche, dass Grenouille, obwohl er wusste, dass dieser Geruch sein Geruch war, ihn nicht riechen konnte. Er konnte sich, vollstundig in sich selbst ertrinkend, um alles in der Welt nicht riechen!
          Als ihm das klargeworden war, schrie er so furchterlich laut, als wurde er bei lebendigem Leibe verbrannt. Der Schrei zerschlug die Wunde des Purpursalons, die Mauern des Schlosses, er fuhr aus dem Herzen uber die Gruben und Sumpfe und Wusten hinweg, raste uber die nuchtliche Landschaft seiner Seele wie ein Feuersturm, gellte aus seinem Mund hervor, durch den gewundenen Stollen, hinaus in die Welt, weithin uber die Hochebene von Saint-Flour es war, als schriee der Berg. Und Grenouille erwachte von seinem eigenen Schrei. Im Erwachen schlug er um sich, als musse er den unriechbaren Nebel vertreiben, der ihn ersticken wollte. Er war zutode geungstigt, schlotterte am ganzen Kurper vor schierem Todesschrecken. Hutte der Schrei nicht den Nebel zerrissen, dann wure er an sich selber ertrunken - ein grauenvoller Tod. Ihn schauderte, wenn er daran zuruckdachte. Und wuhrend er noch schlotternd saß und versuchte, seine konfusen verungstigten Gedanken zusammenzufangen, wusste er schon eines ganz sicher: Er wurde sein Leben undern, und sei es nur deshalb, weil er einen so furchtbaren Traum kein zweites Mal truumen wollte. Er wurde das zweite Mal nicht uberstehen. Er warf sich die Pferdedecke uber die Schultern und kroch hinaus ins Freie. Draußen war gerade Vormittag, ein Vormittag Ende Februar. Die Sonne schien. Das Land roch nach feuchtem Stein, Moos und Wasser. Im Wind lag schon ein wenig Duft von Anemonen. Er hockte sich vor der Huhle auf den Boden. Das Sonnenlicht wurmte ihn. Er atmete die frische Luft ein. Es schauderte ihn immer noch, wenn er an den Nebel zuruckdachte, dem er entronnen war, und es schauderte ihn vor Wohligkeit, als er die Wurme auf dem Rucken spurte. Es war doch gut, dass diese uußere Welt noch bestand, und sei's nur als ein Fluchtpunkt. Nicht auszudenken das Grauen, wenn er am Ausgang des Tunnels keine Welt mehr vorgefunden hutte! Kein Licht, keinen Geruch, kein Garnichts - nur noch diesen entsetzlichen Nebel, innen, außen, uberall...
          Allmuhlich wich der Schock. Allmuhlich lockerte sich der Griff der Angst, und Grenouille begann sich sicherer zu fuhlen. Gegen Mittag hatte er seine Kaltblutigkeit wiedergewonnen. Er legte Zeige- und Mittelfinger der linken Hand unter die Nase und atmete zwischen den Fingerrucken hindurch. Er roch die feuchte, anemonenwurzige Fruhlingsluft. Von seinen Fingern roch er nichts. Er drehte die Hand um und schnupperte an ihrer Innenseite. Er spurte die Wurme der Hand, aber er roch nichts. Nun krempelte er den zerschlissenen urmel seines Hemdes hoch, vergrub die Nase in der Ellbogenbeuge. Er wusste, dass dies die Stelle war, wo alle Menschen nach sich selber riechen. Er jedoch roch nichts. Er roch auch nichts unter seiner Achsel, nichts an den Fußen, nichts am Geschlecht, zu dem er sich, so weit es ging, hinunterbeugte. Es war grotesk: Er, Grenouille, der jeden anderen Menschen meilenweit erschnuppern konnte, war nicht imstande, sein weniger als eine Handspanne entferntes eigenes Geschlecht zu riechen! Trotzdem geriet er nicht in Panik, sondern sagte sich, kuhl uberlegend, das folgende: "Es ist nicht so, dass ich nicht rieche, denn alles riecht. Es ist vielmehr so, dass ich nicht rieche, dass ich rieche, weil ich mich seit meiner Geburt tagaus tagein gerochen habe und meine Nase daher gegen meinen eigenen Geruch abgestumpft ist. Kunnte ich meinen Geruch, oder wenigstens einen Teil davon, von mir trennen und nach einer gewissen Zeit der Entwuhnung zu ihm zuruckkehren, so wurde ich ihn - und also mich - sehr wohl riechen kunnen."
          Er legte die Pferdedecke ab und zog seine Kleider aus der das, was von seinen Kleidern noch ubriggeblieben war, die Fetzen, die Lumpen zog er aus. Sieben Jahre lang hatte er sie nicht vom Leib genommen. Sie mussten durch und durch getrunkt sein von seinem Geruch. Er warf sie auf einen Haufen vor den Eingang der Huhle und entfernte sich. Dann stieg er, zum ersten Mal seit sieben Jahren, wieder auf den Gipfel des Berges hinauf. Dort stellte er sich an dieselbe Stelle, an der er damals bei seiner Ankunft gestanden war, hielt die Nase nach Westen und ließ sich den Wind um den nackten Kurper pfeifen. Seine Absicht war, sich vollkommen auszuluften, sich so sehr mit Westwind - und das hieß mit dem Geruch von Meer und feuchten Wiesen - vollzupumpen, dass dieser den Geruch seines eigenen Kurpers uberwog und sich somit ein Duftgefulle zwischen ihm, Grenouille, und seinen Kleidern herstellen muge, welches er dann deutlich wahrzunehmen in der Lage wure. Und um muglichst wenig Eigengeruch in die Nase zu bekommen, beugte er den Oberkurper nach vorn, machte den Hals so lang es ging gegen den Wind und streckte die Arme nach hinten. Er sah aus wie ein Schwimmer, kurz bevor er ins Wasser springt.
          In dieser uußerst lucherlichen Haltung verharrte er mehrere Stunden lang, wobei sich seine lichtentwuhnte madenweiße Haut trotz der noch schwachen Sonne langustenrot furbte. Gegen Abend stieg er wieder zur Huhle hinab. Schon von weitem sah er den Kleiderhaufen liegen. Auf den letzten Metern hielt er sich die Nase zu und uffnete sie erst wieder, als er sie dicht uber den Haufen gesenkt hatte. Er machte die Schnuffelprobe, wie er sie bei Baldini gelernt hatte, riss die Luft ein und ließ sie etappenweise wieder ausstrumen. Um den Geruch zu fangen, bildete er mit seinen beiden Hunden eine Glocke uber den Kleidern, in die er wie einen Kluppel seine Nase steckte. Er stellte alles mugliche an, um seinen eigenen Geruch aus den Kleidern herauszuriechen. Aber der Geruch war nicht darin. Er war entschieden nicht darin. Tausend andre Geruche waren darin. Der Geruch von Stein, Sand, Moos, Harz, Rabenblut - sogar der Geruch der Wurst, die er vor Jahren in der Nuhe von Sully gekauft hatte, war noch deutlich wahrnehmbar. Die Kleider enthielten ein olfaktorisches Tagebuch der letzten sieben, acht Jahre. Nur seinen eigenen Geruch, den Geruch dessen, der sie in dieser Zeit ohne Unterlass getragen hatte, enthielten sie nicht.
          Nun wurde ihm doch etwas bang. Die Sonne war untergegangen. Er stand nackt am Eingang des Stollens, an dessen dunklem Ende er sieben Jahre lang gelebt hatte. Der Wind blies kalt, und er fror, aber er merkte nicht, dass er fror, denn in ihm war eine Gegenkulte, numlich Angst. Es war nicht dieselbe Angst, die er im Traum empfunden hatte, diese grußliche Angst des Ansich-selbst-Erstickens, die es um jeden Preis abzuschutteln galt und der er hatte entfliehen kunnen. Was er jetzt empfand, war die Angst, uber sich selbst nicht Bescheid zu wissen. Sie war jener Angst entgegengesetzt. Ihr konnte er nicht entfliehen, sondern er musste ihr entgegengehen. Er musste - und wenn auch die Erkenntnis furchtbar war - ohne Zweifel wissen, ob er einen Geruch besaß oder nicht. Und zwar jetzt gleich. Sofort.
          Er ging zuruck in den Stollen. Nach ein paar Metern schon umgab ihn vullige Dunkelheit, doch er fand sich zurecht wie im hellsten Licht. Viele tausend Male war er den Weg gegangen, kannte jeden Tritt und jede Windung, roch jede niederhungende Felsnase und jeden kleinsten vorspringenden Stein. Den Weg zu finden war nicht schwierig. Schwierig war, gegen die Erinnerung an den klaustrophobischen Traum anzukumpfen, die wie eine Flutwelle in ihm hoch und huher schwappte, je weiter er voranschritt. Aber er war mutig. Das heißt, er bekumpfte mit der Angst, nicht zu wissen, die Angst vor dem Wissen, und es gelang ihm, weil er wusste, dass er keine Wahl hatte. Als er am Ende des Stollens angekommen war, dort wo die Gerullverschuttung anstieg, fielen beide ungste von ihm ab. Er fuhlte sich ruhig, sein Kopf war ganz klar und seine Nase geschurft wie ein Skalpell. Er hockte sich nieder, legte die Hunde uber die Augen und roch. An diesem Ort, in diesem weltfernen steinernen Grab, hatte er sieben Jahre lang gelegen. Wenn irgendwo auf der Welt, so musste es hier nach ihm riechen. Er atmete langsam. Er prufte genau. Er ließ sich Zeit mit dem Urteil. Eine Viertelstunde lang blieb er hocken. Er hatte ein untrugliches Geduchtnis und wusste genau, wie es vor sieben Jahren an dieser Stelle gerochen hatte: steinig und nach feuchter, salziger Kuhle und so rein, dass kein lebendes Wesen, Mensch oder Tier, den Platz jemals betreten haben konnte... Genau so aber roch es auch jetzt.
          Er blieb noch eine Weile hocken, ganz ruhig, nur leise mit dem Kopfe nickend. Dann drehte er sich um und ging, zunuchst gebuckt, und als die Huhe des Stollens es zuließ, in aufrechter Haltung, hinaus ins Freie. Draußen zog er seine Lumpen an (die Schuhe waren ihm schon vor Jahren vermodert), legte sich die Pferdedecke uber die Schultern und verließ noch in derselben Nacht den Plomb du Cantal in sudlicher Richtung.

    30


          Er sah furchterlich aus. Die Haare reichten ihm bis zu den Kniekehlen, der dunne Bart bis zum Nabel. Seine Nugel waren wie Vogelkrallen, und an Armen und Beinen, wo die Lumpen nicht mehr hinreichten, den Kurper zu bedecken, fiel ihm die Haut in Fetzen ab.
          Die ersten Menschen, denen er begegnete, Bauern auf einem Feld nahe der Stadt Pierrefort, rannten schreiend davon, als sie ihn sahen. In der Stadt selbst dagegen machte er Sensation. Die Leute liefen zu Hunderten zusammen, um ihn zu begaffen. Manche hielten ihn fur einen entkommenen Galeerenstrufling. Manche sagten, er sei gar kein richtiger Mensch, sondern eine Mischung aus einem Menschen und einem Buren, eine Art Waldwesen. Einer, der fruher zur See gefahren war, behauptete, er sehe aus wie der Angehurige eines wilden Indianerstammes in Cayenne, welches jenseits des großen Ozeans liege. Man fuhrte ihn dem Burgermeister vor. Dort wies er zum Erstaunen der Versammelten seinen Gesellenbrief vor, machte seinen Mund auf und erzuhlte in ein wenig kollernden Worten - denn es waren die ersten Worte, die er nach siebenjuhriger Pause von sich gab -, aber gut verstundlich, dass er auf seiner Wanderschaft von Ruubern uberfallen, verschleppt und sieben Jahre lang in einer Huhle gefangengehalten worden sei. Er habe in dieser Zeit weder das Sonnenlicht noch einen Menschen gesehen, sei mittels eines von unsichtbarer Hand ins Dunkle herabgelassenen Korbes ernuhrt und schließlich mit einer Leiter befreit worden, ohne zu wissen, warum, und ohne seine Entfuhrer oder Retter je gesehen zu haben. Diese Geschichte hatte er sich ausgedacht, denn sie schien ihm glaubhafter als die Wahrheit, und sie war es auch, denn dergleichen ruuberische uberfulle geschahen in den Bergen der Auvergne, des Languedoc und in den Cevennen durchaus nicht selten. Jedenfalls nahm sie der Burgermeister anstandslos zu Protokoll und erstattete uber den Vorfall Bericht an den Marquis de la Taillade-Espinasse, Lehensherrn der Stadt und Mitglied des Parlaments in Toulouse.
          Der Marquis hatte schon mit vierzig Jahren dem Versailler Hofleben den Rucken gekehrt, sich auf seine Guter zuruckgezogen und dort den Wissenschaften gelebt. Aus seiner Feder stammte ein bedeutendes Werk uber dynamische Nationalukonomie, in welchem er die Abschaffung aller Abgaben auf Grundbesitz und landwirtschaftliche Erzeugnisse sowie die Einfuhrung einer umgekehrt progressiven Einkommenssteuer vorschlug, die den urmsten am hurtesten traf und ihn somit zur sturkeren Entfaltung seiner wirtschaftlichen Aktivituten zwang. Durch den Erfolg des Buchleins ermuntert, verfasste er ein Traktat uber die Erziehung von Knaben und Mudchen im Alter zwischen funf und zehn Jahren, wandte sich hierauf der experimentellen Landwirtschaft zu und versuchte, durch die ubertragung von Stiersamen auf verschiedene Grassorten ein animalovegetabiles Kreuzungsprodukt zur Milchgewinnung zu zuchten, eine Art Euterblume. Nach anfunglichen Erfolgen, die ihn sogar zur Herstellung eines Kuses aus Grasmilch befuhigten, der von der Wissenschaftlichen Akademie von Lyon als >von ziegenhaftem Geschmack, wenngleich ein wenig bitterer< bezeichnet wurde, musste er seine Versuche wegen der enormen Kosten des hektoliterweise uber die Felder verspruhten Stiersamens einstellen. Immerhin hatte die Beschuftigung mit agrarbiologischen Problemen sein Interesse nicht nur an der sogenannten Ackerscholle, sondern an der Erde uberhaupt und an ihrer Beziehung zur Biosphure geweckt.
          Kaum hatte er die praktischen Arbeiten an der Milcheuterblume beendet, sturzte er sich mit ungebrochenem Forscherelan auf einen großen Essay uber die Zusammenhunge zwischen Erdnuhe und Vitalkraft. Seine These war, dass sich Leben nur in einer gewissen Entfernung von der Erde entwickeln kunne, da die Erde selbst stundig ein Verwesungsgas verstrume, ein sogenanntes "fluidum letale", welches die Vitalkrufte lahme und uber kurz oder lang vollstundig zum Erliegen bringe. Deshalb seien alle Lebewesen bestrebt, sich durch Wachstum von der Erde zu entfernen, wuchsen also von ihr weg und nicht etwa in sie hinein; deshalb trugen sie ihre wertvollsten Teile himmelwurts: das Korn die uhre, die Blume ihre Blute, der Mensch den Kopf; und deshalb mussten sie auch, wenn das Alter sie beuge und wieder zur Erde hinkrumme, unweigerlich dem Letalgas verfallen, in das sie sich durch den Zerfallsprozess nach ihrem Tode schließlich selbst verwandelten.
          Als dem Marquis de la Taillade-Espinasse zu Ohren kam, es habe sich in Pierrefort ein Individuum gefunden, welches sieben Jahre lang in einer Huhle - also vullig umschlossen vom Verwesungselement Erde gehaust habe, war er außer sich vor Entzucken und ließ Grenouille sofort zu sich in sein Laboratorium bringen, wo er ihn einer grundlichen Untersuchung unterzog. Aufs Anschaulichste fand er seine Theorie bestutigt: Das fluidum letale hatte Grenouille schon dermaßen angegriffen, dass sein funfundzwanzigjuhriger Kurper deutlich greisenhafte Verfallserscheinungen aufwies. Einzig die Tatsache - so erklurte Taillade-Espinasse -, dass Grenouille wuhrend seiner Gefangenschaft Nahrung von erdfernen Pflanzen, vermutlich Brot und Fruchte, zugefuhrt worden seien, habe seinen Tod verhindert. Nun kunne der fruhere Gesundheitszustand nur wiederhergestellt werden durch die grundliche Austreibung des Fluidums vermittels eines von ihm, Taillade-Espinasse, ersonnenen Vitalluftventilations- Apparates. Einen solchen habe er im Speicher seines Stadtpalais in Montpellier stehen, und wenn Grenouille bereit wure, sich als wissenschaftliches Demonstrationsobjekt zur Verfugung zu stellen, wolle er ihn nicht nur von seiner hoffnungslosen Erdgasverseuchung befreien, sondern ihm auch noch ein gutes Stuck Geld zukommen lassen...
          Zwei Stunden sputer saßen sie im Wagen. Obwohl sich die Straßen in einem miserablen Zustand befanden, schafften sie die vierundsechzig Meilen nach Montpellier in knapp zwei Tagen, denn der Marquis ließ es sich trotz seines vorgeschrittenen Alters nicht nehmen, persunlich auf Kutscher und Pferde einzupeitschen und bei mehreren Deichsel- und Federbruchen selbst mit Hand anzulegen; so begeistert war er von seiner Trouvaille, so begierig, sie raschestens einer gebildeten uffentlichkeit zu prusentieren. Grenouille hingegen durfte die Kutsche kein einziges Mal verlassen. Er hatte in seinen Lumpen, von einer mit feuchter Erde und Lehm getrunkten Decke vollstundig umhullt, dazusitzen. Zu essen bekam er wuhrend der Reise rohes Wurzelgemuse. Auf diese Weise hoffte der Marquis, die Erdfluidumverseuchung noch eine Weile im Idealzustand zu konservieren.
          In Montpellier angekommen, ließ er Grenouille sofort in den Keller seines Palais verbringen, verschickte Einladungen an sumtliche Mitglieder der medizinischen Fakultut, des Botanikervereins, der Landwirtschaftsschule, der chemo-physikalischen Vereinigung, der Freimaurerloge und der ubrigen Gelehrtengesellschaften, deren die Stadt nicht weniger als ein Dutzend besaß. Und einige Tage sputer - genau eine Woche nachdem er die Bergeinsamkeit verlassen hatte - fand sich Grenouille auf einem Podest in der großen Aula der Universitut von Montpellier einer vielhundertkupfigen Menge als die wissenschaftliche Sensation des Jahres prusentiert.
          In seinem Vortrag bezeichnete ihn Taillade-Espinasse als den lebenden Beweis fur die Richtigkeit der letalen Erdfluidumtheorie. Wuhrend er ihm nach und nach die Lumpen vom Leibe riss, erklurte er den verheerenden Effekt, den das Verwesungsgas auf Grenouilles Kurper ausgeubt habe: Da sehe man Pusteln und Narben, hervorgerufen durch Gasverutzung; dort auf der Brust ein riesiges glunzendrotes Gaskarzinom; allenthalben eine Zersetzung der Haut; und sogar eine deutliche fluidale Verkruppelung des Skeletts, die als Klumpfuß und Buckel sichtbar hervortrete. Auch seien die inneren Organe Milz, Leber, Lunge, Galle und Verdauungstrakt schwer gasgeschudigt, wie die Analyse einer Stuhlprobe, die sich in einer Schussel zu Fußen des Demonstranten fur jedermann zugunglich befinde, zweifelsfrei erwiesen habe. Zusammenfassend kunne daher gesagt werden, dass die Luhmung der Vitalkrufte aufgrund siebenjuhriger Verseuchung durch >fluidum letale Taillade< schon so weit fortgeschritten sei, dass Demonstrant - dessen uußere Erscheinung im ubrigen bereits signifikant maulwurfhafte Zuge aufweise - mehr als ein dem Tode denn als ein dem Leben zugewandtes Wesen bezeichnet werden musse. Dennoch mache Referent sich anheischig, den an und fur sich Todgeweihten mittels einer Ventilationstherapie in Kombination mit Vitaldiut innerhalb von acht Tagen wieder soweit herzustellen, dass die Anzeichen fur eine vollstundige Heilung jedermann in die Augen springen werde, und fordere die Anwesenden auf, sich vom Erfolg dieser Prognose, der dann freilich als gultiger Beweis fur die Richtigkeit der letalen Erdfluidumstheorie angesehen werden musse, binnen Wochenfrist zu uberzeugen.
          Der Vortrag war ein Riesenerfolg. Heftig applaudierte das gelehrte Publikum dem Referenten und defilierte dann am Podest vorbei, auf dem Grenouille stand. In seiner konservierten Verwahrlosung und mit seinen alten Narben und Verkruppelungen sah er tatsuchlich so beeindruckend furchterlich aus, dass ihn jedermann fur halb verwest und unrettbar verloren hielt, obwohl er selbst sich durchaus gesund und kruftig fuhlte. Manche der Herren beklopften ihn fachmunnisch, vermaßen ihn, schauten ihm in Mund und Auge. Einige richteten das Wort an ihn und erkundigten sich nach seinem Huhlenleben und nach seiner jetzigen Befindlichkeit. Er hielt sich jedoch streng an eine im voraus erteilte Anweisung des Marquis und antwortete auf solche Fragen nur mit einem gepressten Rucheln, wobei er mit beiden Hunden hilflose Gesten gegen seinen Kehlkopf machte, um damit kundzutun, dass auch dieser bereits vom >fluidum letale Taillade< zerfressen sei.
          Am Ende der Veranstaltung packte ihn Taillade-Espinasse wieder ein und verfrachtete ihn nach Hause auf den Speicher seines Palais. Dort schloss er ihn im Beisein einiger ausgewuhlter Doktoren der medizinischen Fakultut in den Vitalluftventilationsapparat, einen aus dichtverfugten Fichtenbrettern gefertigten Verschlag, der mittels eines weit uber das Dach hinausreichenden Ansaugekamins mit letalgasfreier Huhenluft durchflutet wurde, welche durch eine am Boden angebrachte Lederventilklappe wieder entweichen konnte. In Betrieb gehalten wurde die Anlage von einer Staffel von Bediensteten, die Tag und Nacht dafur sorgten, dass die im Kamin eingebauten Ventilatoren nicht zur Ruhe kamen. Und wuhrend Grenouille auf diese Weise von einem stundigen reinigenden Luftstrom umgeben war, wurden ihm in stundlichem Abstand durch ein seitlich eingearbeitetes doppelwandiges Luftschleusenturchen diutetische Speisen erdferner Provenienz dargeboten: Taubenbruhe, Lerchenpastete, Ragout von Flugenten, eingemachtes Baumobst, Brot von extra hochwachsenden Weizensorten, Pyrenuenwein, Gemsenmilch und Eischaumcreme von Huhnern, die im Dachboden des Palais gehalten wurden.
          Funf Tage lang dauerte diese kombinierte Entseuchungs- und Revitalisierungskur. Dann ließ der Marquis die Ventilatoren anhalten und verbrachte Grenouille in einen Waschraum, wo er in Budern von lauwarmem Regenwasser mehrere Stunden eingeweicht und schließlich mit Nussulseife aus der Andenstadt Potosi von Kopf bis Fuß gewaschen wurde. Man schnitt ihm die Finger- und Zehennugel, reinigte seine Zuhne mit feingeschlummtem Dolomitenkalk, rasierte ihn, kurzte und kummte seine Haare, coiffierte und puderte sie. Ein Schneider wurde bestellt, ein Schuster, und Grenouille bekam ein seidenes Hemd verpasst, mit weißem Jabot und weißen Ruschen an den Manschetten, seidene Strumpfe, Rock, Hose und Weste aus blauem Samt und schune Schnallenschuhe von schwarzem Leder, deren rechter geschickt den verkruppelten Fuß kaschierte. Huchsteigenhundig legte der Marquis weiße Talkumschminke auf Grenouilles narbiges Gesicht, tupfte ihm Karmesin auf Lippen und Wangen und verlieh den Augenbrauen mit Hilfe eines weichen Stifts von Lindenholzkohle eine wirklich edle Wulbung. Dann stuubte er ihn mit seinem persunlichen Parfum ein, einer ziemlich simplen Veilchennote, trat einige Schritte zuruck und brauchte lange Zeit, sein Entzucken in Worte zu fassen.
          "Monsieur", begann er endlich, "ich bin von mir begeistert. Ich bin erschuttert uber meine Genialitut. Ich habe an der Richtigkeit meiner fluidalen Theorie zwar nie gezweifelt; naturlich nicht; sie aber in praktizierter Therapie so herrlich bestutigt zu finden, erschuttert mich. Sie waren ein Tier, und ich habe einen Menschen aus Ihnen gemacht. Eine geradezu guttliche Tat. Erlauben Sie, dass ich geruhrt bin! - Treten Sie vor diesen Spiegel dort, und schauen Sie sich an! Sie werden zum ersten Mal in Ihrem Leben erkennen, dass Sie ein Mensch sind; kein besonders außergewuhnlicher oder irgendwie hervorragender, aber doch immerhin ein ganz passabler Mensch. Gehen Sie, Monsieur! Schauen Sie sich an, und bestaunen Sie das Wunder, das ich an Ihnen vollbracht habe!"
          Es war das erste Mal, dass jemand "Monsieur" zu Grenouille gesagt hatte.
          Er ging zum Spiegel und sah hinein. Bis dato hatte er auch noch nie in einen Spiegel gesehen. Er sah einen Herrn in feinem blauem Gewand vor sich, mit weißem Hemd und Seidenstrumpfen, und er duckte sich ganz instinktiv, wie er sich immer vor solch feinen Herren geduckt hatte. Der feine Herr aber duckte sich auch, und indem Grenouille sich wieder aufrichtete, tat der feine Herr dasselbe, und dann erstarrten beide und fixierten sich.
          Was Grenouille am meisten verbluffte, war die Tatsache, dass er so unglaublich normal aussah. Der Marquis hatte Recht: Er sah nicht besonders aus, nicht gut, aber auch nicht besonders hußlich. Er war ein wenig klein geraten, seine Haltung war ein wenig linkisch, das Gesicht ein wenig ausdruckslos, kurz, er sah aus wie Tausende von anderen Menschen auch. Wenn er jetzt hinunter auf die Straße ginge, wurde kein Mensch sich nach ihm umdrehen. Nicht einmal ihm selbst wurde ein solcher, wie er jetzt war, irgendwie auffallen, wenn er ihm begegnete. Es sei denn, er wurde riechen, dass dieser jemand, außer nach Veilchen, sowenig ruche wie der Herr im Spiegel und er selbst, der davorstand.
          Und doch waren vor zehn Tagen die Bauern noch schreiend auseinandergelaufen bei seinem Anblick. Er hatte sich damals nicht anders gefuhlt als jetzt, und jetzt, wenn er die Augen schloss, fuhlte er sich kein bisschen anders als damals. Er sog die Luft ein, die an seinem Kurper aufstieg und roch das schlechte Parfum und den Samt und das frischgeleimte Leder seiner Schuhe; er roch das Seidenzeug, den Puder, die Schminke, den schwachen Duft der Seife aus Potosi. Und plutzlich wusste er, dass es nicht die Taubenbruhe und der Ventilationshokuspokus gewesen waren, die einen normalen Menschen aus ihm gemacht hatten, sondern einzig und allein die paar Kleider, der Haarschnitt und das bisschen kosmetischer Maskerade.
          Er uffnete blinzelnd die Augen und sah, wie der Monsieur im Spiegel ihm zublinzelte und wie ein kleines Lucheln um seine karmesinroten Lippen strich, ganz so, als wolle er ihm signalisieren, dass er ihn nicht gunzlich unsympathisch finde. Und auch Grenouille fand, dass der Monsieur im Spiegel, diese als Mensch verkleidete, maskierte, geruchlose Gestalt, nicht so ganz ohne sei; zumindest schien ihm, als kunnte sie wurde man ihre Maske nur vervollkommnen - eine Wirkung auf die uußere Welt tun, wie er, Grenouille, sie sich selbst nie zugetraut hutte. Er nickte der Gestalt zu und sah, dass sie, wuhrend sie wieder nickte, verstohlen die Nustern bluhte...

    31


          Am folgenden Tag - der Marquis war gerade dabei, ihm die nutigsten Posen, Gesten und Tanzschritte fur den bevorstehenden gesellschaftlichen Auftritt beizubringen - fingierte Grenouille einen Schwindelanfall und sturzte scheinbar vollkommen entkruftet und wie von Erstickung bedroht auf einem Diwan nieder.
          Der Marquis war außer sich. Er schrie nach den Dienern, schrie nach Luftwedeln und tragbaren Ventilatoren, und wuhrend die Diener eilten, kniete er an Grenouilles Seite nieder, fuchelte ihm mit seinem veilchenduftgetrunkten Taschentuch Luft zu und beschwor, bebettelte ihn regelrecht, doch ja sich wieder aufzurichten, doch ja nicht jetzt die Seele auszuhauchen, sondern damit, wenn irgend muglich, noch bis ubermorgen hinzuwarten, da sonst das uberleben der letalen Fluidaltheorie aufs uußerste gefuhrdet sei.
          Grenouille wand und krummte sich, keuchte, uchzte, fuchtelte mit seinen Armen gegen das Taschentuch, ließ sich schließlich auf sehr dramatische Weise vom Diwan fallen und verkroch sich in die entlegenste Ecke des Zimmers. "Nicht dieses Parfum!" rief er wie mit allerletzter Kraft, "nicht dieses Parfum! Es tutet mich!" Und erst als Taillade-Espinasse das Taschentuch aus dem Fenster und seinen ebenfalls nach Veilchen riechenden Rock ins Nebenzimmer geworfen hatte, ließ Grenouille seinen Anfall abebben und erzuhlte mit ruhiger werdender Stimme, dass er als Parfumeur eine berufsbedingt empfindliche Nase besitze und immer schon, besonders aber jetzt in der Zeit der Genesung, auf gewisse Parfums sehr heftig reagiere. Dass ausgerechnet der Duft des Veilchens, einer an und fur sich lieblichen Blume, ihm so stark zusetze, kunne er sich nur dadurch erkluren, dass das Parfum des Marquis einen hohen Bestandteil an Veilchenwurzelextrakt enthalte, welcher wegen seiner unterirdischen Herkunft auf eine letal fluidal angegriffene Person wie ihn, Grenouille, verderblich wirke. Schon gestern, bei der ersten Applikation des Duftes, habe er sich ganz blumerant gefuhlt und heute, als er den Wurzelgeruch abermals wahrgenommen habe, sei ihm gar gewesen, als stoße man ihn zuruck in das entsetzliche stickige Erdloch, in dem er sieben Jahre vegetiert habe. Seine Natur habe sich dagegen empurt, anders kunne er nicht sagen, denn nachdem ihm einmal durch die Kunst des Herrn Marquis ein Leben als Mensch in fluidalfreier Luft geschenkt worden sei, sturbe er lieber sofort, als dass er sich noch einmal dem verhassten Fluidum ausliefere. Noch jetzt krampfe sich alles in ihm zusammen, wenn er bloß an das Wurzelparfum denke. Er glaube aber zuversichtlich, dass er augenblicklich wiederhergestellt sein wurde, wenn es ihm der Marquis gestatte, zur vollstundigen Austreibung des Veilchenduftes ein eigenes Parfum zu entwerfen. Er denke dabei an eine besonders leichte, aerierte Note, die hauptsuchlich aus erdfernen Ingredienzen wie Mandel- und Orangenblutenwasser, Eukalyptus, Fichtennadelul und Zypressenul bestehe. Einen Spritzer nur von einem solchen Duft auf seine Kleider, ein paar Tropfen nur an Hals und Wangen - und er wure ein fur allemal gefeit gegen eine Wiederholung des peinlichen Anfalls, der ihn soeben ubermannt habe...
          Was wir hier der Verstundlichkeit halber in ordentlicher indirekter Rede wiedergeben, war in Wirklichkeit ein halbstundiger, von vielen Hustern und Keuchern und Atemnuten unterbrochener blubbernder Wortausbruch, den Grenouille mit Gezittre und Gefuchtle und Augenrollen untermalte. Der Marquis war schwer beeindruckt. Mehr noch als die Leidenssymptomatik uberzeugte ihn die feine Argumentation seines Schutzlings, die ganz im Sinne der letal fluidalen Theorie vorgebracht war. Naturlich das Veilchenparfum! Ein widerlich erdnahes, ja sogar unterirdisches Produkt! Wahrscheinlich war er selbst, der es seit Jahren benutzte, schon infiziert davon. Hatte keine Ahnung, dass er sich Tag fur Tag durch diesen Duft dem Tode nuherbrachte. Die Gicht, die Steifheit seines Nackens, die Schlaffheit seines Glieds, das Humorrhoid, der Ohrendruck, der faule Zahn - all das kam zweifelsohne von dem Gestank der fluidaldurchseuchten Veilchenwurzel. Und dieser kleine dumme Mensch, das Huuflein Elend in der Zimmerecke dort, hatte ihn daraufgebracht. Er war geruhrt. Am liebsten wure er zu ihm gegangen, hutte ihn aufgehoben und an sein aufgeklurtes Herz gedruckt. Aber er furchtete, noch immer nach Veilchen zu duften, und so schrie er abermals nach den Dienern und befahl, alles Veilchenparfum aus dem Hause zu entfernen, das ganze Palais zu luften, seine Kleider im Vitalluftventilator zu entseuchen und Grenouille sofort in seiner Sunfte zum besten Parfumeur der Stadt zu bringen. Genau dies aber hatte Grenouille mit seinem Anfall bezweckt.
          Das Duftwesen hatte alte Tradition in Montpellier, und obwohl es in jungster Zeit im Vergleich zur Konkurrenzstadt Grasse etwas heruntergekommen war, lebten doch noch etliche gute Parfumeur- und Handschuhmachermeister in der Stadt. Der angesehenste unter ihnen, ein gewisser Runel, erklurte sich im Hinblick auf die Geschuftsbeziehungen mit dem Hause desMarquis de la Taillade-Espinasse, dessen Seifen-, ul- und Duftstofflieferant er war, zu dem außergewuhnlichen Schritt bereit, sein Atelier fur eine Stunde dem in der Sunfte herbeigeschafften sonderbaren Pariser Parfumeurgesellen abzutreten. Dieser ließ sich nichts erkluren, wollte gar nicht wissen, wo er was zu finden habe, er kenne sich schon aus, sagte er, finde sich schon zurecht; und schloss sich in der Werkstatt ein und blieb dort eine gute Stunde, wuhrend Runel mit dem Haushofmeister des Marquis auf ein paar Gluser Wein in eine Schenke ging und dort erfahren musste, weswegen man sein Veilchenwasser nicht mehr riechen kunne.
          Runels Werkstatt und Laden waren bei weitem nicht so uppig ausgestattet wie seinerzeit Baldinis Duftstoffhandlung in Paris. Mit den paar Blutenulen, Wussern und Gewurzen hutte ein durchschnittlicher Parfumeur keine großen Sprunge machen kunnen. Grenouille jedoch erkannte mit dem ersten schnuppernden Atemzug, dass die vorhandenen Stoffe fur seine Zwecke durchaus hinreichten. Er wollte keinen großen Duft kreieren; er wollte kein Prestigewusserchen zusammenmischen wie damals fur Baldini, so eines, das hervorstach aus dem Meer des Mittelmaßes und die Leute kirre machte. Nicht einmal ein einfaches Orangenblutenduftchen, wie dem Marquis versprochen, war sein eigentliches Ziel. Die gungigen Essenzen von Neroli, Eukalyptus und Zypressenblatt sollten den eigentlichen Duft, den er sich herzustellen vorgenommen hatte, nur kaschieren: dies aber war der Duft des Menschlichen. Er wollte sich, und wenn es vorluufig auch nur ein schlechtes Surrogat war, den Geruch der Menschen aneignen, den er selber nicht besaß. Freilich den Geruch der Menschen gab es nicht, genausowenig wie es das menschliche Antlitz gab. Jeder Mensch roch anders, niemand wusste das besser als Grenouille, der Tausende und Abertausende von Individualgeruchen kannte und Menschen schon von Geburt an witternd unterschied. Und doch - es gab ein parfumistisches Grundthema des Menschendufts, ein ziemlich simples ubrigens: ein schweißig-fettes, kusigsuuerliches, ein im ganzen reichlich ekelhaftes Grundthema, das allen Menschen gleichermaßen anhaftete und uber welchem erst in feinerer Vereinzelung die Wulkchen einer individuellen Aura schwebten.
          Diese Aura aber, die huchst komplizierte, unverwechselbare Chiffre des persunlichen Geruchs, war fur die meisten Menschen ohnehin nicht wahrnehmbar. Die meisten Menschen wussten nicht, dass sie sie uberhaupt besaßen, und taten uberdies alles, um sie unter Kleidern oder unter modischen Kunstgeruchen zu verstecken. Nur jener Grundduft, jene primitive Menschendunstelei, war ihnen wohlvertraut, in ihr nur lebten sie und fuhlten sich geborgen, und wer nur den eklen allgemeinen Brodem von sich gab, wurde von ihnen schon als ihresgleichen angesehen.
          Es war ein seltsames Parfum, das Grenouille an diesem Tag kreierte. Ein seltsameres hatte es bis dahin auf der Welt noch nicht gegeben. Es roch nicht wie ein Duft, sondern wie ein Mensch, der duftet. Wenn man dieses Parfum in einem dunklen Raum gerochen hutte, so hutte man geglaubt, es stehe da ein zweiter Mensch. Und wenn ein Mensch, der selber wie ein Mensch roch, es verwendet hutte, so wure dieser uns geruchlich vorgekommen wie zwei Menschen oder, schlimmer noch, wie ein monstruses Doppelwesen, wie eine Gestalt, die man nicht mehr eindeutig fixieren kann, weil sie sich verschwimmend unscharf darstellt wie ein Bild vom Grunde eines Sees, auf dem die Wellen zittern.
          Um diesen Menschenduft zu imitieren - recht ungenugend, wie er selber wusste, aber doch geschickt genug, um andere zu tuuschen -, suchte sich Grenouille die ausgefallensten Ingredienzen in Runels Werkstatt zusammen. Da war ein Huufchen Katzendreck hinter der Schwelle der Tur, die zum Hof fuhrte, noch ziemlich frisch. Davon nahm er ein halbes Luffelchen und gab es zusammen mit einigen Tropfen Essig und zerstoßenem Salz in die Mischflasche. Unter dem Werktisch fand er ein daumennagelgroßes Stuckchen Kuse, das offenbar von einer Mahlzeit Runels stammte. Es war schon ziemlich alt, begann, sich zu zersetzen und strumte einen beißend scharfen Duft aus. Vom Deckel der Sardinentonne, die im hinteren Teil des Ladens stand, kratzte er ein fischig-ranzig-riechendes Etwas ab, vermischte es mit faulem Ei und Castoreum, Ammoniak, Muskat, gefeiltem Hurn und angesengter Schweineschwarte, fein gebruselt. Dazu gab er ein relativ hohes Quantum Zibet, mischte diese entsetzlichen Zutaten mit Alkohol, ließ digerieren und filtrierte ab in eine zweite Flasche. Die Bruhe roch verheerend. Sie stank kloakenhaft, verwesend, und wenn man ihre Ausdunstung mit einem Fucherschlag von reiner Luft vermischte, so war's, als stunde man an einem heißen Sommertag in der Rue aux Fers in Paris, Ecke Rue de la Lingerie, wo sich die Dufte von den Hallen, vom Cimetiere des Innocents und von den uberfullten Huusern trafen.
          uber diese grauenvolle Basis, die an und fur sich eher kadaverhaft als menschenuhnlich roch, legte Grenouille nun eine Schicht von ulig-frischen Duften: Pfefferminz, Lavendel, Terpentin, Limone, Eukalyptus, die er durch ein Bouquet von feinen Blutenulen wie Geranium, Rose, Orangenblute und Jasmin zugleich zugelte und angenehm kaschierte. Nach weiterer Verdunnung mit Alkohol und etwas Essig war von dem Fundament, auf dem die ganze Mischung ruhte, nichts Ekelhaftes mehr zu riechen. Der latente Gestank hatte sich durch die frischen Ingredienzen bis ins Unmerkliche verloren, das Ekelhafte war vom Duft der Blumen geschunt, ja beinahe interessant geworden, und, sonderbar, von Verwesung war nichts mehr zu riechen, nicht das geringste mehr. Es schien im Gegenteil ein heftiger beschwingter Duft von Leben von dem Parfum auszugehen.
          Grenouille fullte es auf zwei Flakons, die er verstupselte und zu sich steckte. Dann wusch er die Flaschen, Murser, Trichter und Luffel sorgfultig mit Wasser, rieb sie mit Bittermandelul ab, um alle geruchlichen Spuren zu verwischen, und nahm eine zweite Mischflasche. In ihr komponierte er rasch ein anderes Parfum, eine Art Kopie des ersten, das ebenfalls aus frischen und aus blumigen Elementen bestand, bei dem jedoch die Basis nichts mehr von dem Hexensud enthielt, sondern ganz konventionell etwas Moschus, Amber, ein klein wenig Zibet und ul von Zedernholz. Fur sich genommen roch es vullig anders als das erste flacher, unbescholtener, unvirulenter - denn es fehlte ihm die Komponente des imitierten Menschendufts. Doch wenn ein gewuhnlicher Mensch es applizierte und es sich mit seinem eigenen Geruch vermuhlte, so wurde es von dem, das Grenouille ausschließlich fur sich geschaffen hatte, nicht mehr zu unterscheiden sein.
          Nachdem er auch das zweite Parfum auf Flakons gefullt hatte, zog er sich nackt aus und besprengte seine Kleider mit jenem ersten. Dann betupfte er sich selbst damit unter den Achseln, zwischen den Zehen, am Geschlecht, auf der Brust, an Hals, Ohren und Haaren, zog sich wieder an und verließ die Werkstatt.

    32


          Als er die Straße betrat, bekam er plutzlich Angst, denn er wusste, dass er zum ersten Mal in seinem Leben einen menschlichen Geruch verbreitete. Er selbst aber fand, dass er stinke, ganz widerwurtig stinke. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass andere Menschen seinen Duft nicht ebenfalls als stinkend empfunden, und wagte es nicht, direkt in die Schenke zu gehen, wo Runel und der Haushofmeister des Marquis auf ihn warteten. Es schien ihm weniger riskant, die neue Aura erst in anonymer Umgebung zu erproben.
          Durch die engsten und dunkelsten Gassen schlich er zum Fluss hinunter, wo die Gerber und die Stoffurber ihre Ateliers besaßen und ihr stinkendes Geschuft betrieben. Wenn ihm jemand begegnete, oder wenn er an einem Hauseingang voruberkam, wo Kinder spielten oder alte Frauen saßen, zwang er sich, langsamer zu gehen und seinen Duft in einer großen geschlossenen Wolke um sich her zu tragen.
          Er war von Jugend an gewohnt, dass Menschen, die an ihm vorubergingen, keinerlei Notiz von ihm nahmen, nicht aus Verachtung - wie er einmal geglaubt hatte -, sondern weil sie nichts von seiner Existenz bemerkten. Es war kein Raum um ihn gewesen, kein Wellenschlag, den er, wie andre Leute, in der Atmosphure schlug, kein Schatten, sozusagen, den er uber das Gesicht der andern Menschen hutte werfen kunnen. Nur wenn er direkt mit jemandem zusammengestoßen war, im Gedrunge oder urplutzlich an einer Straßenecke, dann hatte es einen kurzen Augenblick der Wahrnehmung gegeben; und mit Entsetzen meistens prallte der Getroffene zuruck, starrte ihn, Grenouille, fur ein paar Sekunden an, als sehe er ein Wesen, das es eigentlich nicht geben durfte, ein Wesen, das, wiewohl unleugbar da, auf irgendeine Weise nicht prusent war - und suchte dann das Weite und hatte seiner augenblicks wieder vergessen...
          Jetzt aber, in den Gassen Montpelliers, spurte und sah Grenouille deutlich - und jedesmal, wenn er es wieder sah, durchrieselte ihn ein heftiges Gefuhl von Stolz -, dass er eine Wirkung auf die Menschen ausubte. Als er an einer Frau voruberging, die uber einen Brunnenrand gebeugt stand, bemerkte er, wie sie fur einen Augenblick den Kopf hob, um zu sehen, wer da sei, und sich dann, offenbar beruhigt, wieder ihrem Eimer zuwandte. Ein Mann, der mit dem Rucken zu ihm stand, drehte sich um und schaute ihm eine ganze Weile lang neugierig nach. Kinder, denen er begegnete, wichen aus - nicht ungstlich, sondern um ihm Platz zu machen; und selbst wenn sie seitlich aus den Hauseingungen gelaufen kamen und unvermittelt auf ihn stießen, erschraken sie nicht, sondern schlupften wie selbstverstundlich an ihm vorbei, als hutten sie eine Vorahnung von seiner sich nuhernden Person gehabt.
          Durch mehrere solche Begegnungen lernte er, die Kraft und Wirkungsart seiner neuen Aura pruziser einzuschutzen, und wurde selbstsicherer und kecker. Er ging rascher auf die Menschen zu, strich dichter an ihnen vorbei, spreizte gar einen Arm ein wenig weiter ab und streifte wie zufullig den Arm eines Passanten. Einmal rempelte er, scheinbar aus Versehen, einen Mann an, den er uberholen wollte. Er blieb stehen, entschuldigte sich, und der Mann, der noch gestern von Grenouilles plutzlicher Erscheinung wie vom Donner geruhrt gewesen wure, tat, als sei nichts geschehen, nahm die Entschuldigung an, luchelte sogar kurz und klopfte Grenouille auf die Schulter.
          Er verließ die Gassen und trat auf den Platz vor dem Dom Saint-Pierre. Die Glocken luuteten. Zu beiden Seiten des Portals drungten sich Menschen. Eine Trauung war eben zu Ende. Man wollte die Braut sehen. Grenouille lief hin und mischte sich unter die Menge. Er drungte, bohrte sich in sie hinein, dorthin wollte er, wo die Menschen am dichtesten standen, hautnah sollten sie um ihn sein, direkt unter die Nasen wollte er ihnen seinen eigenen Duft reiben. Und er spreizte die Arme mitten in der drangvollen Enge und spreizte die Beine und riss sich den Kragen auf, damit der Duft ungehindert von seinem Kurper abstrumen kunne... und seine Freude war grenzenlos, als er merkte, dass die andern nichts merkten, rein gar nichts, dass all diese Munner und Frauen und Kinder, die ringsum an ihn gepresst standen, sich so leicht betrugen ließen und seinen aus Katzenscheiße, Kuse und Essig zusammengepantschten Gestank als den Geruch von ihresgleichen inhalierten und ihn, Grenouille, die Kuckucksbrut in ihrer Mitte, als einen Menschen unter Menschen akzeptierten.
          An seinen Knien spurte er ein Kind, ein kleines Mudchen, das zwischen den Erwachsenen verkeilt stand. Er hob es hoch, in heuchlerischer Fursorge, und nahm es auf den Arm, damit es besser sehen kunne. Die Mutter duldete es nicht nur, sie dankte es ihm, und die Kleine jauchzte vor Vergnugen.
          So stand Grenouille wohl eine Viertelstunde im Schoß der Menge, ein fremdes Kind gegen die scheinheilige Brust gedruckt. Und wuhrend die Hochzeitsgesellschaft vorbeizog, begleitet vom druhnenden Glockengeluut und vom Jubel der Menschen, uber die ein Regen von Munzen herabprasselte, brach in Grenouille ein anderer Jubel los, ein schwarzer Jubel, ein buses Triumphgefuhl, das ihn zittern machte und berauschte wie ein Anfall von Geilheit, und er hatte Muhe, es nicht wie Gift und Galle uber all diese Menschen herspritzen zu lassen und ihnen jubelnd ins Gesicht zu schreien: dass er keine Angst vor ihnen habe; ja kaum noch sie hasse; sondern dass er sie mit ganzer Inbrunst verachte, weil sie stinkend dumm waren; weil sie sich von ihm belugen und betrugen ließen; weil sie nichts waren, und er war alles! Und wie zum Hohn presste er das Kind enger an sich, machte sich Luft und schrie mit den undern im Chor: "Hoch die Braut! Es lebe die Braut! Es lebe das herrliche Paar!"
          Als die Hochzeitsgesellschaft sich entfernt hatte und die Menge sich aufzulusen begann, gab er das Kind seiner Mutter zuruck und ging in die Kirche, um sich von seiner Erregung zu erholen und auszuruhen. Im Innern des Domes stand die Luft voll Weihrauch, der in kalten Schwaden aus zwei Ruucherpfannen zu beiden Seiten des Altars hervorquoll und sich wie eine erstickende Decke uber die zarteren Geruche der Menschen legte, die eben noch hier gesessen hatten. Grenouille hockte sich auf eine Bank unter dem Chor.
          Mit einem Mal kam eine große Zufriedenheit uber ihn. Keine trunkene, wie er sie damals im Schuße des Berges bei seinen einsamen Orgien empfunden hatte, sondern eine sehr kalte und nuchterne Zufriedenheit, wie sie das Bewusstsein der eigenen Macht gebiert. Er wusste jetzt, wozu er fuhig war. Mit geringsten Hilfsmitteln hatte er, dank seinem eigenen Genie, den Duft des Menschen nachgeschaffen und ihn auf Anhieb gleich so gut getroffen, dass selbst ein Kind sich von ihm hatte tuuschen lassen. Er wusste jetzt, dass er noch mehr vermochte. Er wusste, dass er diesen Duft verbessern konnte. Er wurde einen Duft kreieren kunnen, der nicht nur menschlich, sondern ubermenschlich war, einen Engelsduft, so unbeschreiblich gut und lebenskruftig, dass, wer ihn roch, bezaubert war und ihn, Grenouille, den Truger dieses Dufts, von ganzem Herzen lieben musste.
          Ja, lieben sollten sie ihn, wenn sie im Banne seines Duftes standen, nicht nur ihn als ihresgleichen akzeptieren, ihn lieben bis zum Wahnsinn, bis zur Selbstaufgabe, zittern vor Entzucken sollten sie, schreien, weinen vor Wonne, ohne zu wissen, warum, auf die Knie sollten sie sinken wie unter Gottes kaltem Weihrauch, wenn sie nur ihn, Grenouille, zu riechen bekamen! Er wollte der omnipotente Gott des Duftes sein, so wie er es in seinen Phantasien gewesen war, aber nun in der wirklichen Welt und uber wirkliche Menschen. Und er wusste, dass dies in seiner Macht stand. Denn die Menschen konnten die Augen zumachen vor der Gruße, vor dem Schrecklichen, vor der Schunheit und die Ohren verschließen vor Melodien oder beturenden Worten. Aber sie konnten sich nicht dem Duft entziehen. Denn der Duft war ein Bruder des Atems. Mit ihm ging er in die Menschen ein, sie konnten sich seiner nicht erwehren, wenn sie leben wollten. Und mitten in sie hinein ging der Duft, direkt ans Herz, und unterschied dort kategorisch uber Zuneigung und Verachtung, Ekel und Lust, Liebe und Hass. Wer die Geruche beherrschte, der beherrschte die Herzen der Menschen.
          Ganz gelust saß Grenouille auf der Bank im Dom von Saint-Pierre und luchelte. Er war nicht euphorischer Stimmung, als er den Plan fasste, Menschen zu beherrschen. Es war kein wahnsinniges Flackern in seinen Augen, und keine verruckte Grimasse uberzog sein Gesicht. Er war nicht von Sinnen. So klaren und heiteren Geistes war er, dass er sich fragte, warum uberhaupt er es wollte. Und er sagte sich, dass er es wolle, weil er durch und durch buse sei. Und er luchelte dabei und war sehr zufrieden. Er sah ganz unschuldig aus, wie irgendein Mensch, der glucklich ist.
          Eine Weile lang blieb er so sitzen, in anduchtiger Ruhe, und atmete die weihrauchsatte Luft in tiefen Zugen ein. Und wieder ging ein heiteres Schmunzeln uber sein Gesicht: Wie miserabel dieser Gott doch roch! Wie lucherlich schlecht doch der Duft gemacht war, den dieser Gott von sich verstrumen ließ. Nicht einmal echter Weihrauchduft war es, was aus den Pfannen qualmte. Schlechtes Surrogat war es, verfulscht mit Lindenholz und Zimtstaub und Salpeter. Gott stank. Gott war ein kleiner armer Stinker. Er war betrogen, dieser Gott, oder er war selbst ein Betruger, nicht anders als Grenouille - nur ein um so viel schlechterer!

    33


          Der Marquis de la Taillade-Espinasse war entzuckt von dem neuen Parfum. Es sei, so sagte er, selbst fur ihn als Entdecker des letalen Fluidums, verbluffend zu sehen, welch eklatanten Einfluss ein so nebensuchliches und fluchtiges Ding wie ein Parfum, je nachdem, ob es aus erdverbundnen oder erdentruckten Provenienzen stamme, auf den allgemeinen Zustand eines Individuums nehme. Grenouille, der noch vor wenigen Stunden blass und einer Ohnmacht nahe hier gelegen, sehe so frisch und bluhend aus wie nur irgendein gesunder Mensch seines Alters, ja, man kunne sagen, dass er - mit allen Einschrunkungen, die bei einem Manne seines Standes und seiner geringen Bildung angebracht seien - fast so etwas wie Persunlichkeit gewonnen habe. Auf jeden Fall werde er, Taillade-Espinasse, im Kapitel uber vitale Diutetik seiner demnuchst erscheinenden Abhandlung zur fluidalen Letaltheorie von dem Vorfall Mitteilung machen. Zunuchst wolle er sich nun aber selbst mit dem neuen Duft parfumieren.
          Grenouille hundigte ihm die beiden Flakons mit dem konventionellen Blutenduft aus, und der Marquis besprengte sich damit. Er zeigte sich hochbefriedigt von der Wirkung. Ein wenig sei ihm, so gestand er, nachdem er jahrelang von dem entsetzlichen Veilchenduft wie von Blei belastet gewesen, als wuchsen ihm blutene Flugel; und wenn er nicht irre, so lasse der grußliche Schmerz seines Knies ebenso nach wie das Sausen der Ohren; alles in allem fuhle er sich beschwingt, ionisiert und um etliche Jahre verjungt. Er ging auf Grenouille zu, umarmte ihn und nannte ihn "mein fluidaler Bruder", hinzufugend, es handle sich dabei keineswegs um eine gesellschaftliche, sondern um eine rein spirituelle Anrede in conspectu universalitatis fluidi letalis, vor welchem - und vor welchem allein! - alle Menschen gleich seien; auch plane er - und dies sagte er, indem er sich von Grenouille luste, und zwar sehr freundschaftlich, nicht im geringsten angewidert, fast wie von seinesgleichen luste - , in Bulde eine internationale suprastundische Loge zu grunden, deren Ziel es sei, das fluidum letale vollstundig zu uberwinden, um es in kurzester Zeit durch reines fluidum vitale zu ersetzen, und als deren ersten Proselyten Grenouille zu gewinnen er schon jetzt verspreche. Dann ließ er sich die Rezeptur fur das Blutenparfum auf einen Zettel schreiben, steckte diesen zu sich und schenkte Grenouille funfzig Louisdor.
          Punktlich eine Woche nach seinem ersten Vortrag prusentierte der Marquis de la Taillade-Espinasse seinen Schutzling abermals in der Aula der Universitut. Der Andrang war ungeheuer. Ganz Montpellier war gekommen, nicht allein das wissenschaftliche, auch und gerade das gesellschaftliche Montpellier, darunter viele Damen, die den sagenhaften Huhlenmenschen sehen wollten. Und obwohl die Gegner Taillades, hauptsuchlich Vertreter des >Freundeskreises der botanischen Universitutsgurten< und Mitglieder des >Vereins zur Furderung der Agrikultur<, all ihre Anhunger mobilisiert hatten, wurde die Veranstaltung ein fulminanter Erfolg. Um dem Publikum Grenouilles Zustand vor Wochenfrist ins Geduchtnis zu rufen, ließ Taillade-Espinasse zunuchst Zeichnungen kursieren, die den Huhlenmenschen in seiner ganzen Hußlichkeit und Verkommenheit zeigten. ann ließ er den neuen Grenouille hereinfuhren, im schunen samtblauen Rock und seidenen Hemd, geschminkt, gepudert und frisiert; und schon die Art, wie er ging, aufrecht numlich und mit zierlichen Schritten und elegantem Huftschwung, wie er ganz ohne fremde Hilfe das Podest erklomm, sich tief verbeugte, bald hier-, bald dorthin luchelnd nickte, ließ alle Zweifler und Kritiker verstummen. Selbst die Freunde der botanischen Universitutsgurten schwiegen betreten. Zu eklatant war die Verunderung, zu uberwultigend das Wunder, das hier offenbar geschehen war: Wo vor Wochenfrist ein geschundenes, verrohtes Tier gekauert hatte, da stand jetzt wahrhaftig ein zivilisierter, wohlgestalter Mensch. Es breitete sich eine fast anduchtige Stimmung im Saale aus, und als Taillade-Espinasse zum Vortrag anhob, herrschte vollkommene Stille. Er entwickelte abermals seine sattsam bekannte Theorie des letalen Erdfluidums, erluuterte dann, mit welchen mechanischen und diutetischen Mitteln er es aus dem Kurper des Demonstranten vertrieben und durch Vitalfluidum ersetzt habe, und forderte schließlich alle Anwesenden auf, Freunde wie Gegner, angesichts solch uberwultigender Evidenz den Widerstand gegen die neue Lehre aufzugeben und gemeinsam mit ihm, Taillade-Espinasse, das buse Fluidum zu bekumpfen und sich dem guten vitalen Fluidum zu uffnen. Hierbei breitete er die Arme aus und schlug die Augen gen Himmel, und viele der gelehrten Munner taten es ihm gleich, und die Frauen weinten.
          Grenouille stand auf dem Podest und hurte nicht zu. Er beobachtete mit grußter Genugtuung die Wirkung eines ganz anderen Fluidums, eines viel realeren: seines eignen. Er hatte sich, den ruumlichen Erfordernissen der Aula entsprechend, sehr stark parfumiert, und die Aura seines Duftes strahlte, kaum dass er das Podium bestiegen hatte, muchtig von ihm ab. Er sah sie - in der Tat sah er sie sogar mit Augen! - die zuvorderst sitzenden Zuschauer erfassen, sich weiter nach hinten fortpflanzen und endlich die letzten Reihen und die Galerie erreichen. Und wen sie erfasste - das Herz im Leibe sprang Grenouille vor Freude -, den verunderte sie sichtbar. Im Banne seines Duftes, aber ohne sich dessen bewusst zu sein, wechselten die Menschen ihren Gesichtsausdruck, ihr Gehabe, ihr Gefuhl. Wer ihn zunuchst nur mit bassem Erstaunen beglotzt hatte, der sah ihn nun mit milderem Auge an; wer zuruckgelehnt in seinem Stuhl verharrt hatte, mit kritisch gefurchter Stirn und bedeutend herabgezogenen Mundwinkeln, der lehnte sich jetzt lockerer nach vorn und bekam ein kindlich gelustes Gesicht; und selbst in den Gesichtern der ungstlichen, der Verschreckten, der Allersensibelsten, die seinen ehemaligen Anblick nur mit Entsetzen und seinen jetzigen immerhin noch mit gehuriger Skepsis ertragen konnten, zeigten sich Anfluge von Freundlichkeit, ja Sympathie, als sein Duft sie erreichte. Am Ende des Vertrags erhob sich die ganze Versammlung und brach in frenetischen Jubel aus. "Es lebe das vitale Fluidum! Es lebe Taillade-Espinasse! Hoch die fluidale Theorie! Nieder mit der orthodoxen Medizin!" - so schrie das gelehrte Volk von Montpellier, der bedeutendsten Universitutsstadt des franzusischen Sudens, und der Marquis de la Taillade-Espinasse hatte die grußte Stunde seines Lebens.
          Grenouille aber, der nun von seinem Podest herunterstieg und sich unter die Menge mischte, wusste, dass die Ovationen eigentlich ihm galten, ihm Jean-Baptiste Grenouille allein, auch wenn keiner der Jubler im Saal davon etwas ahnte.

    34


          Er blieb noch einige Wochen in Montpellier. Er hatte eine ziemliche Beruhmtheit erlangt und wurde in die Salons eingeladen, wo man ihn nach seinem Huhlenleben und nach seiner Heilung durch den Marquis befragte. Immer wieder musste er die Geschichte von den Ruubern erzuhlen, die ihn verschleppt hatten, und von dem Korb, der herabgelassen wurde, und von der Leiter. Und jedesmal schmuckte er sie pruchtiger aus und erfand neue Details hinzu. So bekam er wieder eine gewisse ubung im Sprechen - freilich eine sehr beschrunkte, denn mit der Sprache hatte er es zeitlebens nicht - und, was ihm wichtiger war, einen routinierteren Umgang mit der Luge.
          Im Grunde, so stellte er fest, konnte er den Leuten erzuhlen, was er wollte. Wenn sie einmal Vertrauen gefasst hatten - und sie fassten Vertrauen zu ihm mit dem ersten Atemzug, den sie von seinem kunstlichen Geruch inhalierten -, dann glaubten sie alles. Er bekam des weiteren eine gewisse Sicherheit im gesellschaftlichen Umgang, wie er sie niemals besessen hatte. Sie druckte sich sogar kurperlich aus. Es war, als sei er gewachsen. Sein Buckel schien zu schwinden. Er ging beinahe vollkommen aufrecht. Und wenn er angesprochen wurde, so zuckte er nicht mehr zusammen, sondern blieb aufrecht stehen und hielt den auf ihn gerichteten Blicken stand. Freilich, es wurde in dieser Zeit kein Mann von Welt aus ihm, kein Salonluwe oder souveruner Gesellschafter. Aber es fiel doch zusehends das Verdruckte, Linkische von ihm ab und machte einer Haltung Platz, die als naturliche Bescheidenheit oder allenfalls als eine leichte angeborene Schuchternheit gedeutet wurde und die auf manchen Herrn und manche Dame einen anruhrenden Eindruck machte - man hatte damals in mondunen Kreisen ein Faible furs Naturliche und fur eine Art ungehobelten Charmes.
          Anfang Murz packte er seine Sachen und zog davon, heimlich, eines Tags in aller Fruh, kaum dass die Tore geuffnet waren, bekleidet mit einem unscheinbaren braunen Rock, den er am Vortag auf dem Altkleidermarkt erworben hatte, und einem schubigen Hut, der sein Gesicht halb verdeckte. Niemand erkannte ihn, niemand sah oder bemerkte ihn, denn er hatte an diesem Tag mit Vorbedacht auf sein Parfum verzichtet. Und als der Marquis gegen Mittag Nachforschungen anstellen ließ, schworen die Wachen Stein und Bein, sie hutten zwar alle muglichen Leute die Stadt verlassen gesehen, nicht aber jenen bekannten Huhlenmenschen, der ihnen ganz bestimmt aufgefallen wure. Der Marquis ließ daraufhin verbreiten, Grenouille habe Montpellier mit seinem Einverstundnis verlassen, um in Familienangelegenheiten nach Paris zu reisen. Insgeheim urgerte er sich allerdings furchterlich, denn er hatte vorgehabt, mit Grenouille eine Tournee durch das ganze Kunigreich zu unternehmen, um Anhunger fur seine Fluidaltheorie zu werben.
          Nach einiger Zeit beruhigte er sich wieder, denn sein Ruhm verbreitete sich auch ohne Tournee, fast ohne sein Zutun. Es erschienen lange Artikel uber das fluidum letale Taillade im >Journal des Suavans< und sogar im >Courier de l'Europe<, und von weit her kamen letalverseuchte Patienten, um sich von ihm heilen zu lassen. Im Sommer 1764 grundete er die erste >Loge des vitalen Fluidums<, die in Montpellier 120 Mitglieder zuhlte und Zweigstellen in Marseille und Lyon einrichtete. Dann beschloss er, den Sprung nach Paris zu wagen, um von dort die ganze zivilisierte Welt fur seine Lehre zu erobern, wollte vorher aber noch zur propagandistischen Unterstutzung seines Feldzugs eine fluidale Großtat vollbringen, welche die Heilung des Huhlenmenschen sowie alle anderen Experimente in den Schatten stellte, und ließ sich Anfang Dezember von einer Gruppe unerschrockener Adepten zu einer Expedition auf den Pic du Canigou begleiten, der auf demselben Meridian wie Paris lag und fur den huchsten Berg der Pyrenuen galt. Der an der Schwelle zum Greisenalter stehende Mann wollte sich auf den 2800 Meter hohen Gipfel tragen lassen und sich dort drei Wochen lang der schiersten, frischesten Vitalluft aussetzen, um, wie er verkundigte, punktlich am Heiligen Abend als kregler Jungling von zwanzig Jahren wieder herabzusteigen.
          Die Adepten gaben schon kurz hinter Vernet, der letzten menschlichen Siedlung am Fuße des furchterlichen Gebirges, auf. Den Marquis jedoch focht nichts an. In der Eiseskulte seine Kleider von sich werfend und laute Jauchzer ausstoßend, begann er den Aufstieg allein. Das letzte, was von ihm gesehen wurde, war seine Silhouette, die mit ekstatisch zum Himmel erhobenen Hunden und singend im Schneesturm verschwand.
          Am Heiligen Abend warteten die Junger vergebens auf die Wiederkunft des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er kam weder als Greis noch als Jungling. Auch im Fruhsommer des nuchsten Jahres, als sich die Wagemutigsten auf die Suche machten und den noch immer verschneiten Gipfel des Pic du Canigou erklommen, fand sich nichts mehr von ihm, kein Kleidungsstuck, kein Kurperteil, kein Knuchelchen.
          Seiner Lehre tat dies freilich keinen Abbruch. Im Gegenteil. Es ging bald die Sage, er habe sich auf der Spitze des Berges mit dem ewigen Vitalfluidum vermuhlt, sich in es und es in sich aufgelust und schwebe fortan unsichtbar, aber in ewiger Jugend uber den Gipfeln der Pyrenuen, und wer hinaufsteige zu ihm, der werde seiner teilhaftig und bliebe ein Jahr lang von Krankheit und vom Prozess des Alterns verschont. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wurde Taillades Fluidaltheorie an manchem medizinischen Lehrstuhl verfochten und in vielen okkulten Vereinen therapeutisch angewendet. Und noch heute gibt es zu beiden Seiten der Pyrenuen, namentlich in Perpignan und Figueras, geheime Tailladistenlogen, die sich einmal im Jahr treffen, um den Pic du Camgou zu besteigen.
          Dort zunden sie ein großes Feuer an, vorgeblich aus Anlass der Sonnenwende und zu Ehren des heiligen Johannes - in Wirklichkeit aber, um ihrem Meister Taillade-Espinasse und seinem großen Fluidum zu huldigen und um das ewige Leben zu erlangen.

    DRITTER TEIL


    35


          Wuhrend Grenouille fur die erste Etappe seiner Reise durch Frankreich sieben Jahre gebraucht hatte, brachte er die zweite in weniger als sieben Tagen hinter sich. Er mied die belebten Straßen und die Studte nicht mehr, er machte keine Umwege. Er hatte einen Geruch, er hatte Geld, er hatte Selbstvertrauen, und er hatte es eilig.
          Schon am Abend des Tages, da er Montpellier verlassen hatte, erreichte er Le Grau-du-Roi, eine kleine Hafenstadt sudwestlich von Aigues-Mortes, wo er sich auf einen Lastensegler nach Marseille einschiffte. In Marseille verließ er den Hafen gar nicht erst, sondern suchte gleich ein Schiff, das ihn weiter die Kuste entlang nach Osten brachte. Zwei Tage sputer war er in Toulon, nach drei weiteren Tagen in Cannes. Den Rest des Weges ging er zu Fuß. Er folgte einem Pfad, der landeinwurts nach Norden fuhrte, die Hugel hinauf.
          Nach zwei Stunden stand er auf der Kuppe, und vor ihm breitete sich ein mehrere Meilen umfassendes Becken aus, eine Art riesiger landschaftlicher Schussel, deren Umgrenzung ringsum aus sanft ansteigenden Hugeln und schroffen Bergketten bestand und deren weite Mulde mit frischbestellten Feldern, Gurten und Olivenhainen uberzogen war. Es lag ein vullig eignes, sonderbar intimes Klima uber dieser Schussel. Obwohl das Meer so nah war, dass man es von den Hugelkuppen aus sehen konnte, herrschte hier nichts Maritimes, nichts Salzig-Sandiges, nichts Offenes, sondern stille Abgeschiedenheit, ganz so, als wure man viele Tagesreisen von der Kuste entfernt. Und obwohl nach Norden zu die großen Gebirge standen, auf denen noch der Schnee lag und noch lange liegen wurde, war hier nichts Rauhes oder Karges zu spuren und kein kalter Wind. Der Fruhling war weiter vorangeschritten als in Montpellier. Ein milder Dunst deckte die Felder wie eine gluserne Glocke. Aprikosen- und Mandelbuume bluhten, und die warme Luft durchzog der Duft von Narzissen.
          Am anderen Ende der großen Schussel, vielleicht zwei Meilen entfernt, lag, oder besser gesagt, klebte an den ansteigenden Bergen eine Stadt. Sie machte aus der Entfernung gesehen keinen besonders pompusen Eindruck. Da war kein muchtiger Dom, der die Huuser uberragte, bloß ein kleiner Stumpen von Kirchturm, keine dominierende Feste, kein auffallend pruchtiges Gebuude. Die Mauern schienen alles andere als trutzig, da und dort quollen die Huuser uber ihre Begrenzung hinaus, vor allem nach unten zur Ebene hin, und verliehen dem Weichbild ein etwas zerfleddertes Aussehen. Es war, als sei dieser Ort schon zu oft erobert und wieder entsetzt worden, als sei er es mude, kunftigen Eindringlingen noch ernsthaften Widerstand entgegenzusetzen - aber nicht aus Schwuche, sondern aus Lussigkeit oder sogar aus einem Gefuhl von Sturke. Er sah aus, als habe er es nicht nutig zu prunken. Er beherrschte die große duftende Schussel zu seinen Fußen, und das schien ihm zu genugen.
          Dieser zugleich unansehnliche und selbstbewusste Ort war die Stadt Grasse, seit einigen Jahrzehnten unumstrittene Produktions- und Handelsmetropole fur Duftstoffe, Parfumeriewaren, Seifen und ule. Giuseppe Baldini hatte ihren Namen immer mit schwurmerischer Verzuckung ausgesprochen. Ein Rom der Dufte sei die Stadt, das gelobte Land der Parfumeure, und wer nicht seine Sporen hier verdient habe, der trage nicht zu Recht den Namen Parfumeur.
          Grenouille sah mit sehr nuchternem Blick auf die Stadt Grasse. Er suchte kein gelobtes Land der Parfumerie, und ihm ging das Herz nicht auf im Angesicht des Nestes, das da druben an den Hungen klebte. Er war gekommen, weil er wusste, dass es dort einige Techniken der Duftgewinnung besser zu lernen gab als anderswo. Und diese wollte er sich aneignen, denn er brauchte sie fur seine Zwecke. Er zog den Flakon mit seinem Parfum aus der Tasche, betupfte sich sparsam und machte sich auf den Weg. Anderthalb Stunden sputer, gegen Mittag, war er in Grasse.
          Er aß in einem Gasthof am oberen Ende der Stadt, an der Place aux Aires. Der Platz war der Lunge nach von einem Bach durchschnitten, an dem die Gerber ihre Huute wuschen, um sie anschließend zum Trocknen auszubreiten. Der Geruch war so stechend, dass manchem der Guste der Geschmack am Essen verging. Ihm, Grenouille, nicht. Ihm war der Geruch vertraut, ihm gab er ein Gefuhl von Sicherheit. In allen Studten suchte er immer zuerst die Viertel der Gerber auf. Es war ihm dann, als sei er, aus der Sphure des Gestankes kommend und von dort aus die anderen Regionen des Orts erkundend, kein Fremdling mehr.
          Den ganzen Nachmittag uber durchstreifte er die Stadt. Sie war unglaublich schmutzig, trotz oder vielmehr gerade wegen des vielen Wassers, das aus Dutzenden von Quellen und Brunnen sprudelte, in ungeregelten Buchen und Rinnsalen stadtabwurts gurgelte und die Gassen unterminierte oder mit Schlamm uberschwemmte. Die Huuser standen in manchen Vierteln so dicht, dass fur die Durchlusse und Treppchen nur noch eine Elle weit Platz blieb und sich die im Schlamm watenden Passanten aneinander vorbeipressen mussten. Und selbst auf den Plutzen und den wenigen breiteren Straßen konnten die Fuhrwerke einander kaum ausweichen.
          Dennoch, bei allem Schmutz, bei aller Schmuddligkeit und Enge, barst die Stadt vor gewerblicher Betriebsamkeit. Nicht weniger als sieben Seifenkochereien machte Grenouille bei seinem Rundgang aus, ein Dutzend Parfumerie- und Handschuhmachermeister, unzuhlige kleinere Destillen, Pomadeateliers und Spezereien und schließlich einige sieben Hundler, die Dufte en gros vertrieben.
          Dies waren nun allerdings Kaufleute, die uber wahre Duftstoffgroßkontore verfugten. Anzusehen war es ihren Huusern oftmals kaum. Die zur Straße hin gelegenen Fassaden sahen burgerlich bescheiden aus. Doch was dahinter lagerte, auf Speichern und in riesenhaften Kellern, an Fussern von ul, an Stapeln von feinster Lavendelseife, an Ballons von Blutenwussern, Weinen, Alkoholen, an Ballen von Duftleder, an Sucken und Truhen und Kisten, vollgestopft mit Gewurzen... - Grenouille roch es in allen Einzelheiten durch die dicksten Mauern -, das waren Reichtumer, wie sie Fursten nicht besaßen. Und wenn er schurfer hinroch, durch die zur Straße gelegenen prosaischen Geschufts- und Lagerruume hindurch, dann entdeckte er, dass auf der Ruckseite dieser kleinkarierten Burgerhuuser sich Gebuulichkeiten der luxuriusesten Art befanden. Um kleine, aber reizende Gurten, in denen Oleander und Palmen gediehen und zierliche von Rabatten umfasste Springbrunnen gur gelten, dehnten sich, meist U-furmig nach Suden gebaut, die eigentlichen Flugel der Anwesen aus: sonnendurchflutete, seidentapetenbespannte Schlafgemucher in den Obergeschossen, pruchtige mit exotischem Holz getufelte Salons zu ebener Erde und Speisesule, bisweilen terrassenhaft ins Freie vorgebaut, in denen tatsuchlich, wie Baldini erzuhlt hatte, mit goldenem Besteck von porzellanenen Tellern gegessen wurde. Die Herren, die hinter diesen bescheidenen Kulissen wohnten, rochen nach Gold und nach Macht, nach schwerem gesichertem Reichtum, und sie rochen sturker danach als alles, was Grenouille bisher auf seiner Reise durch die Provinz in dieser Hinsicht gerochen hatte.
          Vor einem der camouflierten Palazzi blieb er lungere Zeit stehen. Das Haus befand sich am Anfang der Rue Droite, einer Hauptstraße, die die Stadt in ihrer ganzen Lunge von Westen nach Osten durchzog. Es war nicht außergewuhnlich anzusehen, wohl etwas breiter und behubiger an der Front als die Nachbargebuude, aber durchaus nicht imposant. Vor der Toreinfahrt stand ein Wagen mit Fussern, die uber eine Pritsche entladen wurden. Ein zweites Fuhrwerk wartete. Ein Mann ging mit Papieren ins Kontor, kam mit einem anderen Mann wieder heraus, beide verschwanden in der Toreinfahrt. Grenouille stand an der gegenuberliegenden Straßenseite und sah dem Treiben zu. Was da vor sich ging, interessierte ihn nicht. Trotzdem blieb er stehen. Irgendetwas hielt ihn fest.
          Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geruche, die ihm von dem Gebuude gegenuber zuflogen. Da waren die Geruche der Fusser, Essig und Wein, dann die hundertfultigen schweren Geruche des Lagers, dann die Geruche des Reichtums, die aus den Mauern transpirierten wie feiner goldener Schweiß, und schließlich die Geruche eines Gartens, der auf der anderen Seite des Hauses liegen musste. Es war nicht leicht, diese zarteren Dufte des Gartens aufzufangen, denn sie zogen nur in dunnen Streifen uber den Giebel des Hauses hinweg herab auf die Straße. Grenouille machte Magnolien aus, Hyazinthen, Seidelbast und Rhododendron... - aber da schien noch etwas anderes zu sein, etwas murderisch Gutes, was in diesem Garten duftete, ein Geruch so exquisit, wie er ihn in seinem Leben noch nicht - oder doch nur ein einziges Mal - in die Nase bekommen hatte... Er musste nuher an diesen Duft heran.
          Er uberlegte, ob er einfach durch die Toreinfahrt in das Anwesen eindringen sollte. Aber da waren unterdessen so viele Leute mit dem Abladen und dem Kontrollieren der Fusser beschuftigt, dass er sicher aufgefallen wure. Er entschloss sich, die Straße zuruckzugehen, um eine Gasse oder einen Durchlaß zu finden, der vielleicht an der Querseite des Hauses entlangfuhrte. Nach wenigen Metern hatte er das Stadttor am Beginn der Rue Droite erreicht. Er durchschritt es, hielt sich scharf links und folgte dem Verlauf der Stadtmauer bergabwurts. Nicht weit, und er roch den Garten, erst schwach, noch mit der Luft der Felder vermischt, dann immer sturker. Schließlich wusste er, dass er ihm ganz nahe war. Der Garten grenzte an die Stadtmauer. Er war direkt neben ihm. Wenn er ein wenig zurucktrat, konnte er uber die Mauer hinweg die obersten Zweige der Orangenbuume sehen.
          Wieder schloss er die Augen. Die Dufte des Gartens fielen uber ihn her, deutlich und klar konturiert wie die farbigen Bunder eines Regenbogens. Und der eine, der kostbare, der, auf den es ihm ankam, war darunter. Grenouille wurde es heiß vor Wonne und kalt vor Schrecken. Das Blut stieg ihm zu Kopfe wie einem ertappten Buben, und es wich zuruck in die Mitte des Kurpers, und es stieg wieder und wich wieder, und er konnte nichts dagegen tun. Zu plutzlich war diese Geruchsattacke gekommen. Fur einen Augenblick, fur einen Atemzug lang, fur die Ewigkeit schien ihm, als sei die Zeit verdoppelt oder radikal verschwunden, denn er wusste nicht mehr, war jetzt jetzt und war hier hier, oder war nicht vielmehr jetzt damals und hier dort, numlich Rue des Marais in Paris, September 1753: Der Duft, der aus dem Garten heruberwehte, war der Duft des rothaarigen Mudchens, das er damals ermordet hatte. Dass er diesen Duft in der Welt wiedergefunden hatte, trieb ihm Trunen der Gluckseligkeit in die Augen - und dass es nicht wahr sein konnte, ließ ihn zu Tode erschrecken.
          Ihm schwindelte, und er taumelte ein wenig und musste sich gegen die Mauer stutzen und langsam an ihr herab in die Hocke gleiten lassen. Sich dort versammelnd und seinen Geist bezuhmend, begann er, den fatalen Duft in kurzeren, weniger riskanten Atemzugen einzuziehen. Und er stellte fest, dass der Duft hinter der Mauer dem Duft des rothaarigen Mudchens zwar extrem uhnlich, aber nicht vollkommen gleich war. Freilich stammte er ebenfalls von einem rothaarigen Mudchen, daran war kein Zweifel muglich. Grenouille sah dieses Mudchen in seiner olfaktorischen Vorstellung wie auf einem Bilde vor sich: Es saß nicht still, sondern es sprang hin und her, es erhitzte sich und kuhlte sich wieder ab, offenbar spielte es ein Spiel, bei dem man sich rasch bewegen und rasch wieder stillstehen musste - mit einer zweiten Person ubrigens von vullig unsignifikantem Geruch. Es hatte blendendweiße Haut. Es hatte grunliche Augen. Es hatte Sommersprossen im Gesicht, am Hals und an den Brusten... das heisst - Grenouille stockte fur einen Moment der Atem, dann schnupperte er heftiger und versuchte, die Geruchserinnerung an das Mudchen aus der Rue des Marais zuruckzudrungen -... das heißt, dieses Mudchen hatte noch gar keine Bruste im wahren Sinne des Wortes! Es hatte kaum beginnende Ansutze von Brusten. Es hatte unendlich zart und gering duftende, von Sommersprossen umsprenkelte, sich vielleicht erst seit wenigen Tagen, vielleicht erst seit wenigen Stunden,... seit diesem Augenblick eigentlich erst, sich zu dehnen beginnende Huubchen von Brustchen. Mit einem Wort: Das Mudchen war noch ein Kind. Aber was fur ein Kind!
          Grenouille stand der Schweiß auf der Stirn. Er wusste, dass Kinder nicht sonderlich rochen, ebensowenig wie die grun aufschießenden Blumen vor ihrer Blute. Diese aber, diese fast noch geschlossene Blute hinter der Mauer, die gerade eben erst, und noch von niemandem als ihm, Grenouille, bemerkt, die ersten duftenden Spitzen hervortrieb, duftete schon jetzt so haarstruubend himmlisch, dass, wenn sie sich erst zu ganzer Pracht entfaltet haben wurde, sie ein Parfum verstrumen wurde, wie es die Welt noch nicht gerochen hatte. Sie riecht schon jetzt besser, dachte Grenouille, als damals das Mudchen aus der Rue des Marais - nicht so kruftig, nicht so voluminus, aber feiner, facettenreicher und zugleich naturlicher. In ein bis zwei Jahren aber wurde dieser Geruch gereift sein und eine Wucht bekommen, der sich kein Mensch, weder Mann noch Frau, wurde entziehen kunnen. Und die Leute wurden uberwultigt sein, entwaffnet, hilflos vor dem Zauber dieses Mudchens, und sie wurden nicht wissen, warum. Und weil sie dumm sind und ihre Nasen nur zum Schnaufen gebrauchen kunnen, alles und jedes aber mit ihren Augen zu erkennen glauben, wurden sie sagen, es sei, weil dieses Mudchen Schunheit besitze und Grazie und Anmut. Sie wurden in ihrer Beschrunktheit seine ebenmußigen Zuge ruhmen, die schlanke Figur, den tadellosen Busen. Und ihre Augen, wurden sie sagen, seien wie Smaragde und die Zuhne wie Perlen und ihre Glieder elfenbeinglatt - und was der idiotischen Vergleiche noch mehr sind. Und sie wurden sie zur Jasminkunigin kuren, und sie wurde gemalt werden von bluden Portrutisten, ihr Bild wurde begafft werden, man wurde sagen, sie sei die schunste Frau Frankreichs. Und Junglinge werden nuchtelang zu Mandolinenklungen heulend unter ihrem Fenster sitzen... dicke reiche alte Munner auf den Knien rutschend ihren Vater um ihre Hand anbetteln... und Frauen jeden Alters werden bei ihrem Anblick seufzen und im Schlaf davon truumen, nur einen Tag lang so verfuhrerisch auszusehen wie sie. Und sie werden alle nicht wissen, dass es nicht ihr Aussehen ist, dem sie in Wahrheit verfallen sind, nicht ihre angeblich makellose uußere Schunheit, sondern einzig ihr unvergleichlicher, herrlicher Duft! Nur er wurde es wissen, er Grenouille, er allein. Er wusste es ja jetzt schon.
          Ach! Er wollte diesen Duft haben! Nicht auf so vergebliche, tuppische Weise haben wie damals den Duft des Mudchens aus der Rue des Marais. Den hatte er ja nur in sich hineingesoffen und damit zersturt. Nein, den Duft des Mudchens hinter der Mauer wollte er sich wahrhaftig aneignen; ihn wie eine Haut von ihr abziehen und zu seinem eigenen Duft machen. Wie das geschehen sollte, wusste er noch nicht. Aber er hatte ja zwei Jahre Zeit, es zu lernen. Es konnte im Grunde nicht schwieriger sein, als den Duft einer seltenen Blume zu rauben.
          Er stand auf. Anduchtig fast, als verließe er etwas Heiliges oder eine Schluferin, entfernte er sich, geduckt, leise, dass niemand ihn sehe, niemand ihn hure, niemand auf seinen kustlichen Fund aufmerksam werde. So floh er an der Mauer entlang bis ans entgegengesetzte Ende der Stadt, wo sich das Mudchenparfum endlich verlor und er an der Porte des Feneants wieder Einlass fand. Im Schatten der Huuser blieb er stehen. Der stinkende Dunst der Gassen gab ihm Sicherheit und half ihm, die Leidenschaft, die ihn uberfallen hatte, zu bundigen. Nach einer Viertelstunde war er wieder vollkommen ruhig geworden. Furs erste, dachte er, wurde er nicht mehr in die Nuhe des Gartens hinter der Mauer gehen. Es war nicht nutig. Es erregte ihn zu sehr. Die Blume dort gedieh ohne sein Zutun, und auf welche Weise sie gedeihen wurde, wusste er ohnehin. Er durfte sich nicht zur Unzeit an ihrem Duft berauschen. Er musste sich in Arbeit sturzen. Er musste seine Kenntnisse erweitern und seine handwerklichen Fuhigkeiten vervollkommnen, um fur die Zeit der Ernte gerustet zu sein. Er hatte noch zwei Jahre Zeit.

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          Nicht weit von der Porte des Feneants, in der Rue de la Louve, entdeckte Grenouille ein kleines Parfumeuratelier und fragte nach Arbeit.
          Es erwies sich, dass der Patron, Maitre Parfumeur Honore Arnulfi, im vergangenen Winter verstorben war und dass seine Witwe, eine lebhafte schwarzhaarige Frau von vielleicht dreißig Jahren, das Geschuft allein mit Hilfe eines Gesellen fuhrte.
          Madame Arnulfi, nachdem sie lange uber die schlechten Zeiten und uber ihre prekure wirtschaftliche Lage geklagt hatte, erklurte, dass sie sich zwar eigentlich keinen zweiten Gesellen leisten kunne, andrerseits aber wegen der vielen anfallenden Arbeit dringend einen brauche; dass sie außerdem einen zweiten Gesellen hier bei sich im Hause gar nicht wurde beherbergen kunnen, andrerseits aber uber eine kleine Kabane auf ihrem Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster - keine zehn Minuten von hier - verfuge, in welcher ein anspruchsloser junger Mensch zur Not wurde nuchtigen kunnen; dass sie ferner zwar als ehrliche Meisterin um ihre Verantwortung fur das leibliche Wohl ihrer Gesellen wisse, sich aber andrerseits ganz außerstande sehe, zwei warme Mahlzeiten am Tag zu gewuhren - mit einem Wort: Madame Arnulfi war - was Grenouille freilich schon lungst gerochen hatte - eine Frau von gesundem Wohlstand und gesundem Geschuftssinn. Und da es ihm selber auf Geld nicht ankam und er sich mit zwei Franc Lohn pro Woche und den ubrigen durftigen Bedingungen zufrieden erklurte, wurden sie schnell einig. Der erste Geselle wurde gerufen, ein riesenhafter Mann namens Druot, von dem Grenouille sofort erriet, dass er gewohnt war, Madames Bett zu teilen, und ohne dessen Konsultation sie offenbar gewisse Entscheidungen nicht traf. Er stellte sich vor Grenouille hin, der in Gegenwart dieses Hunen geradezu lucherlich windig aussah, breitbeinig, eine Wolke von Spermiengeruch verbreitend, musterte ihn, fasste ihn scharf ins Auge, als wolle er auf diese Weise irgendwelche unlauteren Absichten oder einen muglichen Nebenbuhler erkennen, grinste schließlich herablassend und gab mit einem Nicken sein Einverstundnis.
          Damit war alles geregelt. Grenouille erhielt einen Hundedruck, ein kaltes Abendbrot, eine Decke und den Schlussel fur die Kabane, einen fensterlosen Verschlag, der angenehm nach altem Schafmist und Heu roch und in dem er sich, so gut es ging, einrichtete. Am nuchsten Tag trat er seine Arbeit bei Madame Arnulfi an.
          Es war die Zeit der Narzissen. Madame Arnulfi ließ die Blumen auf eigenen kleinen Parzellen Landes ziehen, die sie unterhalb der Stadt in der großen Schussel besaß, oder sie kaufte sie von den Bauern, mit denen sie um jedes Lot erbittert feilschte. Die Bluten wurden schon in aller Fruh geliefert, kurbeweise in das Atelier geschuttet, zehntausendfach, in voluminusen, aber federleichten duftenden Haufen. Druot unterdessen verflussigte in einem großen Kessel Schweine- und Rindertalg zu einer cremigen Suppe, in die er, wuhrend Grenouille unaufhurlich mit einem besenlangen Spatel ruhren musste, scheffelweise die frischen Bluten schuttete. Wie zu Tode erschreckte Augen lagen sie fur eine Sekunde auf der Oberfluche und erbleichten in dem Moment, da der Spatel sie unterruhrte und das warme Fett sie umschloss. Und fast im selben Moment waren sie auch schon erschlafft und verwelkt, und offenbar kam der Tod so rasch uber sie, dass ihnen gar keine andere Wahl mehr blieb, als ihren letzten duftenden Seufzer eben jenem Medium einzuhauchen, das sie ertrunkte; denn - Grenouille gewahrte es zu seinem unbeschreiblichen Entzucken - je mehr Bluten er in seinem Kessel unterruhrte, desto sturker duftete das Fett. Und zwar waren es nicht etwa die toten Bluten, die im Fett weiterdufteten, nein, es war das Fett selbst, das sich den Duft der Bluten angeeignet hatte.
          Mitunter wurde die Suppe zu dick, und sie mussten sie rasch durch große Siebe gießen, um sie von den ausgelaugten Leichen zu befreien und fur frische Blutenbereit zu machen. Dann scheffelten und ruhrten und seihten sie weiter, den ganzen Tag uber ohne Pause, denn das Geschuft duldete keine Verzugerung, bis gegen Abend der ganze Blutenhaufen durch den Fettkessel gewandert war. Die Abfulle wurden - damit auch nichts verloren ginge - mit kochendem Wasser uberbruht und in einer Spindelpresse bis zum letzten Tropfen ausgewrungen, was immerhin noch ein zart duftendes ul abgab. Das Gros des Duftes aber, die Seele eines Meeres von Bluten, war im Kessel verblieben, eingeschlossen und bewahrt im unansehnlich grauweißen, nun langsam erstarrenden Fett.
          Am kommenden Tag wurde die Mazeration, wie man diese Prozedur nannte, fortgesetzt, der Kessel wieder angeheizt, das Fett verflussigt und mit neuen Bluten beschickt. So ging es mehrere Tage lang von fruh bis sput. Die Arbeit war anstrengend. Grenouille hatte bleierne Arme, Schwielen an den Hunden und Schmerzen im Rucken, wenn er abends in seine Kabane wankte. Druot, der wohl dreimal so kruftig wie er war, luste ihn kein einziges Mal beim Ruhren ab, sondern begnugte sich, die federleichten Bluten nachzuschutten, auf das Feuer aufzupassen und gelegentlich, der Hitze wegen, einen Schluck trinken zu gehen. Aber Grenouille muckte nicht auf. Klaglos ruhrte er die Bluten ins Fett, von morgens bis abends, und spurte wuhrend des Ruhrens die Anstrengung kaum, denn er war immer aufs neue fasziniert von dem Prozess, der sich unter seinen Augen und unter seiner Nase abspielte: dem raschen Welken der Bluten und der Absorption ihres Duftes.
          Nach einiger Zeit entschied Druot, dass das Fett nun gesuttigt sei und keinen weiteren Duft mehr absorbieren kunne. Sie luschten das Feuer, seihten die schwere Suppe zum letzten Mal ab und fullten sie in Tiegel aus Steingut, wo sie sich alsbald zu einer herrlich duftenden Pomade verfestigte.
          Dies war die Stunde von Madame Arnulfi, die kam, um das kostbare Produkt zu prufen, zu beschriften und die Ausbeute genauestens nach Qualitut und Quantitut in ihren Buchern zu verzeichnen. Nachdem sie die Tiegel huchstpersunlich verschlossen, versiegelt und in die kuhlen Tiefen ihres Kellers getragen hatte, zog sie ihr schwarzes Kleid an, nahm ihren Witwenschleier und machte die Runde bei den Kaufleuten und Parfumhandelshuusern der Stadt. Mit bewegenden Worten schilderte sie den Herren ihre Situation als alleinstehende Frau, ließ sich Angebote machen, verglich die Preise, seufzte und verkaufte endlich - oder verkaufte nicht. Parfumierte Pomade, kuhl gelagert, hielt sich lange. Und wenn die Preise jetzt zu wunschen ubrigließen, wer weiß, vielleicht kletterten sie im Winter oder nuchsten Fruhjahr in die Huhe. Auch war zu uberlegen, ob man nicht, statt diesen Pfeffersucken zu verkaufen, mit andern kleinen Produzenten gemeinsam eine Ladung Pomade nach Genua verschiffen oder sich an einem Konvoi zur Herbstmesse in Beaucaire beteiligen sollte - riskante Unternehmungen, gewiss, doch im Erfolgsfall uußerst eintruglich. Diese verschiedenen Muglichkeiten wog Madame Arnulfi sorgsam gegeneinander ab, und manchmal verband sie sie auch und verkaufte einen Teil ihrer Schutze, hob einen anderen auf und handelte mit einem dritten auf eigenes Risiko. Hatte sie allerdings bei ihren Erkundigungen den Eindruck gewonnen, der Pomademarkt sei ubersuttigt und werde sich in absehbarer Zeit nicht zu ihren Gunsten verknappen, so eilte sie wehenden Schleiers nach Hause und gab Druot den Auftrag, die ganze Produktion einer Lavage zu unterziehen und sie in Essence Absolue zu verwandeln.
          Und dann wurde die Pomade wieder aus dem Keller geholt, in verschlossenen Tupfen aufs Vorsichtigste erwurmt, mit feinstem Weingeist versetzt und vermittels eines eingebauten Ruhrwerks, welches Grenouille bediente, grundlich durchgemischt und ausgewaschen. Zuruck in den Keller verbracht, kuhlte diese Mischung rasch aus, der Alkohol schied sich vom erstarrenden Fett der Pomade und konnte in eine Flasche abgelassen werden. Er stellte nun quasi ein Parfum dar, allerdings von enormer Intensitut, wuhrend die zuruckbleibende Pomade den grußten Teil ihres Duftes verloren hatte. Abermals also war der Blutenduft auf ein anderes Medium ubergegangen. Doch damit war die Operation noch nicht zu Ende. Nach grundlicher Filtrage durch Gazetucher, in denen auch die kleinsten Klumpchen Fett zuruckgehalten wurden, fullte Druot den parfumierten Alkohol in einen kleinen Alambic und destillierte ihn uber dezentestem Feuer langsam ab. Was nach der Verfluchtigung des Alkohols in der Blase zuruckblieb, war eine winzige Menge blass gefurbter Flussigkeit, die Grenouille wohlbekannt war, die er aber in dieser Qualitut und Reinheit weder bei Baldini noch etwa bei Runel gerochen hatte: Das schiere ul der Bluten, ihr blanker Duft, hunderttausendfach konzentriert zu einerkleinen Pfutze Essence Absolue. Diese Essenz roch nicht mehr lieblich. Sie roch beinahe schmerzhaft intensiv, scharf und beizend. Und doch genugte schon ein Tropfen davon, aufgelust in einem Liter Alkohol, um sie wieder zu beleben und ein ganzes Feld von Blumen geruchlich wiederauferstehen zu lassen.
          Die Ausbeute war furchterlich gering. Gerade drei kleine Flakons fullte die Flussigkeit aus der Destillierblase. Mehr war von dem Duft von hunderttausend Bluten nicht ubriggeblieben als drei kleine Flakons. Aber sie waren ein Vermugen wert, schon hier in Grasse. Und um wie viel mehr noch, wenn man sie nach Paris verschickte oder nach Lyon, nach Grenoble, nach Genua oder Marseille! Madame Arnulfi bekam einen schmelzend schunen Blick beim Anschauen dieser Fluschchen, sie liebkoste sie mit Augen, und als sie sie nahm und mit fugig geschliffenen Glaspfropfen verstupselte, hielt sie den Atem an, um nur ja nichts vom kostbaren Inhalt zu verblasen. Und damit auch nach dem Verstupseln nicht das kleinste Atom verdunstenderweise entweiche, versiegelte sie die Pfropfen mit flussigem Wachs und umkapselte sie mit einer Fischblase, die sie am Flaschenhals fest verschnurte. Dann stellte sie sie in ein wattegefuttertes Kustchen und brachte sie im Keller hinter Schloss und Riegel.

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          Im April mazerierten sie Ginster und Orangenblute, im Mai ein Meer von Rosen, deren Duft die Stadt fur einen ganzen Monat in einen cremigsußen unsichtbaren Nebel tauchte. Grenouille arbeitete wie ein Pferd. Bescheiden, mit fast sklavenhafter Bereitschaft fuhrte er all die untergeordneten Tutigkeiten aus, die Druot ihm auftrug. Aber wuhrend er scheinbar stumpfsinnig ruhrte, spachtelte, Bottiche wusch, die Werkstatt putzte oder Feuerholz schleppte, entging seiner Aufmerksamkeit nichts von den wesentlichen Dingen des Geschufts, nichts von der Metamorphose der Dufte. Genauer als Druot es je vermocht hutte, mit seiner Nase numlich, verfolgte und uberwachte Grenouille die Wanderung der Dufte von den Bluttern der Bluten uber das Fett und den Alkohol bis in die kustlichen kleinen Flakons. Er roch, lange ehe Druot es bemerkte, wann sich das Fett zu stark erhitzte, er roch, wann die Blute erschupft, wann die Suppe mit Duft gesuttigt war, er roch, was im Innern der Mischgefuße geschah und zu welchem pruzisen Moment der Destillationsprozess beendet werden musste. Und gelegentlich gab er sich zu verstehen, freilich ganz unverbindlich und ohne seine unterwurfige Attitude abzulegen. Ihm komme so vor, sagte er, als sei das Fett jetzt womuglich zu heiß geworden; er glaube fast, man kunne demnuchst abseihen; er habe es irgendwie im Gefuhl, als sei der Alkohol im Alambic jetzt verdunstet... Und Druot, der zwar nicht gerade fabelhaft intelligent, aber auch nicht vullig dumpfkupfig war, bekam mit der Zeit heraus, dass er mit seinen Entscheidungen justament dann am besten fuhr, wenn er das tat oder anordnete, was Grenouille gerade "so glaubte" oder "irgendwie im Gefuhl" hatte. Und da Grenouille niemals vorlaut oder besserwisserisch uußerte, was er glaubte oder im Gefuhl hatte, und weil er niemals und vor allem niemals in Gegenwart von Madame Arnulfi - Druots Autoritut und seine pruponderante Stellung als des ersten Gesellen auch nur ironisch in Zweifel gezogen hutte, sah Druot keinen Anlass, Grenouilles Ratschlugen nicht zu folgen, ja, ihm sogar nicht mit der Zeit immer mehr Entscheidungen ganz offen zu uberlassen.
          Immer huufiger geschah es, dass Grenouille nicht mehr nur ruhrte, sondern zugleich auch beschickte, heizte und siebte, wuhrend Druot auf einen Sprung in die >Quatre Dauphins< verschwand, fur ein Glas Wein, oder hinauf zu Madame, um dort nach dem Rechten zu sehn. Er wusste, dass er sich auf Grenouille verlassen konnte. Und Grenouille, obwohl er doppelte Arbeit verrichtete, genoss es, allein zu sein, sich in der neuen Kunst zu perfektionieren und gelegentlich kleine Experimente zu machen. Und mit diebischer Freude stellte er fest, dass die von ihm bereitete Pomade ungleich feiner, dass seine Essence Absolue um Grade reiner war als die gemeinsam mit Druot erzeugte.
          Ende Juli begann die Zeit des Jasmins, im August die der Nachthyazinthe. Beide Blumen waren von so exquisitem und zugleich fragilem Parfum, dass ihre Bluten nicht nur vor Sonnenaufgang gepfluckt werden mussten, sondern auch die speziellste, zarteste Verarbeitung erheischten. Wurme verminderte ihren Duft, das plutzliche Bad im heißen Mazerationsfett hutte ihn vullig zersturt. Diese edelsten aller Bluten ließen sich ihre Seele nicht einfach entreißen, man musste sie ihnen regelrecht abschmeicheln. In einem besonderen Beduftungsraum wurden sie auf mit kuhlem Fett bestrichene Platten gestreut oder locker in ulgetrunkte Tucher gehullt und mussten sich langsam zu Tode schlafen. Erst nach drei oder vier Tagen waren sie verwelkt und hatten ihren Duft an das benachbarte Fett und ul abgeatmet. Dann zupfte man sie vorsichtig ab und streute frische Bluten aus. Der Vorgang wurde wohl zehn, zwanzig Mal wiederholt, und bis sich die Pomade sattgesogen hatte und das duftende ul aus den Tuchern abgepresst werden konnte, war es September geworden. Die Ausbeute war noch um ein Wesentliches geringer als bei der Mazeration. Die Qualitut aber einer solchen durch kalte Enfleurage gewonnenen Jasminpaste oder eines Huile Antique de Tubereuse ubertraf die jedes anderen Produkts der parfumistischen Kunst an Feinheit und Originaltreue. Namentlich beim Jasmin schien es, als habe sich der sußhaftende, erotische Duft der Blute auf den Fettplatten wie in einem Spiegel abgebildet und strahle nun vullig naturgetreu zuruck - cum grano salis freilich. Denn Grenouilles Nase erkannte selbstverstundlich noch den Unterschied zwischen dem Geruch der Blute und ihrem konservierten Duft: Wie ein zarter Schleier lag da der Eigengeruch des Fetts - es mochte so rein sein, wie es wollte - uber dem Duftbild des Originals, milderte es, schwuchte das Eklatante sanft ab, machte vielleicht sogar seine Schunheit fur gewuhnliche Menschen uberhaupt erst ertruglich... In jedem Falle aber war die kalte Enfleurage das raffinierteste und wirksamste Mittel, zarte Dufte einzufangen. Ein besseres gab es nicht. Und wenn die Methode auch nicht genugte, Grenouilles Nase vollkommen zu uberzeugen, so wusste er doch, dass sie zur Dupierung einer Welt von Dumpfnasen tausendmal hinreichte.
          Schon nach kurzer Zeit hatte er seinen Lehrmeister Druot, ebenso wie beim Mazerieren, auch in der Kunst der kalten Beduftung uberflugelt und ihm dies auf die bewuhrte, unterwurfig diskrete Weise klargemacht. Druot uberließ es ihm gerne, hinaus zum Schlachthof zu gehen und dort die geeignetsten Fette zu kaufen, sie zu reinigen, auszulassen, zu filtrieren und ihr Mischverhultnis zu bestimmen - eine fur Druot immer huchst diffizile und gefurchtete Aufgabe, denn ein unreines, ranziges oder zu sehr nach Schwein, Hammel oder Rind riechendes Fett konnte die kostbarste Pomade ruinieren. Er uberließ es ihm, den Abstand der Fettplatten im Beduftungsraum, den Zeitpunkt des Blutenwechsels, den Suttigungsgrad der Pomade zu bestimmen, uberließ ihm bald alle prekuren Entscheidungen, die er, Druot, uhnlich wie seinerzeit Baldini, immer nur ungefuhr nach angelernten Regeln treffen konnte, die Grenouille aber mit dem Wissen seiner Nase traf - was Druot freilich nicht ahnte.
          "Er hat eine gluckliche Hand", sagte Druot, "er hat ein gutes Gefuhl fur die Dinge." Und manchmal dachte er auch: "Er ist ganz einfach viel begabter als ich, er ist ein hundertmal besserer Parfumeur." Und zugleich hielt er ihn fur einen ausgemachten Trottel, da Grenouille, wie er glaubte, nicht das geringste Kapital aus seiner Begabung schlug, er aber, Druot, es mit seinen bescheideneren Fuhigkeiten demnuchst zum Meister bringen wurde. Und Grenouille besturkte ihn in dieser Meinung, gab sich mit Fleiß dummlich, zeigte nicht den geringsten Ehrgeiz, tat, als wisse er gar nichts von seiner eigenen Genialitut, sondern als handle er nur nach den Anordnungen des viel erfahreneren Druot, ohne den er ein Nichts wure. Auf diese Weise kamen sie recht gut miteinander aus.
          Dann wurde es Herbst und Winter. In der Werkstatt ging es ruhiger zu. Die Blutendufte lagen in Tiegeln und Flakons gefangen im Keller, und wenn nicht Madame die eine oder andre Pomade auszuwaschen wunschte oder einen Sack getrockneter Gewurze destillieren ließ, war nicht mehr allzu viel zu tun. Oliven gab es noch, Woche fur Woche ein paar Kurbe voll. Sie pressten ihnen das Jungfernul ab und gaben den Rest in die ulmuhle. Und Wein, von dem Grenouille einen Teil zu Alkohol destillierte und rektifizierte.
          Druot ließ sich immer weniger blicken. Er tat seine Pflicht im Bett von Madame, und wenn er erschien, nach Schweiß und Samen stinkend, so nur, um alsbald in die >Quatre Dauphins< zu verschwinden. Auch Madame kam selten herunter. Sie beschuftigte sich mit ihren Vermugensangelegenheiten und mit der Umarbeitung ihrer Garderobe fur die Zeit nach dem Trauerjahr. Oft sah Grenouille tagelang niemanden außer der Magd, bei der er mittags Suppe bekam und abends Brot und Oliven. Er ging kaum aus. Am korporativen Leben, namentlich den regelmußigen Gesellentreffen und Umzugen beteiligte er sich gerade so huufig, dass er weder durch seine Abwesenheit noch durch seine Gegenwart auffiel. Freundschaften oder nuhere Bekanntschaften hatte er keine, achtete aber peinlich darauf, nicht womuglich als arrogant oder außenseiterisch zu gelten. Er uberließ es den anderen Gesellen, seine Gesellschaft fad und unergiebig zu finden. Er war ein Meister in der Kunst, Langeweile zu verbreiten und sich als unbeholfenen Trottel zu geben - freilich nie so ubertrieben, dass man sich mit Genuss uber ihn lustig machen oder ihn als Opfer fur irgendeinen der derben Zunftspuße gebrauchen hutte kunnen. Es gelang ihm, als vollstundig uninteressant zu gelten. Man ließ ihn in Ruhe. Und nichts anderes wollte er.

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          Er verbrachte seine Zeit im Atelier. Druot gegenuber behauptete er, er wolle ein Rezept fur Kulnisches Wasser erfinden. In Wirklichkeit aber experimentierte er mit ganz anderen Duften. Sein Parfum, das er in Montpellier gemischt hatte, ging, obwohl er es sehr sparsam verwendete, allmuhlich zu Ende. Er kreierte ein neues. Aber diesmal begnugte er sich nicht mehr damit, aus hastig zusammengesetzten Materialien den Menschengrundgeruch schlecht und recht zu imitieren, sondern er setzte seinen Ehrgeiz daran, sich einen persunlichen Duft oder vielmehr eine Vielzahl persunlicher Dufte zuzulegen.
          Zunuchst machte er sich einen Unauffulligkeitsgeruch, ein mausgraues Duftkleid fur alle Tage, bei dem der kusigsuuerliche Duft des Menschlichen zwar noch vorhanden war, sich aber gleichsam nur noch wie durch eine dicke Schicht von leinenen und wollenen Gewundern, die uber trockne Greisenhaut gelegt sind, an die Außenwelt verstrumte. So riechend konnte er sich bequem unter Menschen begeben. Das Parfum war stark genug, um die Existenz einer Person olfaktorisch zu begrunden, und zugleich so diskret, dass es niemanden behelligte. Grenouille war damit geruchlich eigentlich nicht vorhanden und dennoch in seiner Prusenz immer aufs Bescheidenste gerechtfertigt - ein Zwitterzustand, der ihm sowohl im Hause Arnulfi als auch bei seinen gelegentlichen Gungen durch die Stadt sehr zupass kam.
          Bei gewissen Gelegenheiten freilich erwies sich der bescheidene Duft als hinderlich. Wenn er im Auftrag von Druot Besorgungen zu machen hatte oder fur sich selbst bei einem Hundler etwas Zibet oder ein paar Kurner Moschus kaufen wollte, konnte es geschehen, dass man ihn in seiner perfekten Unauffulligkeit entweder vullig ubersah und nicht bediente oder zwar sah, aber falsch bediente oder wuhrend des Bedienens wieder vergaß. Fur solche Anlusse hatte er sich ein etwas rasseres, leicht schweißiges Parfum zurechtgemixt, mit einigen olfaktorischen Ecken und Kanten, das ihm eine derbere Erscheinung verlieh und die Leute glauben machte, es sei ihm eilig und ihn trieben dringende Geschufte. Auch mit einer Imitation von Druots aura seminalis, die er mittels Beduftung eines fettigen Leintuchs durch eine Paste von frischen Enteneiern und angegorenem Weizenmehl tuuschend uhnlich herzustellen wusste, hatte er gute Erfolge, wenn es darum ging, ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit zu erregen.
          Ein anderes Parfum aus seinem Arsenal war ein mitleiderregender Duft, der sich bei Frauen mittleren und huheren Alters bewuhrte. Er roch nach dunner Milch und sauberem weichem Holz. Grenouille wirkte damit - auch wenn er unrasiert, finsterer Miene und bemuntelt auftrat - wie ein armer blasser Bub in einem abgewetzten Juckchen, dem geholfen werden musste. Die Marktweiber, wenn sie seiner anruchig wurden, steckten ihm Nusse und trockne Birnen zu, weil er so hungrig und hilflos aussah, wie sie fanden. Und bei der Frau des Metzgers, einer an und fur sich unerbittlich strengen Vettel, durfte er sich alte stinkende Fleisch- und Knochenreste aussuchen und gratis mitnehmen, denn sein Unschuldsduft ruhrte ihr mutterliches Herz. Aus diesen Resten wiederum bezog er durch direktes Digerieren mit Alkohol die Hauptkomponente eines Geruchs, den er sich zulegte, wenn er unbedingt allein und gemieden sein wollte. Der Geruch schuf um ihn eine Atmosphure leisen Ekels, einen fauligen Hauch, wie er beim Erwachen aus alten ungepflegten Mundern schlugt. Er war so wirkungsvoll, dass sogar der wenig zimperliche Druot sich unwillkurlich abwenden und das Freie aufsuchen musste, ohne sich freilich ganz deutlich bewusst zu werden, was ihn wirklich abgestoßen hatte. Und ein paar Tropfen des Repellents, auf die Schwelle der Kabane getruufelt, genugten, jeden muglichen Eindringling, Mensch oder Tier, fernzuhalten.
          Im Schutz dieser verschiedenen Geruche, die er je nach den uußeren Erfordernissen wie die Kleider wechselte und die ihm alle dazu dienten, in der Welt der Menschen unbehelligt zu sein und in seinem Wesen unerkannt zu bleiben, widmete sich Grenouille nun seiner wirklichen Leidenschaft: der subtilen Jagd nach Duften. Und weil er ein großes Ziel vor der Nase hatte und noch uber ein Jahr lang Zeit, ging er nicht nur mit brennendem Eifer, sondern auch ungemein planvoll und systematisch vor beim Schurfen seiner Waffen, beim Ausfeilen seiner Techniken, bei der allmuhlichen Perfektionierung seiner Methoden. Er fing dort an, wo er bei Baldini aufgehurt hatte, bei der Gewinnung der Dufte lebloser Dinge: Stein, Metall, Glas, Holz, Salz, Wasser, Luft...
          Was damals mit Hilfe des groben Verfahrens der Destillation kluglich misslungen war, gelang nun dank der starken absorbierenden Kraft der Fette. Einen messingnen Turknauf, dessen kuhl-schimmliger, belegter Duft ihm gefiel, umkleidete Grenouille fur ein paar Tage mit Rindertalg. Und siehe, als er den Talg herunterschabte und prufte, so roch er, in zwar sehr geringem Maße, aber doch eindeutig nach eben jenem Knauf. Und selbst nach einer Lavage in Alkohol war der Geruch noch da, unendlich zart, entfernt, vom Dunst des Weingeists uberschattet und auf der Welt wohl nur von Grenouilles feiner Nase wahrnehmbar aber eben doch da, und das hieß: zumindest im Prinzip verfugbar. Hutte er zehntausend Knuufe und wurde er sie tausend Tage lang mit Talg umkleiden, er kunnte einen winzigen Tropfen Essence Absolue von Messingknaufduft erzeugen, so stark, dass jedermann die Illusion des Originals ganz unabweisbar vor der Nase hutte.
          Das gleiche gelang ihm mit dem porusen Kalkduft eines Steins, den er auf dem Olivenfeld vor seiner Kabane gefunden hatte. Er mazerierte ihn und gewann ein kleines Butzchen Steinpomade, deren infinitesimaler Geruch ihn unbeschreiblich ergutzte. Er kombinierte ihn mit anderen, von allen muglichen Gegenstunden aus dem Umkreis seiner Hutte abgezogenen Geruchen und produzierte nach und nach ein olfaktorisches Miniaturmodell jenes Olivenhains hinter dem Franziskanerkloster, das er in einem winzigen Flakon verschlossen mit sich fuhren und wann es ihm gefiel geruchlich auferstehen lassen konnte.
          Es waren virtuose Duftkunststucke, die er vollbrachte, wunderschune kleine Spielereien, die freilich niemand außer ihm selbst wurdigen oder uberhaupt nur zur Kenntnis nehmen konnte. Er selbst aber war entzuckt von den sinnlosen Perfektionen, und es gab in seinem Leben weder fruher noch sputer Momente eines tatsuchlich unschuldigen Glucks wie zu jener Zeit, da er mit spielerischem Eifer duftende Landschaften, Stilleben und Bilder einzelner Gegenstunde erschuf. Denn bald ging er zu lebenden Objekten uber.
          Er machte Jagd auf Winterfliegen, Larven, Ratten, kleinere Katzen und ertrunkte sie in warmem Fett. Nachts schlich er sich in Stulle, um Kuhe, Ziegen und Ferkel fur ein paar Stunden mit fettbeschmierten Tuchern zu umhullen oder in ulige Bandagen einzuwickeln. Oder er stahl sich in ein Schafgehege, um heimlich ein Lamm zu scheren, dessen duftende Wolle er in Weingeist wusch. Die Ergebnisse waren zunuchst noch nicht recht befriedigend. Denn anders als die geduldigen Dinge Knauf und Stein ließen sich die Tiere ihren Duft nur widerwillig abnehmen. Die Schweine schabten die Bandagen an den Pfosten ihrer Koben ab. Die Schafe schrien, wenn er sich nachts mit dem Messer nuherte. Die Kuhe schuttelten stur die fetten Tucher von den Eutern. Einige Kufer, die er fing, produzierten, wuhrend er sie verarbeiten wollte, eklig stinkende Sekrete, und Ratten, wohl aus Angst, schissen ihm in seine olfaktorisch hochempfindlichen Pomaden. Jene Tiere, die er mazerieren wollte, gaben, anders als die Bluten, ihren Duft nicht klaglos oder nur mit einem stummen Seufzer ab, sondern wehrten sich verzweifelt gegen das Sterben, wollten sich partout nicht unterruhren lassen, strampelten und kumpften und erzeugten dadurch unverhultnismußig hohe Mengen Angst- und Todesschweiß, die das arme Fett durch ubersuuerung verdarben. So konnte man naturlich nicht vernunftig arbeiten. Die Objekte mussten ruhiggestellt werden, und zwar so plutzlich, dass sie gar nicht mehr dazu kamen, Angst zu haben oder sich zu widersetzen. Er musste sie tuten.
          Als erstes probierte er es mit einem kleinen Hund. Druben vor dem Schlachthaus lockte er ihn mit einem Stuck Fleisch von seiner Mutter weg bis in die Werkstatt, und wuhrend das Tier mit freudig erregtem Hecheln nach dem Fleisch in Grenouilles Linker schnappte, schlug er ihm mit einem Holzscheit, den er in der Rechten hielt, kurz und derb auf den Hinterkopf. Der Tod kam so plutzlich uber den kleinen Hund, dass der Ausdruck des Glucks noch um seine Lefzen und in seinen Augen war, als Grenouille ihn lungst im Beduftungsraum auf einen Rost zwischen die Fettplatten gebettet hatte, wo er nun seinen reinen, von Angstschweiß ungetrubten Hundeduft verstrumte. Freilich galt es aufzupassen! Leichen, ebenso wie abgepfluckte Bluten, waren rasch verderblich. Und so hielt Grenouille bei seinem Opfer Wache, etwa zwulf Stunden lang, bis er bemerkte, dass die ersten Schlieren des zwar angenehmen, doch verfulschend riechenden Leichendufts aus dem Kurper des Hundes quollen. Sofort unterbrach er die Enfleurage, schaffte die Leiche weg und barg das wenige beduftete Fett in einem Kessel, wo er es sorgfultig auswusch. Er destillierte den Alkohol bis auf die Menge eines Fingerhutes ab und fullte diesen Rest in ein winziges Glasruhrchen. Das Parfum roch deutlich nach dem feuchten, frischtalgigen und ein wenig scharfen Duft des Hundefells, es roch sogar erstaunlich stark danach. Und als Grenouille die alte Hundin vom Schlachthaus daran schnuppern ließ, da brach sie in Freudengeheul aus und winselte und wollte ihre Nustern nicht mehr von dem Ruhrchen nehmen. Grenouille aber verschloss es dicht und steckte es zu sich und trug es noch lange bei sich als Erinnerung an jenen Tag des Triumphs, an dem es ihm zum ersten Mal gelungen war, einem lebenden Wesen die duftende Seele zu rauben.
          Dann, sehr allmuhlich und mit uußerster Vorsicht, machte er sich an die Menschen heran. Er pirschte zunuchst aus sicherer Distanz mit weitmaschigem Netz, denn es kam ihm weniger darauf an, große Beute zu machen, als vielmehr, das Prinzip seiner Jagdmethode zu erproben.
          Mit seinem leichten Duft der Unauffulligkeit getarnt, mischte er sich im Wirtshaus zu den >Quatre Dauphins< abends unter die Guste und heftete winzige Fetzen ul- und fettgetrunkten Stoffs unter Bunke und Tische und in verborgene Nischen. Ein paar Tage sputer sammelte er sie wieder ein und prufte. Tatsuchlich atmeten sie neben allen muglichen Kuchendunsten, Tabaksqualm- und Weingeruchen auch ein wenig Menschenduft ab. Er blieb aber sehr vage und verschleiert, war mehr die Ahnung eines allgemeinen Brodems als ein persunlicher Geruch. Eine uhnliche Massenaura, doch reiner und ins Erhaben- Schwitzige gesteigert, war in der Kathedrale zu gewinnen, wo Grenouille seine Probefuhnchen am 24. Dezember unter den Bunken aushungte und sie am 26. wieder einholte, nachdem nicht weniger als sieben Messen uber ihnen abgesessen worden waren: Ein schauerliches Duftkonglomerat aus Afterschweiß, Menstruationsblut, feuchten Kniekehlen und verkrampften Hunden, durchmischt mit ausgestoßner Atemluft aus tausend chorsingenden und avemarianuschelnden Kehlen und dem beklemmenden Dampf des Weihrauchs und der Myrrhe hatte sich auf den imprugnierten Fetzchen abgebildet: schauerlich in seiner nebulusen, unkonturierten, ubelkeiterregenden Ballung und doch schon unverkennbar menschlich.
          Den ersten Individualgeruch ergatterte Grenouille im Hospiz der Charite. Es gelang ihm, das eigentlich zur Verbrennung bestimmte Bettlaken eines frisch an Schwindsucht verstorbenen Sucklergesellen zu entwenden, in welchem dieser zwei Monate umhullt gelegen war. Das Tuch war so stark vom Eigentalg des Sucklers durchsogen, dass es dessen Ausdunstungen wie eine Enfleuragepaste absorbiert hatte und direkt der Lavage unterzogen werden konnte. Das Resultat war gespenstisch: Unter Grenouilles Nase erstand der Suckler aus der Weingeistsolution olfaktorisch von den Toten auf, schwebte, wenngleich durch die eigentumliche Reproduktionsmethode und die zahlreichen Miasmen seiner Krankheit schemenhaft entstellt, doch leidlich erkenntlich als individuelles Duftbild im Raum: ein kleiner Mann von dreißig Jahren, blond, mit plumper Nase, kurzen Gliedern, platten kusigen Fußen, geschwollenem Geschlecht, galligem Temperament und fadem Mundgeruch - kein schuner Mensch, geruchlich, dieser Suckler, nicht wert, wie jener kleine Hund, lunger aufbewahrt zu werden. Und dennoch ließ ihn Grenouille eine ganze Nacht lang als Duftgeist durch seine Kabane flattern und schnupperte ihn immer wieder an, begluckt und tiefbefriedigt vom Gefuhl der Macht, die er uber die Aura eines undern Menschen gewonnen hatte. Am nuchsten Tag schuttete er ihn weg.
          Noch einen Test unternahm er in diesen Wintertagen. Einer stummen Bettlerin, die durch die Stadt zog, bezahlte er einen Franc dafur, dass sie einen Tag lang mit verschiedenen Fett- und ulmischungen pruparierte Luppchen auf der nackten Haut trug. Es fand sich, dass eine Kombination von Lammnierenfett und mehrfach geluutertem Schweins- und Kuhtalg im Verhultnis zwei zu funf zu drei unter Hinzufuhrung geringer Mengen von Jungfernul fur die Aufnahme des menschlichen Geruchs am besten geeignet war.
          Damit ließ es Grenouille bewenden. Er verzichtete darauf, sich irgendeines lebenden Menschen im ganzen zu bemuchtigen und ihn parfumistisch zu verarbeiten. So etwas wure immer mit Risiken verbunden gewesen und hutte keine neuen Erkenntnisse gebracht. Er wusste, dass er nun die Techniken beherrschte, eines Menschen Duft zu rauben, und es war nicht nutig, dass er es sich erneut bewies.
          Des Menschen Duft an und fur sich war ihm auch gleichgultig. Des Menschen Duft konnte er hinreichend gut mit Surrogaten imitieren. Was er begehrte, war der Duft gewisser Menschen: jener uußerst seltenen Menschen numlich, die Liebe inspirieren. Diese waren seine Opfer.

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          Im Januar ehelichte die Witwe Arnulfi ihren ersten Gesellen Dominique Druot, der damit zum Maitre Gantier et Parfumeur avancierte. Es gab ein großes Essen fur die Gildenmeister, ein bescheideneres fur die Gesellen, Madame kaufte eine neue Matratze fur ihr Bett, das sie nun offiziell mit Druot teilte, und holte ihre bunte Garderobe aus dem Schrank. Sonst blieb alles beim alten. Sie behielt den guten alten Namen Arnulfi bei, behielt das ungeteilte Vermugen, die finanzielle Leitung des Geschufts und die Schlussel zum Keller; Druot erfullte tuglich seine sexuellen Pflichten und erfrischte sich danach beim Wein; und Grenouille, obwohl nun erster und einziger Geselle, verrichtete das Gros der anfallenden Arbeit fur unverundert kleinen Lohn, bescheidene Verpflegung und karge Unterkunft.
          Das Jahr begann mit der gelben Flut von Kassien, mit Hyazinthen, Veilchenblute und narkotischen Narzissen. An einem Sonntag im Murz - es mochte etwa ein Jahr seit seiner Ankunft in Grasse vergangen sein - machte sich Grenouille auf, nach dem Stand der Dinge im Garten hinter der Mauer am anderen Ende der Stadt zu sehen. Er war diesmal auf den Duft vorbereitet, wusste ziemlich genau, was ihn erwartete... und doch, als er sie dann erwitterte, an der Porte Neuve schon, auf halbem Wege erst zu jener Stelle an der Mauer, da klopfte sein Herz lauter, und er spurte, wie das Blut in seinen Adern prickelte vor Gluck: sie war noch da, die unvergleichlich schune Pflanze, sie hatte den Winter unbeschadet uberdauert, stand im Saft, wuchs, dehnte sich, trieb pruchtigste Blutenstunde! Ihr Duft war, wie er es erwartet hatte, kruftiger geworden, ohne an Feinheit einzubußen. Was noch vor einem Jahr sich zart versprenkelt und vertrupfelt hatte, war nun gleichsam legiert zu einem leicht pastosen Duftfluss, der in tausend Farben schillerte und trotzdem jede Farbe band und nicht mehr abriss. Und dieser Fluss, so stellte Grenouille selig fest, speiste sich aus sturker werdender Quelle. Ein Jahr noch, nur noch ein Jahr, nur noch zwulf Monate, dann wurde diese Quelle uberborden, und er kunnte kommen, sie zu fassen und den wilden Ausstoß ihres Duftes einzufangen.
          Er lief an der Mauer entlang bis zur bewussten Stelle, hinter der sich der Garten befand. Obwohl das Mudchen offenbar nicht im Garten, sondern im Haus war, in einer Kammer hinter geschlossenen Fenstern, wehte ihr Duft wie eine stete sanfte Brise herab. Grenouille stand ganz still. Er war nicht berauscht oder benommen wie das erste Mal, als er sie gerochen hatte. Er war vom Glucksgefuhl des Liebhabers erfullt, der seine Angebetete von fern belauscht oder beobachtet und weiß, er wird sie heimholen ubers Jahr. Wahrhaftig, Grenouille, der soliture Zeck, das Scheusal, der Unmensch Grenouille, der Liebe nie empfunden hatte und Liebe niemals inspirieren konnte, stand an jenem Murztag an der Stadtmauer von Grasse und liebte und war zutiefst begluckt von seiner Liebe.
          Freilich liebte er nicht einen Menschen, nicht etwa das Mudchen im Haus dort hinter der Mauer. Er liebte den Duft. Ihn allein und nichts anderes, und ihn nur als den kunftigen eigenen. Er wurde ihn heimholen ubers Jahr, das schwor er sich bei seinem Leben. Und nach diesem absonderlichen Gelubnis, oder Verlubnis, diesem sich selbst und seinem kunftigen Duft gegebenen Treueversprechen, verließ er den Ort frohgemut und kehrte durch die Porte du Cours in die Stadt zuruck.
          Als er nachts in der Kabane lag, holte er den Duft noch einmal aus der Erinnerung herauf- er konnte der Versuchung nicht widerstehen - und tauchte in ihm unter, liebkoste ihn und ließ sich selbst von ihm liebkosen, so eng, so traumhaft nah, als besuße er ihn schon wirklich, seinen Duft, seinen eigenen Duft, und er liebte ihn an sich und sich durch ihn eine berauschte kustliche Weile lang. Er wollte dieses selbstverliebte Gefuhl mit in den Schlaf hinubernehmen. Aber gerade m dem Moment, als er die Augen schloss und nur noch einen Atemzug lang Zeit gebraucht hutte, um einzuschlummern, da verließ es ihn, war plutzlich weg, und anstatt seiner stand der kalte scharfe Ziegenstallgeruch im Raum.
          Grenouille schrak auf. "Was ist", so dachte er, "wenn dieser Duft, den ich besitzen werde... was ist, wenn er zu Ende geht? Es ist nicht wie in der Erinnerung, wo alle Dufte unvergunglich sind. Der wirkliche verbraucht sich an die Welt. Er ist fluchtig. Und wenn er aufgebraucht sein wird, dann wird es die Quelle, aus der ich ihn genommen habe, nicht mehr geben. Und ich werde nackt sein wie zuvor und mir mit meinen Surrogaten weiterhelfen mussen. Nein, schlimmer wird es sein als zuvor! Denn ich werde ja inzwischen ihn gekannt und besessen haben, meinen eigenen herrlichen Duft, und ich werde ihn nicht vergessen kunnen, denn ich vergesse nie einen Duft. Und also werde ich zeitlebens von meiner Erinnerung an ihn zehren, wie ich schon jetzt, fur einen Moment, aus meiner Vorerinnerung an ihn, den ich besitzen werde, gezehrt habe... Wozu also brauche ich ihn uberhaupt?"
          Dieser Gedanke war Grenouille uußerst unangenehm. Es erschreckte ihn maßlos, dass er den Duft, den er noch nicht besaß, wenn er ihn besuße, unweigerlich wieder verlieren musste. Wie lange wurde er vorhalten? Einige Tage? Ein paar Wochen? Vielleicht einen Monat lang, wenn er sich ganz sparsam damit parfumierte? Und dann? Er sah sich schon den letzten Tropfen aus der Flasche schutteln, den Flakon mit Weingeist spulen, damit auch nicht der kleinste Rest verlorenginge, und sah dann, roch es, wie sich sein geliebter Duft fur immer und unwiederbringlich verfluchtigte. Es wurde sein wie ein langsames Sterben, eine Art umgekehrten Erstickens, ein qualvolles allmuhliches Hinausverdunsten seiner selbst in die grußliche Welt.
          Er frustelte. Es uberkam ihn das Verlangen, seine Plune aufzugeben, hinaus in die Nacht zu gehen und davonzuziehen. uber die verschneiten Berge wollte er wandern, ohne Rast, hundert Meilen weit in die Auvergne, und dort in seine alte Huhle kriechen und sich zutode schlafen. Aber er tat es nicht. Er blieb sitzen und gab dem Verlangen nicht nach, obwohl es stark war. Er gab ihm nicht nach, weil es ein altes Verlangen von ihm war, davonzuziehen und sich in einer Huhle zu verkriechen. Erkannte das schon. Was er allerdings noch nicht kannte, war der Besitz eines menschlichen Duftes, so herrlich wie der Duft des Mudchens hinter der Mauer. Und wenn er auch wusste, dass er den Besitz dieses Duftes mit seinem anschließenden Verlust wurde entsetzlich teuer bezahlen mussen, so schienen ihm doch Besitz und Verlust begehrenswerter als der lapidare Verzicht auf beides. Denn verzichtet hatte er Zeit seines Lebens. Besessen und verloren aber noch nie.
          Allmuhlich wichen die Zweifel und mit ihnen das Frusteln. Er spurte, wie das warme Blut ihn wieder belebte und wie der Wille, das zu tun, was er sich vorgenommen hatte, wieder Besitz von ihm ergriff. Und zwar muchtiger als zuvor, da dieser Wille nun nicht mehr einer reinen Begierde entsprang, sondern dazu noch einem erwogenen Entschluss. Der Zeck Grenouille, vor die Wahl gestellt, in sich selbst zu vertrocknen oder sich fallenzulassen, entschied sich fur das zweite, wohl wissend, dass dieser Fall sein letzter sein wurde. Er legte sich aufs Lager zuruck, wohlig ins Stroh, wohlig unter die Decke, und kam sich sehr heroisch vor.
          Grenouille wure aber nicht Grenouille gewesen, wenn ihn ein fatalistisch-heroisches Gefuhl lange befriedigt hutte. Dazu besaß er einen zu zuhen Selbstbehauptungswillen, ein zu durchtriebenes Wesen und einen zu raffinierten Geist. Gut - er hatte sich entschlossen, jenen Duft des Mudchens hinter der Mauer zu besitzen. Und wenn er ihn nach wenigen Wochen wieder verlure und an dem Verlust sturbe, so sollte auch das gut sein. Besser aber wure es, nicht zu sterben und den Duft trotzdem zu besitzen, oder zumindest seinen Verlust so lange als irgend muglich hinauszuzugern. Man musste ihn haltbarer machen. Man musste seine Fluchtigkeit bannen, ohne ihm seinen Charakter zu rauben - ein parfumistisches Problem.
          Es gibt Dufte, die haften jahrzehntelang. Ein mit Moschus eingeriebener Schrank, ein mit Zimtul getrunktes Stuck Leder, eine Amberknolle, ein Kustchen aus Zedernholz besitzen geruchlich fast das ewige Leben. Und andere - Limettenul, Bergamotte, Narzissen- und Tuberosenextrakte und viele Blutendufte verhauchen sich schon nach wenigen Stunden, wenn man sie rein und ungebunden der Luft aussetzt. Der Parfumeur begegnet diesem fatalen Umstand, indem er die allzu fluchtigen Dufte durch haftende bindet, ihnen also gleichsam Fesseln anlegt, die ihren Freiheitsdrang zugeln, wobei die Kunst darin besteht, die Fesseln so locker zu lassen, dass der gebundene Geruch seine Freiheit scheinbar behult, und sie doch so eng zu schnuren, dass er nicht fliehen kann. Grenouille war dieses Kunststuck einmal in perfekter Weise beim Tuberosenul gelungen, dessen ephemeren Duft er mit winzigen Mengen von Zibet, Vanille, Labdanum und Zypresse gefesselt und damit erst recht eigentlich zur Geltung gebracht hatte. Warum sollte etwas uhnliches nicht auch mit dem Duft des Mudchens muglich sein? Weshalb sollte er diesen kostbarsten und fragilsten aller Dufte pur verwenden und verschwenden? Wie plump! Wie außerordentlich unraffiniert! Ließ man Diamanten ungeschliffen? Trug man Gold in Brocken um den Hals? War er, Grenouille, etwa ein primitiver Duftstoffruuber wie Druot und wie die anderen Mazeratoren, Destillierer und Blutenquetscher? Oder war er nicht vielmehr der grußte Parfumeur der Welt?
          Er schlug sich vor den Kopf vor Entsetzen, dass er nicht schon fruher darauf gekommen war: Naturlich durfte dieser einzigartige Duft nicht roh verwendet werden. Er musste ihn fassen wie den kostbarsten Edelstein. Ein Duftdiadem musste er schmieden, an dessen erhabenster Stelle, zugleich eingebunden in andere Dufte und sie beherrschend, sein Duft strahlte. Ein Parfum wurde er machen nach allen Regeln der Kunst, und der Duft des Mudchens hinter der Mauer sollte die Herznote sein.
          Als Adjuvantien freilich, als Basis-, Mittel- und Kopfnote, als Spitzengeruch und als Fixateur waren nicht Moschus und Zibet, nicht Rosenul oder Neroli geeignet, das stand fest. Fur ein solches Parfum, fur ein Menschenparfum, bedurfte es anderer Ingredienzen.

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          Im Mai desselben Jahres fand man in einem Rosenfeld, halben Wegs zwischen Grasse und dem ustlich gelegenen Flecken Opio, die nackte Leiche eines funfzehnjuhrigen Mudchens. Es war mit einem Knuppelhieb auf den Hinterkopf erschlagen worden. Der Bauer, der es entdeckt hatte, war von dem grausigen Fund so verwirrt, dass er sich fast selbst in Verdacht brachte, indem er dem Polizeilieutenant mit zitternder Stimme meldete, er habe so etwas Schunes noch nie gesehen - wo er doch eigentlich hatte sagen wollen, er habe so etwas Entsetzliches noch nie gesehen.
          Tatsuchlich war das Mudchen von exquisiter Schunheit. Es gehurte jenem schwerblutigen Typ von Frauen an, die wie aus dunklem Honig sind, glatt und suß und ungeheuer klebrig; die mit einer zuhflussigen Geste, einem Haarwurf, einem einzigen langsamen Peitschenschwung ihres Blickes den Raum beherrschen und dabei ruhig wie im Zentrum eines Wirbelsturmes stehen, der eigenen Gravitationskraft scheinbar unbewusst, mit der sie Sehnsuchte und Seelen von Munnern wie von Frauen unwiderstehlich an sich reißen. Und sie war jung, blutjung, der Reiz des Typus war noch nicht ins Sumige verflossen. Noch waren ihre schweren Glieder glatt und fest, die Bruste wie aus dem Ei gepellt, und ihr fluchiges Gesicht, vom schwarzen starken Haar umflogen, besaß noch zarteste Konturen und geheimste Stellen. Das Haar selbst freilich war weg. Der Murder hatte es ihr abgeschnitten und mitgenommen, ebenso wie die Kleider.
          Man verduchtigte die Zigeuner. Den Zigeunern war alles zuzutrauen. Zigeuner woben bekanntlich Teppiche aus alten Kleidern und stopften Menschenhaar in ihre Kissen und fertigten aus Haut und Zuhnen von Gehenkten kleine Puppen. Fur ein so perverses Verbrechen kamen nur Zigeuner in Frage. Es waren aber zu der Zeit keine Zigeuner da, weit und breit nicht, das letzte Mal hatten Zigeuner die Gegend im Dezember durchzogen.
          In Ermangelung von Zigeunern verduchtigte man daraufhin italienische Wanderarbeiter. Italiener waren aber auch keine da, fur sie war es zu fruh im Jahr, sie wurden erst im Juni zur Jasminernte ins Land kommen, sie konnten's also nicht gewesen sein. Schließlich gerieten die Peruckenmacher in Verdacht, bei denen man nach dem Haar des ermordeten Mudchens fahndete. Vergeblich. Dann sollten es die Juden gewesen sein, dann die angeblich geilen Munche des Benediktinerklosters - die freilich alle schon weit uber siebzig waren -, dann die Zisterzienser, dann die Freimaurer, dann die Geisteskranken aus der Charitu, dann die Kuhler, dann die Bettler und zu guter Letzt der sittenlose Adel, insbesondere der Marquis von Cabris, denn der war schon zum dritten Mal verheiratet, veranstaltete, wie es hieß, in seinen Kellern orgiastische Messen und trank dabei Jungfrauenblut, um seine Potenz zu steigern. Konkretes ließ sich freilich nicht beweisen. Niemand hatte den Mord beobachtet, Kleider und Haare der Toten wurden nicht gefunden. Nach einigen Wochen stellte der Polizeilieutenant seine Nachforschungen ein.
          Mitte Juni kamen die Italiener, viele mit ihren Familien, um sich als Pflucker zu verdingen. Die Bauern beschuftigten sie zwar, verboten aber, eingedenk des Mordes, ihren Frauen und Tuchtern den Umgang mit ihnen. Sicher war sicher. Denn obwohl die Wanderarbeiter fur den geschehenen Mord tatsuchlich nicht verantwortlich waren, so hutten sie doch prinzipiell dafur verantwortlich sein kunnen, und deshalb war es besser, vor ihnen auf der Hut zu sein.
          Nicht lange nach Beginn der Jasminernte geschahen zwei weitere Morde. Wieder waren die Opfer bildschune Mudchen, wieder gehurten sie jenem schwerblutigen schwarzhaarigen Typus an, wieder fand man sie nackt und geschoren und mit einer stumpfen Wunde am Hinterkopf in den Blumenfeldern liegen. Wieder fehlte vom Tuter jede Spur. Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer, und es drohten schon Feindseligkeiten gegen das zugezogene Volk auszubrechen, als bekannt wurde, dass beide Opfer Italienerinnen waren, Tuchter eines Genueser Tagluhners.
          Nun legte sich die Furcht uber das Land. Die Leute wussten nicht mehr, auf wen sie ihre ohnmuchtige Wut richten sollten. Wohl gab es noch welche, die die Irren oder den obskuren Marquis verduchtigten, aber so recht wollte niemand daran glauben, denn jene standen Tag und Nacht unter Aufsicht, und dieser war schon vor langer Zeit nach Paris abgereist. Also ruckte man nuher zusammen. Die Bauern uffneten den Zugewanderten, die bis dahin auf freiem Feld gelagert hatten, ihre Scheunen. Die Studter richteten in jedem Viertel einen nuchtlichen Patrouillendienst ein. Der Polizeilieutenant versturkte die Wachen an den Toren. Doch alle Vorkehrungen nutzten nichts. Wenige Tage nach dem Doppelmord fand man wieder eine Mudchenleiche, ebenso zugerichtet wie die vorigen. Diesmal handelte es sich um eine sardische Wuscherin aus dem bischuflichen Palais, die nahe dem großen Wasserbecken an der Fontaine de la Foux, also direkt vor den Toren der Stadt, erschlagen worden war. Und obwohl die Konsuln, von der erregten Burgerschaft gedrungt, weitere Maßnahmen ergriffen - schurfste Kontrollen an den Toren, Versturkung der Nachtwachen, Ausgangsverbot fur alle weiblichen Personen nach Einbruch der Dunkelheit -, verging in diesem Sommer keine Woche mehr, in der nicht die Leiche eines jungen Mudchens gefunden wurde. Und immer waren es solche, die gerade erst begonnen hatten, Frauen zu sein, und immer waren es die schunsten und meist jener dunkle, haftende Typus. - Obwohl der Murder bald auch nicht mehr den in der einheimischen Bevulkerung vorherrschenden weichen, weißhuutigen und etwas beleibteren Mudchenschlag verschmuhte. Sogar brunette, sogar dunkelblonde - sofern sie nicht zu mager waren - fielen ihm neuerdings zum Opfer. Er spurte sie uberall auf, nicht mehr nur im Umland von Grasse, sondern mitten in der Stadt, ja sogar in den Huusern. Die Tochter eines Tischlers wurde in ihrer Kammer im funften Stock erschlagen aufgefunden, und niemand im Haus hatte das geringste Geruusch gehurt, und keiner der Hunde, die sonst jeden Fremden witterten und verbellten, hatte angeschlagen. Der Murder schien unfassbar, kurperlos, wie ein Geist zu sein.
          Die Menschen empurten sich und beschimpften die Obrigkeit. Das kleinste Gerucht fuhrte zu Zusammenrottungen. Ein fahrender Hundler, der Liebespulver und andere Quacksalbereien verkaufte, wurde fast massakriert, denn es hieß, seine Mittelchen enthielten gemahlenes Mudchenhaar. Auf das Hotel de Cabris und auf das Hospiz der Charitu wurden Brandanschluge verubt. Der Tuchhundler Alexandre Misnard erschoss seinen eigenen Hausdiener bei dessen nuchtlicher Heimkehr, weil er ihn fur den beruchtigten Mudchenmurder hielt. Wer es sich leisten konnte, schickte seine heranwachsenden Tuchter zu entfernten Verwandten oder in Pensionate nach Nizza, Aix oder Marseille . Der Polizeilieutenant wurde auf Drungen des Stadtrats seines Postens enthoben. Sein Nachfolger ließ die Leichen der geschorenen Schunheiten von einem urztekollegium auf ihren virginalen Zustand untersuchen. Es fand sich, dass sie alle unberuhrt geblieben waren.
          Sonderbarerweise vermehrte diese Erkenntnis das Entsetzen, anstatt es zu mindern, denn insgeheim hatte jedermann angenommen, dass die Mudchen missbraucht worden seien. Man hutte dann wenigstens ein Motiv des Murders gekannt. Nun wusste man nichts mehr, nun war man vullig ratlos. Und wer an Gott glaubte, rettete sich ins Gebet, es muge doch wenigstens das eigene Haus von der teuflischen Heimsuchung verschont bleiben.
          Der Stadtrat, ein Gremium der dreißig reichsten und angesehensten Großburger und Adligen von Grasse, in ihrer Mehrzahl aufgeklurte und antiklerikale Herren, die den Bischof bisher einen guten Mann hatten sein lassen und aus den Klustern und Abteien am liebsten Warenlager oder Fabriken gemacht hutten - die stolzen, muchtigen Herren des Stadtrats ließen sich in ihrer Not herbei, Monseigneur den Bischof in einer unterwurfig abgefassten Petition zu bitten, er muge das mudchenmordende Monster, dessen die weltliche Macht nicht habhaft werden kunne, verfluchen und mit Bann belegen, ebenso, wie es sein erlauchter Vorgunger im Jahre 1708 mit den entsetzlichen Heuschrecken gemacht habe, die damals das Land bedrohten. Und in der Tat wurde Ende September der Grasser Mudchenmurder, der bis dahin nicht weniger als vierundzwanzig der schunsten Jungfrauen aus allen Schichten des Volkes hinweggerafft hatte, per schriftlichem Anschlag sowie mundlich von sumtlichen Kanzeln der Stadt, darunter der Kanzel von Notre-Dame-du-Puy, durch den Bischof persunlich in feierlichen Bann und Fluch getan.
          Der Erfolg war durchschlagend. Die Morde hurten auf, von einem Tag zum anderen. Oktober und November vergingen ohne Leiche. Anfang Dezember kamen Berichte aus Grenoble, dass dort neuerdings ein Mudchenmurder umgehe, der seine Opfer erdrossle und ihnen die Kleider in Fetzen vom Leibe und die Haare in Buscheln vom Kopfe reiße. Und obwohl diese grobschluchtigen Verbrechen keineswegs in Einklang mit den sauber ausgefuhrten Grasser Morden standen, war doch alle Welt davon uberzeugt, es handle sich um ein und denselben Tuter. Die Grasser schlugen drei Kreuze vor Erleichterung, dass die Bestie nicht mehr bei ihnen, sondern im sieben Tagereisen entfernten Grenoble wutete. Sie organisierten einen Fackelzug zu Ehren des Bischofs und hielten am 24. Dezember einen großen Dankgottesdienst ab. Zum 1. Januar 1766 wurden die versturkten Sicherheitsvorkehrungen gelockert und die nuchtliche Ausgangssperre fur Frauen aufgehoben. Mit unglaublicher Schnelligkeit kehrte die Normalitut ins uffentliche und private Leben zuruck. Die Angst war wie weggeblasen, niemand redete mehr von dem Grauen, das noch vor wenigen Monaten Stadt und Umland beherrscht hatte. Nicht einmal in den betroffenen Familien sprach man noch davon. Es war, als habe der bischufliche Fluch nicht nur den Murder, sondern auch jede Erinnerung an ihn verbannt. Und den Menschen war es recht so.
          Nur wer eine Tochter hatte, die gerade in das wundersame Alter kam, der ließ sie immer noch nicht gerne ohne Aufsicht, dem wurde bange, wenn es dummerte, und morgens, wenn er sie gesund und munter vorfand, war er glucklich - freilich ohne sich den Grund dafur recht eingestehen zu wollen.

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          Einen Mann aber gab es in Grasse, der traute dem Frieden nicht. Er hieß Antoine Richis, bekleidete das Amt des Zweiten Konsuls und wohnte in einem stattlichen Anwesen am Beginn der Rue Droite.
          Richis war Witwer und hatte eine Tochter namens Laure. Obwohl keine vierzig Jahre alt und von ungebrochner Vitalitut, gedachte er eine neuerliche Verehelichung noch einige Zeit hinauszuschieben. Erst wollte er seine Tochter an den Mann bringen. Und zwar nicht an den ersten besten, sondern an einen von Stande. Es gab da einen Baron von Bouyon, Besitzer eines Sohnes und eines Lehens bei Vence, von guter Reputation und lausiger Finanzlage, mit dem Richis schon Abmachungen uber eine kunftige Heirat der Kinder getroffen hatte. Wenn Laure dann unter der Haube wure, wollte er selbst seine freierlichen Fuhler in Richtung der hochangesehenen Huuser Dree, Maubert oder Fontmichel ausstrecken - nicht weil er eitel war und auf Teufel komm raus ein adeliges Bettgemahl besitzen musste, sondern weil er eine Dynastie grunden und seine Nachkommenschaft auf ein Geleise setzen wollte, welches zu huchstem gesellschaftlichem Ansehen und politischem Einfluss fuhrte. Dazu brauchte er noch mindestens zwei Suhne, deren einer sein Geschuft ubernahm, wuhrend der andere via juristische Laufbahn und das Parlament in Aix selbst in den Adel aufruckte. Solche Ambitionen konnte er jedoch als Mann seines Standes nur dann mit Aussicht auf Erfolg hegen, wenn er seine Person und seine Familie aufs engste mit der provenzalischen Nobilitut verband.
          Was ihn uberhaupt zu derartig hochfliegenden Plunen berechtigte, war sein sagenhafter Reichtum. Antoine Richis war der mit Abstand vermugendste Burger weit und breit. Er besaß Latifundien nicht nur im Grasser Raum, wo er Orangen, ul, Weizen und Hanf anbauen ließ, sondern auch bei Vence und gegen Antibes zu, wo er verpachtet hatte. Er besaß Huuser in Aix, Huuser auf dem Lande, Anteile an Schiffen, die nach Indien fuhren, ein stundiges Kontor in Genua und das grußte Handelslager fur Duftstoffe, Spezereien, ule und Leder Frankreichs.
          Das Kostbarste jedoch, was Richis besaß, war seine Tochter. Sie war sein einziges Kind, gerade sechzehn Jahre alt, mit dunkelroten Haaren und grunen Augen. Sie hatte ein so entzuckendes Gesicht, dass Besucher jeden Alters und Geschlechts augenblicks erstarrten und den Blick nicht mehr von ihr nehmen konnten, ihr Gesicht geradezu leckten mit den Augen, als leckten sie Eis mit der Zunge, und dabei den fur solch leckende Beschuftigung typischen Ausdruck von dummlicher Hingegebenheit annahmen. Selbst Richis, wenn er die eigne Tochter ansah, ertappte sich dabei, dass er fur unbestimmte Zeit, fur eine Viertelstunde, fur eine halbe Stunde vielleicht, die Welt und damit seine Geschufte vergaß - was ihm sonst nicht einmal im Schlaf passierte -, sich vollkommen aufluste in des herrlichen Mudchens Betrachtung und hinterher nicht mehr zu sagen wusste, was er eigentlich getan hatte. Und neuerdings - er nahm es mit Unbehagen wahr -, abends beim Zubettbringen oder manchmal morgens, wenn er ging, um sie zu wecken, und sie lag noch schlafend, wie von Gotteshunden hingelegt, und durch den Schleier ihres Nachtgewands druckten sich die Formen ihrer Huften und ihrer Bruste ab, und aus dem Geviert von Busen, Achselschwung, Ellenbogen und glattem Unterarm, in das sie ihr Gesicht gelegt hatte, stieg ihr ausgestoßner Atem ruhig und heiß... - da ballte es sich ihm elend im Magen, und die Kehle wurde ihm eng, und er schluckte, und, weiß Gott! er verfluchte sich, dass er der Vater dieser Frau war und nicht ein Fremder, nicht irgendein Mann, vor dem sie so luge wie jetzt vor ihm, und der sich ohne Bedenken an sie, auf sie, in sie legen kunnte mit all seiner Begehrlichkeit. Und der Schweiß brach ihm aus, und seine Glieder zitterten, indes er diese grauenvolle Lust in sich erwurgte und sich hinabbeugte zu ihr, um sie mit keuschem vuterlichem Kuss zu wecken.
          Im vergangenen Jahr, zur Zeit der Morde, waren solch fatale Anfechtungen noch nicht uber ihn gekommen. Der Zauber, den seine Tochter damals auf ihn ausgeubt hatte, war - so wollte ihm wenigstens scheinen - noch ein kindlicher Zauber gewesen. Und deshalb hatte er auch nie ernstlich befurchtet, dass Laure Opfer jenes Murders werden kunnte, der, wie man wusste, weder Kinder noch Frauen, sondern ausschließlich erwachsene jungfruuliche Mudchen anfiel. Zwar hatte er die Bewachung seines Hauses versturkt, die Fenster des Obergeschosses mit neuen Gittern versehen lassen und die Zofe angewiesen, ihre Schlafkammer mit Laure zu teilen. Aber es widerstrebte ihm, sie wegzuschicken, wie es seine Standesgenossen mit ihren Tuchtern, ja sogar mit ihren ganzen Familien taten. Er fand dieses Verhalten veruchtlich und unwurdig eines Mitglieds des Rates und Zweiten Konsuln, der, wie er meinte, seinen Mitburgern ein Vorbild an Gelassenheit, Mut und Unbeugsamkeit sein sollte. Außerdem war er ein Mann, der sich seine Entschlusse nicht von anderen vorschreiben ließ, nicht von einer in Panik geratenen Menge und schon gar nicht von einem einzelnen anonymen Lump von Verbrecher. Und so war er wuhrend der ganzen schrecklichen Zeit einer der wenigen in der Stadt gewesen, die gegen das Fieber der Angst gefeit waren und einen kuhlen Kopf behielten. Doch dies, sonderbarerweise, underte sich nun. Wuhrend numlich die Menschen draußen, als hutten sie den Murder schon gehenkt, das Ende seines Treibens feierten und die unselige Zeit bald ganz vergaßen, kehrte in das Herz Antoine Richis' die Angst ein wie ein hußliches Gift. Lange Zeit wollte er sich's nicht zugeben, dass es die Angst war, die ihn bewog, lungst fullige Reisen hinauszuzugern, ungern das Haus zu verlassen, Besuche und Sitzungen abzukurzen, damit er nur rasch wieder heimkehren kunne. Er entschuldigte sich vor sich selbst mit Unpußlichkeit und uberarbeitung, gestand sich wohl auch zu, dass er ein wenig besorgt sei, wie eben jeder Vater besorgt ist, der eine Tochter in mannbarem Alter besitzt, eine durchaus normale Sorge... War denn nicht schon der Ruhm ihrer Schunheit nach draußen gedrungen? Reckten sich nicht schon die Hulse, wenn man mit ihr sonntags in die Kirche ging? Machten nicht schon gewisse Herren im Rat Avancen, im eigenen Namen oder in dem ihrer Suhne...?

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          Aber dann, eines Tages im Murz, saß Richis im Salon und sah, wie Laure hinaus in den Garten ging. Sie trug ein blaues Kleid, uber das ihr rotes Haar fiel, es loderte im Sonnenlicht, er hatte sie noch nie so schun gesehen. Hinter einer Hecke verschwand sie. Und dann dauerte es vielleicht nur zwei Herzschluge lunger, als er erwartet hatte, bevor sie wieder auftauchte - und er war zutode erschrocken, denn er hatte zwei Herzschluge lang gedacht, er habe sie fur immer verloren.
          In der gleichen Nacht wachte er aus einem entsetzlichen Traum auf, an dessen Inhalt er sich nicht mehr erinnern konnte, der aber mit Laure zu tun hatte, und er sturzte in ihr Zimmer, uberzeugt, sie sei tot, luge gemordet, geschundet und geschoren im Bett - und fand sie unversehrt.
          Er ging zuruck in sein Gemach, schweißnass und bebend vor Aufregung, nein, nicht vor Aufregung, sondern vor Angst, jetzt endlich gestand er es sich ein, dass die schiere Angst ihn gepackt hatte, und indem er es sich eingestand, wurde er ruhiger und klarer im Kopf. Wenn er ehrlich war, so hatte er von Anfang an nicht an die Wirkung des bischuflichen Bannfluchs geglaubt; auch nicht daran, dass der Murder jetzt in Grenoble umgehe; auch nicht daran, dass er die Stadt uberhaupt verlassen hatte. Nein, er lebte noch hier, mitten unter den Grassern, und irgendwann wurde er wieder zuschlagen. Im August und September hatte Richis einige der ermordeten Mudchen gesehen. Der Anblick hatte ihn entsetzt und zugleich, wie er zugeben musste, fasziniert, denn sie waren alle, und jede auf sehr spezielle Weise, von ausgesuchter Schunheit gewesen. Niemals hutte er gedacht, dass es in Grasse so viel unerkannte Schunheit gab. Der Murder hatte ihm die Augen geuffnet. Der Murder besaß einen exquisiten Geschmack. Und er besaß ein System. Nicht nur, dass die Morde alle auf die gleiche ordentliche Weise ausgefuhrt waren, auch die Wahl der Opfer verriet eine beinahe ukonomisch planende Absicht. Zwar wusste Richis nicht, was der Murder eigentlich von seinem Opfer begehrte, denn ihr Bestes: die Schunheit und den Reiz ihrer Jugend konnte er ihnen ja nicht geraubt haben... oder doch? Auf jeden Fall aber schien ihm der Murder, so absurd das klingen mochte, kein destruktiver Geist zu sein, sondern ein sorgfultig sammelnder. Wenn man sich numlich - so dachte Richis all die Opfer nicht mehr als einzelne Individuen, sondern als Teile eines huheren Prinzips vorstellte und sie wie in idealistischer Weise ihre jeweiligen Eigenschaffen als zu einem einheitlichen Ganzen verschmolzen duchte, dann musste das aus solchen Mosaiksteinen zusammengesetzte Bild das Bild der Schunheit schlechthin sein, und der Zauber, der von ihm ausginge, wure nicht mehr von menschlicher, sondern von guttlicher Art. (Wie wir sehen, war Richis ein aufgeklurt denkender Mensch, der auch vor blasphemischen Schlussfolgerungen nicht zuruckschreckte, und wenn er nicht in geruchlichen, sondern in optischen Kategorien dachte, so kam er doch der Wahrheit sehr nahe.)
          Gesetzt nun den Fall - so dachte Richis weiter -, der Murder war solch ein Sammler von Schunheit und arbeitete am Bildnis der Vollkommenheit, und sei es auch nur in der Phantasie seines kranken Hirns; gesetzt ferner, er war ein Mann von huchstem Geschmack und perfekter Methode, wie er es in der Tat zu sein schien, dann konnte man nicht annehmen, dass er auf den kostbarsten Baustein zu jenem Bildnis verzichtete, den es auf Erden zu finden gab: auf die Schunheit von Laure. Sein ganzes bisheriges Mordwerk wure nichts wert ohne sie. Sie war der Schlussstein seines Gebuudes.
          Richis, wuhrend er diese entsetzliche Folgerung zog, saß im Nachtgewand auf seinem Bett und wunderte sich daruber, wie ruhig er geworden war. Er frustelte und zitterte nicht mehr. Die unbestimmte Angst, die ihn seit Wochen geplagt hatte, war verschwunden und dem Bewusstsein einer konkreten Gefahr gewichen: Des Murders Sinn und Trachten war ganz offenbar auf Laure gerichtet, von Anfang an. Und alle andern Morde waren Beiwerk fur diesen letzten krunenden Mord. Zwar blieb unklar, welchen materiellen Zweck die Morde haben sollten und ob sie einen solchen uberhaupt besaßen. Aber das Wesentliche, numlich des Murders systematische Methode und sein ideelles Motiv, hatte Richis durchschaut. Und je lunger er daruber nachdachte, desto besser gefielen ihm beide und desto grußer wurde seine Hochachtung vor dem Murder - eine Hochachtung freilich, die sogleich wie aus einem blanken Spiegel auf ihn selbst zuruckstrahlte, denn immerhin war er, Richis, es ja gewesen, der mit seinem feinen analytischen Verstand dem Gegner auf die Schliche gekommen war.
          Wenn er, Richis, selbst ein Murder wure und von des Murders selben leidenschaftlichen Ideen besessen, hutte er auch nicht anders vorgehen kunnen, als jener bisher vorgegangen war, und wurde wie dieser alles daransetzen, sein Wahnsinnswerk durch einen Mord an Laure, der herrlichen, der einzigartigen, zu krunen.
          Dieser letzte Gedanke gefiel ihm ganz besonders gut. Dass er in der Lage war, sich gedanklich in die Lage des kunftigen Murders seiner Tochter zu versetzen, machte ihn dem Murder numlich haushoch uberlegen. Denn der Murder, das stand fest, war bei all seiner Intelligenz gewiss nicht in der Lage, sich in Richis' Lage zu versetzen - und sei's nur, weil er gewiss nicht ahnen konnte, dass Richis sich lungst in seine, des Murders Lage versetzt hatte. Im Grunde war das nicht anders als im Geschuftsleben auch - mutatis mutandis, versteht sich. Einem Konkurrenten, dessen Absichten man durchschaut hatte, war man uberlegen; von ihm ließ man sich nicht mehr aufs Kreuz legen; nicht, wenn man Antoine Richis hieß, mit allen Wassern gewaschen war und eine Kumpfernatur besaß. Schließlich waren ihm der grußte Duftstoffhandel Frankreichs, sein Reichtum und das Amt des Zweiten Konsuls nicht gnadenhalber in den Schoß gefallen, sondern er hatte sie sich erkumpft, ertrotzt, erschlichen, indem er Gefahren beizeiten erkannt, die Plune der Konkurrenten schlau erraten und Widersacher ausgestochen hatte. Und seine kunftigen Ziele, die Macht und Nobilitut seiner Nachkommenschaft, wurde er ebenso erreichen. Und nicht anders wurde er die Plune jenes Murders durchkreuzen, seines Konkurrenten um den Besitz an Laure - und wure es nur deshalb, weil Laure auch den Schlussstein im Gebuude seiner, Richis', eigenen Plune bildete. Er liebte sie, gewiss; aber er brauchte sie auch. Und was er brauchte zur Verwirklichung seiner huchsten Ambitionen, das ließ er sich von niemandem entwinden, das hielt er fest mit Zuhnen und mit Klauen.
          Nun war ihm wohler. Nachdem es ihm gelungen war, seine nuchtlichen uberlegungen betreffs Kampf mit dem Dumon auf die Ebene einer geschuftlichen Auseinandersetzung herabzudrucken, spurte er, wie frischer Mut, ja ubermut ihn erfasste. Verflogen war der letzte Rest von Angst, verschwunden das Gefuhl von Verzagtheit und grumlicher Sorge, das ihn wie einen senilen Tattergreis gequult hatte, weggeblasen der Nebel von dusteren Ahnungen, in dem er seit Wochen herumtappte. Er befand sich auf vertrautem Terrain und fuhlte sich jeder Herausforderung gewachsen.

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          Erleichtert, vergnugt fast, sprang er aus dem Bett, zog am Klingelband und befahl seinem schlaftrunken hereintaumelnden Diener, Kleider und Proviant zu packen, da er geduchte, bei Tagesanbruch in Begleitung seiner Tochter nach Grenoble zu reisen. Dann zog er sich an und scheuchte das ubrige Personal aus den Betten.
          Mitten in der Nacht erwachte das Haus in der Rue Droite zu emsigem Leben. In der Kuche flammten die Feuer auf, durch die Gunge huschten die aufgeregten Mugde, treppauf treppab eilte der Diener, in den Kellergewulben klapperten die Schlussel des Lagerverwalters, im Hof leuchteten Fackeln, Knechte liefen um Pferde, andere zerrten die Maultiere aus den Stullen, es wurde gezuumt, gesattelt, gerannt und geladen - man hutte glauben kunnen, die austrosardischen Horden seien plundernd und sengend im Anmarsch wie anno 1746 und der Hausherr ruste in panischer Eile zur Flucht. Doch keineswegs! Der Hausherr saß souverun wie ein Marschall von Frankreich am Schreibtisch seines Kontors, trank Milchkaffee und erließ seine Anweisungen an die stundig hereinsturzenden Domestiken. Nebenher schrieb er Briefe an den Burgermeister und Ersten Konsul, an seinen Notar, an seinen Anwalt, an seinen Bankier in Marseille, an den Baron de Bouyon und an diverse Geschuftspartner.
          Gegen sechs Uhr fruh hatte er die Korrespondenz erledigt und alle zu seinen Plunen notwendigen Verfugungen getroffen. Er steckte zwei kleine Reisepistolen zu sich, schnallte sich seinen Geldgurtel um und sperrte den Schreibtisch zu. Dann ging er seine Tochter wecken.
          Um acht setzte sich die kleine Karawane in Bewegung. Richis ritt voran, er war pruchtig anzusehen in einem weinroten, goldbetressten Rock, schwarzer Redingote und schwarzem Hut mit kessem Federbusch. Ihm folgte seine Tochter, bescheidener gekleidet, aber so strahlend schun, dass das Volk auf der Straße und an den Fenstern nur Augen fur sie hatte, dass anduchtige Ahs und Ohs durch die Menge gingen und die Munner ihren Hut zogen - scheinbar vor dem zweiten Konsul, in Wahrheit aber vor ihr, der kuniglichen Frau. Dann kam, fast unbeachtet, die Zofe, dann Richis' Diener mit zwei Packpferden - die Verwendung eines Wagens verbot sich wegen des beruchtigt schlechten Zustands der Grenobler Route -, und den Abschluss des Zuges bildeten ein Dutzend mit allen muglichen Waren beladene Maultiere unter Aufsicht zweier Knechte. An der Porte du Cours prusentierten die Wachen das Gewehr und ließen es erst wieder sinken, als das letzte Maultier vorubergetippelt war. Kinder liefen hinterher, noch eine ganze Weile lang, winkten dem Tross nach, der sich langsam auf dem steilen, gewundenen Weg bergwurts entfernte.
          Auf die Menschen machte der Auszug des Antoine Richis mit seiner Tochter einen seltsam tiefen Eindruck. Ihnen war, als hutten sie einem archaischen Opfergang beigewohnt. Es hatte sich herumgesprochen, dass Richis nach Grenoble reiste, in jene Stadt also, wo neuerdings das mudchenmordende Monster hauste. Die Leute wussten nicht, was sie davon halten sollten. War es struflicher Leichtsinn, was Richis tat, oder bewundernswerter Mut? War es eine Herausforderung oder eine Besunftigung der Gutter? Sie ahnten nur sehr undeutlich, dass sie das schune Mudchen mit den roten Haaren soeben zum letzten Mal gesehen hatten. Sie ahnten, dass Laure Richis verloren war.
          Diese Ahnung sollte sich als richtig erweisen, obwohl sie auf vullig falschen Voraussetzungen beruhte. Richis zog numlich keineswegs nach Grenoble. Der pompuse Auszug war nichts als eine Finte gewesen. Anderthalb Meilen nordwestlich von Grasse, in der Nuhe des Dorfes Saint-Vallier, ließ er anhalten. Er hundigte seinem Diener Vollmachten und Begleitschreiben aus und befahl ihm, den Maultiertreck allein mit den Knechten nach Grenoble zu bringen.
          Er selbst wandte sich mit Laure und der Zofe in Richtung Cabris, wo er eine Mittagspause einlegte, und ritt dann quer durch das Gebirge des Tanneron nach Suden. Der Weg war uußerst beschwerlich, aber er gestattete es, Grasse und das Grasser Becken in einem weiten westlichen Bogen zu umgehen und bis zum Abend unerkannt die Kuste zu erreichen... Am folgenden Tag - so Richis' Plan - wollte er sich mit Laure nach den Lerinischen Inseln ubersetzen lassen, auf deren kleinerer sich das wohlbefestigte Kloster Saint-Honorat befand. Es wurde von einem Huuflein greiser, aber noch durchaus wehrfuhiger Munche bewirtschaftet, mit denen Richis gut bekannt war, denn er kaufte und vertrieb schon seit Jahren die gesamte klusterliche Produktion an Eukalyptuslikur, Pinienkernen und Zypressenul. Und eben dort, im Kloster Saint-Honorat, dem neben dem Zuchthaus von Chateau d'If und dem Staatsgefungnis der Ile Sainte-Mar-guerite wohl sichersten Ort der Provence, gedachte er seine Tochter furs erste unterzubringen. Er selbst wurde unverzuglich wieder aufs Festland zuruckkehren, Grasse diesmal via Antibes und Cagnes ustlich umgehen, um noch am Abend desselben Tages in Vence einzutreffen. Dorthin hatte er bereits seinen Notar bestellt zwecks einer zu treffenden Vereinbarung mit dem Baron de Bouyon uber die Verehelichung ihrer Kinder Laure und Alphonse. Er wollte Bouyon ein Angebot machen, das dieser nicht wurde ablehnen kunnen: ubernahme von Schulden in Huhe von 40000 Livre, Mitgift bestehend aus einer Summe in gleicher Huhe sowie diversen Lundereien und einer ulmuhle bei Maganosc, eine juhrliche Rente von 3000 Livre fur das junge Paar. Einzige Bedingung Richis' war, dass die Ehe innerhalb von zehn Tagen eingegangen und am Hochzeitstag vollzogen wurde, und dass das Paar anschließend Wohnung in Vence nahm.
          Richis wusste, dass er durch ein so eiliges Vorgehen den Preis fur die Verbindung seines Hauses mit dem Haus derer von Bouyon ganz unverhultnismußig in die Huhe trieb. Bei lungerem Zuwarten hutte er sie billiger bekommen. Gebettelt hutte der Baron darum, die Tochter des burgerlichen Großhundlers durch seinen Sohn standesmußig erhuhen zu durfen, denn der Ruhm von Laures Schunheit wurde ja noch wachsen, ebenso wie Richis' Reichtum und wie Bouyons finanzielle Misere. Aber sei's drum! Nicht der Baron war bei diesem Handel der Gegner, sondern der unbekannte Murder war es. Ihm galt es das Geschuft zu versalzen. Eine verheiratete Frau, defloriert und womuglich schon geschwungert, passte nicht mehr in seine exklusive Galerie. Der letzte Mosaikstein wure blind geworden, Laure hutte fur den Murder jeden Wert verloren, sein Werk wure gescheitert. Und diese Niederlage sollte er zu spuren bekommen! Richis wollte die Hochzeit in Grasse abhalten, mit großem Pomp und in aller uffentlichkeit. Und wenn er seinen Gegner auch nicht kannte und niemals kennen wurde, so sollte es ihm doch ein Genuss sein, zu wissen, dass dieser dem Ereignis beiwohnte und mit eignen Augen zusehen musste, wie ihm das Begehrteste vor der Nase weggeschnappt wurde.
          Der Plan war fein ausgedacht. Und wieder mussen wir Richis' Gespur bewundern, mit dem er der Wahrheit nahekam. Denn in der Tat hutte die Heimfuhrung der Laure Richis durch den Sohn des Baron de Bouyon fur den Grasser Mudchenmurder eine vernichtende Niederlage bedeutet. Aber noch war der Plan nicht verwirklicht. Noch hatte Richis seine Tochter nicht unter die rettende Haube gebracht. Noch hatte er sie nicht in das sichere Kloster von Saint-Honorat ubergesetzt. Noch schlugen sich die drei Reiter durch das unwirtliche Gebirge des Tanneron. Manchmal waren die Wege so schlecht, dass man von den Pferden absitzen musste. Es ging alles sehr langsam. Gegen Abend hofften sie das Meer bei Napoule zu erreichen, einem kleinen Ort westlich von Cannes.

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          Zu dem Zeitpunkt, da Laure Richis mit ihrem Vater Grasse verließ, befand sich Grenouille am andern Ende der Stadt im Arnulfischen Atelier und mazerierte Jonquillen. Er war allein, und er war guter Dinge. Seine Zeit in Grasse neigte sich dem Ende zu. Der Tag des Triumphes stand bevor. Draußen in der Kabane lagen in einem wattegepolsterten Kustchen vierundzwanzig winzige Flakons mit der zu Tropfen geronnenen Aura von vierundzwanzig Jungfrauen - kostbarste Essenzen, die Grenouille im vergangenen Jahr durch kalte Fettenfleurage der Kurper, Digerieren von Haaren und Kleidern, Lavage und Destillation gewonnen hatte. Und die funfundzwanzigste, die kustlichste und wichtigste, wollte er sich heute holen. Er hatte schon ein Tiegelchen mit mehrfach gereinigtem Fett, ein Tuch von feinstem Leinen und einen Ballon hochrektifizierten Alkohols fur diesen letzten Fischzug vorbereitet. Das Terrain war aufs genaueste sondiert. Es herrschte Neumond.
          Er wusste, dass ein Einbruchsversuch in das gut gesicherte Anwesen an der Rue Droite sinnlos war. Deshalb wollte er sich schon bei Anbruch der Dummerung, ehe noch die Tore geschlossen wurden, einschleichen und im Schutz der eigenen Geruchlosigkeit, die ihn wie eine Tarnkappe der Wahrnehmung von Mensch und Tier entzog, in irgendeinem Winkel des Hauses verbergen. Sputer dann, wenn alles schlief, wurde er, vom Kompass seiner Nase durch die Dunkelheit gefuhrt, zur Kammer seines Schatzes hinaufsteigen. Er wurde ihn an Ort und Stelle im fettgetrunkten Tuch verarbeiten. Nur Haar und Kleider wurde er wie gewuhnlich mitnehmen, da diese Teile direkt in Weingeist ausgewaschen werden konnten, was sich bequemer in der Werkstatt machen ließ. Fur die Endverarbeitung der Pomade und das Abdestillieren zu Konzentrat veranschlagte er eine weitere Nacht. Und wenn alles gutging - und er hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, dass alles gutgehen wurde -, dann war er ubermorgen im Besitz sumtlicher Essenzen fur das beste Parfum der Welt, und er wurde Grasse verlassen als der bestriechende Mensch auf Erden.
          Gegen Mittag war er mit seinen Jonquillen fertig. Er luschte das Feuer, deckte den Fettkessel zu und ging vor die Werkstatt, um sich abzukuhlen. Der Wind kam von Westen.
          Schon mit dem ersten Atemzug merkte er, dass etwas nicht stimmte. Die Atmosphure war nicht in Ordnung. Im Duftkleid der Stadt, diesem vieltausendfudig gewebten Schleier, fehlte der goldene Faden. Wuhrend der letzten Wochen war dieser duftende Faden so kruftig geworden, dass Grenouille ihn sogar noch jenseits der Stadt bei seiner Kabane deutlich wahrgenommen hatte. Jetzt war er weg, verschwunden, durch intensivstes Schnuppern nicht mehr aufzuspuren. Grenouille war wie geluhmt vor Schreck.
          Sie ist tot, dachte er. Dann, noch entsetzlicher: Es ist mir ein anderer zuvorgekommen. Ein anderer hat meine Blume abgerupft und ihren Duft an sich gebracht! Einen Schrei brachte er nicht heraus, dazu war seine Erschutterung zu groß, aber zu Trunen reichte es, die in seinen Augenwinkeln schwollen und plutzlich beiderseits der Nase herabsturzten.
          Da kam Druot aus den >Quatre Dauphins< zum Mittagessen nach Hause und erzuhlte en passant, heute fruh sei der Zweite Konsul mit zwulf Maultieren und einer Tochter nach Grenoble gezogen. Grenouille schluckte die Trunen hinunter und rannte davon, quer durch die Stadt zur Porte du Cours. Auf dem Platz vor dem Tor hielt er an und schnupperte. Und im reinen, von den Stadtgeruchen unberuhrten Westwind fand er tatsuchlich seinen goldenen Faden wieder, dunn und schwach zwar, aber dennoch unverkennbar. Allerdings wehte der geliebte Duft nicht von Nordwesten her, wohin die Straße nach Grenoble fuhrte, sondern eher aus Richtung Cabris - wo nicht gar aus Sudwesten.
          Grenouille fragte die Wache, welche Straße der Zweite Konsul genommen habe. Der Posten wies nach Norden. Nicht die Straße nach Cabris? Oder die andere, die sudlich nach Auribeau und La Napoule fuhrte? - Bestimmt nicht, sagte der Posten, er habe es mit eigenen Augen gesehen.
          Grenouille rannte zuruck durch die Stadt zu seiner Kabane, packte Leintuch, Pomadentopf, Spatel, Schere und eine kleine glatte Keule aus Olivenholz in seinen Reisesack und machte sich unverzuglich auf den Weg - nicht auf den Weg nach Grenoble, sondern auf den Weg, den ihm seine Nase wies: nach Suden.
          Dieser Weg, der direkte Weg nach Napoule, fuhrte an den Ausluufern des Tanneron entlang durch die Flusssenken von Frayere und Siagne. Er war bequem zu gehen. Grenouille kam rasch voran. Als zu seiner Rechten Auribeau auftauchte, oben an den Bergkuppen hungend, roch er, dass er die Fluchtenden fast eingeholt hatte. Wenig sputer war er auf gleicher Huhe mit ihnen. Er roch sie jetzt einzeln, er roch sogar den Dunst ihrer Pferde. Sie konnten huchstens eine halbe Meile westlich sein, irgendwo in den Wuldern des Tanneron. Sie hielten nach Suden, aufs Meer zu. Genau wie er.
          Gegen funf Uhr nachmittag erreichte Grenouille La Napoule. Er ging in das Gasthaus, aß und bat um ein billiges Lager. Er sei ein Gerbergeselle aus Nizza, sagte er, auf dem Weg nach Marseille . Er kunne im Stall nuchtigen, hieß es. Dort legte er sich in eine Ecke und ruhte aus. Er roch, dass die drei Reiter sich nuherten. Er brauchte nur noch zu warten.
          Zwei Stunden sputer - es dummerte schon stark kamen sie an. Um ihr Inkognito zu wahren, hatten sie die Kleider gewechselt. Die beiden Frauen trugen nun dunkle Gewunder und Schleier, Richis einen schwarzen Rock. Er gab sich als Edelmann aus, kommend von Castellane; morgen wolle er auf die Lerinischen Inseln ubersetzen, der Wirt solle fur ein Boot sorgen, das bei Sonnenaufgang bereitstunde. Ob außer ihm und seinen Leuten noch andere Guste im Haus seien? Nein, sagte der Wirt, nur ein Gerbergeselle aus Nizza, der nuchtige im Stall.
          Richis schickte die Frauen auf die Zimmer. Er selbst ging in den Stall, um noch etwas aus den Satteltaschen zu holen, wie er sagte. Zunuchst konnte er den Gerbergesellen nicht finden, er musste sich vom Rossknecht eine Laterne geben lassen. Dann sah er ihn, in einem Winkel auf Stroh und einer alten Decke liegend, den Kopf gegen seinen Reisesack gelehnt, tief schlafend. Er sah so vollkommen unscheinbar aus, dass Richis fur einen Moment den Eindruck hatte, er sei gar nicht vorhanden, sondern nur eine von den schwankenden Schatten der Laternenkerze hingeworfene Schimure. Jedenfalls stand fur Richis augenblicklich fest, dass von diesem geradezu ruhrend harmlosen Wesen nicht die geringste Gefahr zu befurchten war, und er entfernte sich leise, um seinen Schlaf nicht zu sturen, und kehrte ins Haus zuruck.
          Das Abendessen nahm er gemeinsam mit seiner Tochter auf dem Zimmer ein. Er hatte sie uber Zweck und Ziel der seltsamen Reise nicht aufgeklurt, und er tat es auch jetzt nicht, obwohl sie ihn darum bat. Morgen werde er sie einweihen, sagte er, und sie kunne sich darauf verlassen, dass alles, was er plane und tue, zu ihrem Besten und zukunftigen Gluck ausschlagen werde.
          Nach dem Essen spielten sie einige Partien L'hombre, die er alle verlor, weil er statt in seine Karten immerfort in ihr Gesicht schaute, um sich an ihrer Schunheit zu ergutzen. Gegen neun Uhr brachte er sie in ihr Zimmer, das dem seinen gegenuberlag, kusste sie zur Nacht und versperrte die Ture von außen. Dann ging er selbst zu Bett.
          Er war mit einem Mal sehr mude von den Anstrengungen des Tages und der vergangenen Nacht und zugleich sehr zufrieden mit sich und dem Gang der Dinge. Ohne den geringsten Gedanken der Sorge, ohne dustere Ahnungen, wie sie ihn noch bis gestern jedesmal nach dem Luschen der Lampe gequult und wach gehalten hatten, schlief er sofort ein, und schlief ohne Traum, ohne Gestuhn, ohne krampfhaftes Zucken oder nervuses Um- und Umwulzen des Kurpers. Zum ersten Mal seit langer Zeit fand Richis einen tiefen, ruhigen, erquickenden Schlaf.
          Um die gleiche Zeit erhob sich Grenouille von seinem Lager im Stall. Auch er war zufrieden mit sich und dem Gang der Dinge und fuhlte sich uußerst erfrischt, obwohl er keine Sekunde lang geschlafen hatte. Als Richis in den Stall gekommen war, um ihn aufzusuchen, hatte er sich nur schlafend gestellt, um den Eindruck von Harmlosigkeit, den er an und fur sich schon wegen seines Unauffulligkeitsgeruchs ausstrahlte, noch augenscheinlicher zu machen. Anders als Richis ihn, hatte ubrigens er Richis uußerst pruzise wahrgenommen, olfaktorisch numlich, und Richis' Erleichterung angesichts seiner war ihm keineswegs entgangen.
          Und so hatten sich beide bei ihrer kurzen Begegnung gegenseitig von ihrer Arglosigkeit uberzeugt, zu Unrecht und zu Recht, und das war gut so, wie Grenouille fand, denn seine scheinbare und Richis' wirkliche Arglosigkeit erleichterten ihm, Grenouille, das Geschuft - eine Anschauung ubrigens, die Richis im umgekehrten Fall durchaus geteilt hutte.

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          Mit professioneller Beduchtigkeit ging Grenouille ans Werk. Er uffnete den Reisesack, entnahm ihm Leintuch, Pomade und Spatel, breitete das Tuch uber die Decke, auf der er gelegen hatte, und begann es mit der Fettpaste zu bestreichen. Das war eine Arbeit, die ihre Zeit brauchte, denn es kam darauf an, das Fett hier in dickerer, dort in dunnerer Schicht aufzutragen, je nachdem, an welche Stelle des Kurpers die jeweilige Partie des Tuches zu liegen kume. Mund und Achsel, Brust, Geschlecht und Fuße gaben grußere Duftmengen ab als etwa Schienbeine, Rucken und Ellbogen; Handfluchen grußere als Handrucken; Brauen grußere als Lider etc. - und mussten dementsprechend kruftiger mit Fett versehen werden. Grenouille modellierte also gleichsam ein Duftdiagramm des zu behandelnden Kurpers auf das Leintuch, und dieser Teil der Arbeit war ihm eigentlich der befriedigendste, denn es handelte sich um eine kunstlerische Technik, die Sinne, Phantasie und Hunde gleichermaßen beschuftigte und obendrein den Genuss des zu erwartenden Endergebnisses auf ideelle Weise vorwegnahm.
          Als er das ganze Tupfchen Pomade aufgebraucht hatte, tupfte er noch da und dort, nahm an einer Stelle des Tuches Fett ab, fugte an einer anderen zu, retuschierte, uberprufte noch einmal die modellierte Fettlandschaft - mit der Nase ubrigens, nicht mit den Augen, denn das ganze Geschuft spielte sich in vollkommener Finsternis ab, was vielleicht ein weiterer Grund fur Grenouilles ausgeglichen freudige Stimmung war. In dieser Neumondnacht lenkte ihn nichts ab. Die Welt war nichts als nur Geruch und ein wenig Brandungsgeruusch vom Meer her. Er war in seinem Element. Dann schlug er das Tuch zusammen wie eine Tapete, so dass die befetteten Fluchen aufeinanderlagen. Es war ihm dies eine schmerzliche Handlung, denn er wusste wohl, dass sich selbst bei aller Vorsicht Teile der ausgeformten Konturen dadurch abplatteten und verschoben. Aber es gab keine andere Muglichkeit, das Tuch zu transportieren. Nachdem er es soweit gefaltet hatte, dass er es ohne allzugroße Behinderung uber den Unterarm gelegt tragen konnte, steckte er Spatel, Schere und die kleine Olivenholzkeule zu sich und schlich hinaus ins Freie.
          Der Himmel war bedeckt. Im Haus brannte kein Licht mehr. Der einzige Funken in dieser stockfinsteren Nacht zuckte im Osten auf dem Leuchtturm des Forts auf der Ile Sainte-Marguerite, uber eine Meile entfernt, ein winziger heller Nadelstich in rabenschwarzem Tuch. Aus der Bucht kam ein leichter fischiger Wind. Die Hunde schliefen.
          Grenouille ging zur uußeren Tennenluke, an die eine Leiter gelehnt stand. Er hob die Leiter ab und balancierte sie aufrecht, drei Sprossen unter den freien rechten Arm geklemmt, den uberstand gegen die rechte Schulter gepresst, uber den Hof bis unter ihr Fenster. Das Fenster stand halb offen. Als er die Leiter hinaufstieg, bequem wie auf einer Treppe, begluckwunschte er sich zu dem Umstand, den Duft des Mudchens hier in Napoule ernten zu durfen. In Grasse, bei vergitterten Fenstern und streng bewachtem Haus, wure alles sehr viel schwieriger gewesen. Hier schlief sie sogar allein. Er brauchte nicht einmal die Zofe auszuschalten.
          Er druckte den Fensterflugel auf, schlupfte in die Kammer und legte das Laken ab. Dann wandte er sich dem Bett zu. Der Duft ihres Haares dominierte, denn sie lag auf dem Bauch, und sie hatte das Gesicht, vom Armwinkel umrahmt, ins Kissen gedruckt, so dass sich ihr Hinterkopf in geradezu idealer Weise dem Keulenschlag prusentierte.
          Das Geruusch des Schlages war dumpf und knirschend. Er hasste es. Er hasste es allein deshalb, weil es ein Geruusch war, ein Geruusch in seinem ansonsten lautlosen Geschuft. Nur mit zusammengebissenen Zuhnen konnte er dieses ekelhafte Geruusch ertragen, und nachdem es voruber war, stand er noch eine Weile lang steif und verbissen da, die Hand um die Keule gekrampft, als furchte er, das Geruusch kunne zuruckkehren als widerhallendes Echo von irgendwoher. Es kehrte aber nicht zuruck, sondern die Stille kehrte zuruck in die Kammer, eine vermehrte Stille sogar, da nun nicht einmal mehr der schlurfende Atem des Mudchens ging. Und alsbald luste sich Grenouilles verspannte Haltung (die man vielleicht auch als eine Ehrfurchtshaltung oder eine Art verkrampfter Schweigeminute hutte deuten kunnen), und sein Kurper sank geschmeidig in sich zusammen.
          Er steckte die Keule weg und war nun nur noch von emsiger Betriebsamkeit erfullt. Als erstes faltete er das Beduftungstuch auseinander, breitete es locker mit der Ruckseite uber Tisch und Stuhle und achtete darauf, dass die Fettseite unberuhrt blieb. Dann schlug er die Bettdecke zuruck. Der herrliche Duft des Mudchens, der plutzlich warm und massiv aufquoll, beruhrte ihn nicht. Er kannte ihn ja, und genießen, genießen bis zum Rausch, wurde er ihn sputer, wenn er ihn erst wirklich besaß. Jetzt ging es darum, muglichst viel davon einzufangen, muglichst wenig verstrumen zu lassen, jetzt waren Konzentration und Eile geboten.
          Mit raschen Scherenschnitten schlitzte er das Nachtgewand auf, zog es ihr aus, ergriff das befettete Laken und warf es uber ihren nackten Kurper. Dann hob er sie hoch, strich ihr das uberhungende Tuch unter, rollte sie ein wie ein Bucker den Strudel, falzte die Enden, umhullte sie von den Zehen bis an die Stirn. Nur ihr Haar schaute noch aus dem Mumienverband hervor. Er schnitt es dicht uber der Kopfhaut ab, packte es in ihr Nachthemd, das er zu einem Bundel verknotete. Zuletzt klappte er ein freigelassenes Stuck Tuch uber den geschorenen Schudel, strich das uberlappende Ende glatt, tupfte es mit zartem Fingerdruck fest. Er uberprufte das ganze Paket. Kein Schlitz, kein Luchlein, kein aufgekniffenes Fultlein klaffte mehr, an dem der Duft des Mudchens hutte entweichen kunnen. Sie war perfektverpackt. Es blieb nichts mehr zu tun, als zu warten, sechs Stunden lang, bis der Morgen graute.
          Er nahm den kleinen Sessel, auf dem ihre Kleider lagen, trug ihn ans Bett und setzte sich. In dem weiten schwarzen Gewand hing noch der zarte Hauch ihres Duftes, vermischt mit dem Geruch von Anisplutzchen, die sie als Reiseproviant in die Tasche gesteckt hatte. Er legte seine Fuße auf den Bettrand, in die Nuhe ihrer Fuße, deckte sich mit ihrem Kleid zu und aß die Anisplutzchen. Er war mude. Aber er wollte nicht schlafen, denn es gehurte sich nicht, dass man wuhrend der Arbeit schlief, auch wenn die Arbeit nur aus Warten bestand. Er erinnerte sich an die Nuchte, die er in der Werkstatt Baldinis beim Destillieren verbracht hatte: an den rußgeschwurzten Alambic, an das flackernde Feuer, an das leise spuckende Geruusch, mit dem das Destillat aus dem Kuhlrohr in die Florentinerflasche trupfelte. Von Zeit zu Zeit hatte man nach dem Feuer sehen mussen, hatte Destillierwasser nachfullen, die Florentinerflasche wechseln, das erschupfte Destilliergut ersetzen mussen. Und dennoch war ihm immer gewesen, als wache man nicht, um diese gelegentlich anfallenden Tutigkeiten zu verrichten, sondern als habe die Wache ihren eigenen Sinn. Selbst hier in dieser Kammer, wo sich der Prozess der Enfleurage ganz von allein vollzog, ja, wo sogar ein unzeitiges Prufen, Wenden und Betun des duftenden Pakets nur sturend hutte wirken kunnen selbst hier, so schien Grenouille, war seine wachende Gegenwart wichtig. Der Schlaf hutte den Geist des Gelingens gefuhrdet.
          Es fiel ihm im ubrigen nicht schwer, wachzubleiben und zu warten, trotz seiner Mudigkeit. Dieses Warten liebte er. Auch bei den vierundzwanzig anderen Mudchen hatte er es geliebt, denn es war ja kein dumpfes Dahinwarten und auch kein sehnsuchtiges Herbeiwarten, sondern ein begleitendes, sinnvolles, gewissermaßen ein tutiges Warten. Es tat sich etwas wuhrend dieses Wartens. Das Wesentliche tat sich. Und wenn er es auch nicht selbst tat, so tat es sich doch durch ihn. Er hatte sein Bestes gegeben. Er hatte all seine Kunstfertigkeit aufgebracht. Kein Fehler war ihm unterlaufen. Das Werk war einzigartig. Es wurde von Erfolg gekrunt sein... Nur noch ein paar Stunden warten musste er. Es befriedigte ihn zutiefst, dieses Warten. Er hatte sich in seinem Leben nie so wohl gefuhlt, so ruhig, so ausgeglichen, so eins und einig mit sich selbst - auch damals nicht in seinem Berg - wie in diesen Stunden der handwerklichen Pause, da er in tiefster Nacht bei seinen Opfern saß und wachend wartete. Es waren die einzigen Momente, da sich in seinem dusteren Hirn fast heitere Gedanken bildeten.
          Sonderbarerweise gingen diese Gedanken nicht in die Zukunft. Er dachte nicht an den Duft, den er in ein paar Stunden ernten wurde, nicht an das Parfum aus funfundzwanzig Mudchenauren, nicht an kunftige Plune, Gluck und Erfolg. Nein, er gedachte seiner Vergangenheit. Er erinnerte sich an die Stationen seines Lebens vom Hause der Madame Gaillard und dem feuchtwarmen Holzstoß davor bis zu seiner heutigen Reise in das kleine fischig riechende Dorf Napoule. Er gedachte des Gerbers Grimal, Giuseppe Baldinis, des Marquis de la Taillade-Espinasse. Er gedachte der Stadt Paris, ihres großen tausendfach schillernden ublen Brodems, er gedachte des rothaarigen Mudchens in der Rue des Marais, des freien Landes, des dunnen Winds, der Wulder. Er gedachte auch des Bergs in der Auvergne - er umging diese Erinnerung keineswegs -, seiner Huhle, der menschenleeren Luft. Er gedachte auch seiner Truume. Und er gedachte all dieser Dinge mit großem Wohlgefallen. Ja, es schien ihm, wenn er so zuruckdachte, dass er ein vom Gluck besonders begunstigter Mensch sei und dass sein Schicksal ihn auf zwar verschlungenen, doch letzten Endes richtigen Wegen gefuhrt habe - wie wure es sonst muglich gewesen, dass er hierhergefunden hutte, in diese dunkle Kammer, ans Ziel seiner Wunsche? Er war, wenn er sich's recht uberlegte, ein wirklich begnadetes Individuum!
          Ruhrung stieg in ihm auf, Demut und Dankbarkeit. "Ich danke dir", sagte er leise, "ich danke dir, Jean-Baptiste Grenouille, dass du so bist, wie du bist!" So ergriffen war er von sich selbst.
          Dann schloss er die Lider - nicht, um zu schlafen, sondern um sich ganz dem Frieden dieser Heiligen Nacht hinzugeben. Der Friede erfullte sein Herz. Aber es schien ihm, als herrsche er auch ringsum. Er roch den friedlichen Schlaf der Zofe im Nebenzimmer, den tiefbefriedigten Schlaf des Antoine Richis jenseits des Ganges, er roch den friedlichen Schlummer des Wirts und der Knechte, der Hunde, der Tiere im Stall, des ganzen Orts und des Meeres. Der Wind hatte sich gelegt. Alles war still. Nichts sturte den Frieden.
          Einmal bog er seinen Fuß zur Seite und beruhrte ganz sacht den Fuß von Laure. Nicht ihren Fuß eigentlich, sondern gerade eben das Tuch, das ihn umhullte, mit der dunnen Schicht Fett darunter, die sich mit ihrem Duft trunkte, mit ihrem herrlichen Duft, mit seinem.

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          Als die Vugel zu schreien begannen - also noch geraume Zeit vor Anbruch der Morgendummerung -, erhob er sich und vollendete seine Arbeit. Er schlug das Tuch auseinander und zog es wie ein Pflaster von der Toten ab. Das Fett schulte sich gut von der Haut. Nur an den verwinkelten Stellen blieben einige Reste hungen, die er mit dem Spatel abstreichen musste. Die ubrigen Pomadeschlieren wischte er mit Laures eigenem Unterhemd auf, mit dem er zuletzt auch noch den Kurper von Kopf bis Fuß abrubbelte, so grundlich, dass sich selbst noch das Porenfett in Krumeln von der Haut rieb, und mit ihm die letzten Fusselchen und Fitzelchen ihres Duftes. Jetzt erst war sie fur ihn wirklich tot, abgewelkt, blass und schlaff wie Blutenabfall.
          Er warf das Unterhemd ins große enfleurierte Tuch, in dem allein sie weiterlebte, legte das Nachtgewand mit ihren Haaren dazu und rollte alles zu einem kleinen festen Paket zusammen, das er sich unter den Arm klemmte. Er nahm sich nicht die Muhe, die Leiche auf dem Bett zuzudecken. Und obwohl die Nachtschwurze sich schon ins Blaugraue der Morgendummerung verwandelt hatte und die Dinge im Zimmer Kontur anzunehmen begannen, warf er keinen Blick mehr auf ihr Bett, um sie wenigstens ein einziges Mal in seinem Leben mit Augen zu sehen. Ihre Gestalt interessierte ihn nicht. Sie war fur ihn als Kurper gar nicht mehr vorhanden, nur noch als kurperloser Duft. Und diesen trug er unterm Arm und nahm ihn mit sich.
          Leise schwang er sich auf die Brustung des Fensters und stieg die Leiter hinab. Draußen war wieder Wind aufgekommen, und der Himmel klarte auf und goss ein kaltes dunkelblaues Licht uber das Land.
          Eine halbe Stunde sputer schlug die Magd in der Kuche Feuer. Als sie vor das Haus trat, um Holz zu holen, sah sie die angelehnte Leiter, war aber noch zu verschlafen, sich irgendeinen Reim darauf zu machen. Kurz nach sechs ging die Sonne auf. Riesig und goldrot hob sie sich zwischen den beiden Lerinischen Inseln aus dem Meer. Keine Wolke war am Himmel. Ein strahlender Fruhlingstag begann.
          Richis, dessen Zimmer nach Westen lag, erwachte um sieben. Er hatte zum ersten Mal seit Monaten wirklich pruchtig geschlafen und blieb entgegen seiner Gewohnheit noch eine Viertelstunde lang liegen, rukelte sich und seufzte vor Vergnugen und lauschte dem angenehmen Rumoren, das aus der Kuche heraufdrang. Als er dann aufstand und das Fenster weit uffnete und draußen das schune Wetter gewahrte und die frische wurzige Morgenluft einsog und die Brandung des Meeres hurte, da kannte seine gute Laune keine Grenzen mehr, und er spitzte die Lippen und pfiff eine muntere Melodie.
          Wuhrend er sich ankleidete, pfiff er weiter und pfiff immer noch, als er sein Zimmer verließ und mit beschwingtem Schritt uber den Gang an die Kammerture seiner Tochter trat. Er pochte. Und pochte wieder, ganz leise, um sie nicht aufzuschrecken. Es kam keine Antwort. Er luchelte. Er verstand gut, dass sie noch schlief.
          Vorsichtig schob er den Schlussel ins Loch und drehte den Riegel, leise, ganz leise, bedacht, sie nicht zu wecken, begierig fast, sie noch im Schlaf vorzufinden, aus dem er sie wachkussen wollte, noch einmal, zum letzten Mal, ehe er sie einem undern Mann geben musste.
          Die Ture sprang auf, er trat ein, und das Sonnenlicht fiel ihm voll ins Gesicht. Die Kammer war wie von gleißendem Silber gefullt, alles strahlte, und er musste vor Schmerz fur einen Moment die Augen schließen.
          Als er sie wieder uffnete, sah er Laure auf dem Bett liegen, nackt und tot und kahlrasiert und blendend weiß. Es war wie in dem Alptraum, den er vorvergangene Nacht in Grasse gehabt und wieder vergessen hatte, und dessen Inhalt ihm jetzt wie ein Blitzschlag ins Geduchtnisuhr. Alles war mit einem Mal haargenau wie in jenem Traum, nur sehr viel heller.

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          Die Nachricht vom Mord an Laure Richis verbreitete sich so schnell im Grasser Land, als hutte es geheißen "Der Kunig ist tot!" oder "Es gibt Krieg!" oder "Die Piraten sind an der Kuste gelandet!", und uhnlichen, schlimmeren Schrecken luste sie aus. Mit einem Mal war die sorgfultig vergessene Angst wieder da, virulent wie im vergangenen Herbst, mit all ihren Begleiterscheinungen: der Panik, der Empurung, der Wut, den hysterischen Verduchtigungen, der Verzweiflung. Die Menschen blieben nachts in den Huusern, sperrten ihre Tuchter ein, verbarrikadierten sich, misstrauten einander und schliefen nicht mehr. Jedermann dachte, es werde nun weitergehen wie damals, jede Woche ein Mord. Die Zeit schien um ein halbes Jahr zuruckgesetzt.
          Luhmender noch als vor einem halben Jahr war die Angst, denn die plutzliche Ruckkunft der lungst uberwunden geglaubten Gefahr verbreitete ein Gefuhl von Hilflosigkeit unter den Menschen. Wenn selbst des Bischofs Fluch versagte! Wenn Antoine Richis, der große Richis, der reichste Burger der Stadt, der Zweite Konsul, ein muchtiger, besonnener Mann, dem alle Hilfsmittel zu Gebote standen, sein eigenes Kind nicht schutzen konnte! Wenn des Murders Hand nicht einmal vor der heiligen Schunheit Laures zuruckschreckte - denn in der Tat wie eine Heilige erschien sie allen, die sie gekannt hatten, vor allem jetzt, hinterher, als sie tot war. Was gab es da noch fur Hoffnung, dem Murder zu entgehen? Er war grausamer als die Pest, denn vor der Pest konnte man fliehen, vor diesem Murder aber nicht, wie das Beispiel Richis' bewies. Er besaß offenbar uberirdische Fuhigkeiten. Er stand ganz gewiss mit dem Teufel im Bund, wenn er nicht selbst der Teufel war. Und so wussten sich viele, vor allem die einfultigeren Gemuter, keinen anderen Rat, als in die Kirche zu gehen und zu beten, ein jeder Berufsstand zu seinem Patron, die Schlosser zum Heiligen Aloysius, die Weber zum Heiligen Krispinius, die Gurtner zum Heiligen Antonius, die Parfumeure zum Heiligen Josephus. Und sie nahmen ihre Frauen und Tuchter mit, beteten gemeinsam, aßen und schliefen in der Kirche, verließen sie selbst am Tage nicht mehr, uberzeugt, im Schutz der verzweifelten Gemeinschaft und im Angesicht der Madonna die einzig mugliche Sicherheit vor dem Ungeheuer zu finden, sofern es uberhaupt noch Sicherheit gab.
          Andere, gewitztere Kupfe, schlossen sich, da die Kirche bereits schon einmal versagt hatte, zu okkulten Gruppen zusammen, engagierten fur viel Geld eine approbierte Hexe aus Gourdon, verkrochen sich in eine der vielen Kalksteingrotten des Grasser Untergrunds und veranstalteten Satansmessen, um sich den Leibhaftigen geneigt zu machen. Wieder andere, vornehmlich Mitglieder des gehobenen Burgertums und des gebildeten Adels, setzten auf modernste wissenschaftliche Methoden, magnetisierten ihre Huuser, hypnotisierten ihre Tuchter, bildeten fluidale Schweigekreise in ihren Salons und versuchten, mit gemeinschaftlich produzierten Gedankenemissionen den Geist des Murders telepathisch zu bannen. Die Korporationen organisierten eine Bußprozession von Grasse nach Napoule und zuruck. Die Munche aus den funf Klustern der Stadt richteten einen permanenten Bittgottesdienst ein, mit Dauergesungen, so dass bald an dieser, bald an jener Ecke der Stadt ein ununterbrochenes Lamento zu huren war, bei Tag und bei Nacht. Gearbeitet wurde kaum noch.
          So harrte das Volk von Grasse in fieberhafter Untutigkeit, beinahe mit Ungeduld, des nuchsten Mordanschlags. Dass er bevorstand, bezweifelte niemand. Und insgeheim sehnte jeder die Schreckensnachricht herbei, in der einzigen Hoffnung, dass sie nicht ihn selbst, sondern einen anderen betrufe.
          Die Obrigkeit allerdings in Stadt, Land und Provinz ließ sich diesmal nicht von der hysterischen Stimmung des Volkes anstecken. Zum ersten Mal, seitdem der Mudchenmurder aufgetreten war, kam es zu planvoller und ersprießlicher Zusammenarbeit zwischen den Vogteien von Grasse, Draguignan und Toulon, zwischen Magistraten, Polizei, Intendant, Parlament und Marine.
          Der Grund fur dieses solidarische Vorgehen der Muchtigen war einerseits die Befurchtung eines allgemeinen Volksaufstandes, andrerseits die Tatsache, dass man seit dem Mord an Laure Richis Anhaltspunkte hatte, die eine systematische Verfolgung des Murders uberhaupt erst ermuglichten. Der Murder war gesehen worden. Offensichtlich handelte es sich um jenen ominusen Gerbergesellen, der sich in der Mordnacht im Stall des Gasthofs von Napoule aufgehalten hatte und am nuchsten Morgen spurlos verschwunden war. Nach ubereinstimmenden Angaben des Wirts, des Stallknechts und Richis' war er ein unscheinbarer, kleingewachsener Mann mit bruunlichem Rock und grobleinenem Reisesack. Obwohl ansonsten die Erinnerung der drei Zeugen seltsam vage blieb, sie etwa Gesicht, Haarfarbe oder Sprache des Mannes nicht hutten beschreiben kunnen, wusste der Wirt doch noch zu sagen, dass ihm, wenn er sich nicht tuusche, an Haltung und Gang des Fremden etwas Linkisches, Hinkendes aufgefallen sei, wie von einer Beinverletzung oder einem verkruppelten Fuß.
          Mit diesen Indizien versehen nahmen schon gegen Mittag des Mordtags zwei Reiterabteilungen der Marechaussee die Verfolgung des Murders in Richtung Marseille auf - eine an der Kuste entlang, die andere uber den Weg im Landesinnern. Die nuhere Umgebung von Napoule ließ man von Freiwilligen durchkummen. Zwei Kommissionure des Grasser Landgerichts reisten nach Nizza, um dort Nachforschungen uber den Gerbergesellen anzustellen. In den Hufen von Frejus, Cannes und Antibes wurden alle auslaufenden Schiffe kontrolliert, an der Grenze nach Savoyen jeder Weg gesperrt, Reisende hatten sich auszuweisen. Eine steckbriefliche Beschreibung des Tuters erschien fur die, die lesen konnten, an allen Stadttoren von Grasse, Vence, Gourdon und an den Kirchturen der Durfer. Dreimal tuglich wurde sie ausgeschrieen. Die Sache mit dem vermuteten Klumpfuß besturkte freilich die Ansicht, es handle sich bei dem Tuter um den Teufel selbst, und schurte deshalb eher die Panik in der Bevulkerung, als dass man verwertbare Hinweise erhielt.
          Erst nachdem der Grasser Gerichtsprusident im Auftrag Richis' eine Belohnung von nicht weniger als zweihundert Livres fur Hinweise zur Ergreifung des Tuters ausgeschrieben hatte, fuhrten Denunziationen zur Festnahme einiger Gerbergesellen in Grasse, Opio und Gourdon, von denen einer tatsuchlich das Ungluck hatte, zu hinken. Diesen gedachte man schon trotz seinem durch mehrere Zeugen gefestigten Alibi der Folter zu unterziehen, als sich, am zehnten Tag nach geschehenem Mord, ein Mann der Stadtwache bei der Magistratur meldete und den Richtern folgende Aussage machte: Am Mittag jenes Tages sei er, Gabriel Tagliasco, Hauptmann der Wache, an der Porte du Cours wie gewuhnlich Dienst tuend, von einem Individuum, auf welches, wie er jetzt wisse, die steckbriefliche Beschreibung ziemlich passe, angesprochen und wiederholt und in dringlicher Weise nach dem Weg gefragt worden, auf welchem der Zweite Konsul mit seiner Karawane am Morgen die Stadt verlassen habe. Dem Vorfall selbst habe er weder damals noch sputer irgendeine Bedeutung beigemessen, und auch an das Individuum hutte er sich aus eigener Kraft mit Bestimmtheit nicht mehr erinnern kunnen - es sei so durchaus unbemerkenswert gewesen -, wenn er es nicht gestern zufullig wieder gesehen hutte, und zwar hier in Grasse, in der Rue de la Louve, vor dem Atelier des Maitre Druot und der Madame Arnulfi, bei welcher Gelegenheit ihm auch aufgefallen sei, dass der Mensch, in die Werkstatt zuruckkehrend, deutlich gehinkt habe. Eine Stunde sputer wurde Grenouille verhaftet. Der Wirt und sein Stallknecht aus Napoule, die sich wegen der Identifizierung der anderen Verduchtigen in Grasse aufhielten, erkannten ihn sofort als den Gerbergesellen wieder, der bei ihnen ubernachtet hatte: Dieser sei's und kein anderer, dieser musse der gesuchte Murder sein.
          Man untersuchte die Werkstatt, man untersuchte die Kabane im Olivengarten hinter dem Franziskanerkloster. In einer Ecke, kaum versteckt, lagen das zerschnittene Nachtgewand, das Unterhemd und die roten Haare der Laure Richis. Und als man den Boden aufgrub, kamen nach und nach die Kleider und Haare der anderen vierundzwanzig Mudchen zum Vorschein. Die Holzkeule fand sich, mit der die Opfer erschlagen worden waren, und der leinene Reisesack. Die Indizien waren uberwultigend. Man ließ die Kirchenglocken luuten. Der Gerichtsprusident gab durch Ausruf und Anschlag bekannt, dass der beruchtigte Mudchenmurder, nach dem man fast ein Jahr lang gefahndet habe, endlich gefasst und in festem Gewahrsam sei.

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          Zunuchst glaubten die Leute nicht an die Verlautbarung. Sie hielten sie fur eine Finte, mit der die Behurden ihre eigene Unfuhigkeit kaschieren und die gefuhrlich gereizte Stimmung des Volkes beruhigen wollten. Zu gut erinnerte man sich noch der Zeit, da es geheißen hatte, der Murder sei nach Grenoble abgezogen. Zu fest hatte sich diesmal die Angst in die Seelen der Menschen gefressen.
          Erst als am folgenden Tag auf dem Kirchplatz vor der Pruvotu die Beweisstucke uffentlich ausgestellt wurden - es war ein schauerliches Bild, die funfundzwanzig Gewunder mit den funfundzwanzig Haarbuscheln, wie Vogelscheuchen an Stangen aufgezogen, an der Stirnseite des Platzes, der Kathedrale gegenuber, aufgereiht zu sehen - da wandelte sich die uffentliche Meinung.
          Zu vielen Hunderten defilierten die Menschen an der makabren Galerie voruber. Angehurige der Opfer, die die Kleider wiedererkannten, brachen schreiend zusammen. Die ubrige Menge, teils aus Sensationslust, teils um vullig uberzeugt zu sein, begehrte den Murder zu sehen. Die Rufe nach ihm wurden bald so laut, die Unruhe auf dem kleinen, menschenwogenden Platz so bedrohlich, dass der Prusident sich entschloss, Grenouille aus seiner Zelle heraufbringen zu lassen und ihn an einem Fenster des ersten Stocks der Pruvotu zu prusentieren.
          Als Grenouille ans Fenster trat, verstummte das Gebrull. Es war mit einem Mal so vollstundig still wie an einem heißen Sommertag zur Mittagsstunde, wenn alles draußen auf den Feldern ist oder sich in den Schatten der Huuser verkriecht. Kein Tritt, kein Ruuspern, kein Atmen war mehr zu huren. Die Menge war nur noch Auge und offener Mund, minutenlang. Kein Mensch konnte es fassen, dass der windige, kleine, geduckte Mann dort oben am Fenster, dieses Wurstchen, dieses armselige Huuflein, dieses Nichts, uber zwei Dutzend Morde begangen haben sollte. Er sah einem Murder einfach nicht gleich. Niemand hutte zwar sagen kunnen, wie er sich den Murder, diesen Teufel, eigentlich vorgestellt hatte, aber alle waren sich einig: so nicht! Und dennoch - obwohl der Murder den Vorstellungen der Leute so gar nicht entsprach und seine Prusentation daher, wie man wurde meinen kunnen, wenig uberzeugend hutte wirken sollen, ging paradoxerweise allein von der Leibhaftigkeit dieses Menschen am Fenster und von der Tatsache, dass eben nur er und kein anderer als Murder prusentiert wurde, eine uberzeugende Wirkung aus. Sie dachten alle: Das kann doch nicht wahr sein! - und wussten im selben Moment, dass es wahr sein musse.
          Freilich, erst als die Wachen das Munnlein wieder zuruck ins Dunkel des Zimmers gezogen hatten, erst als es also nicht mehr gegenwurtig und sichtbar, sondern nur noch, wenn auch fur kurzeste Zeit, als Erinnerung, fast muchte man sagen als Begriff in den Hirnen der Menschen existierte, als Begriff eines abscheulichen Murders - da erst wich die Verbluffung der Menge und schaffte Raum fur eine angemessene Reaktion: Die Munder klappten zu, die tausend Augen belebten sich wieder. Und dann erscholl es in einem einzigen donnernden Wut- und Racheschrei: "Wir wollen ihn haben!" Und sie schickten sich an, die Pruvotu zu sturmen, um ihn mit eigenen Hunden zu erwurgen, zu zerreißen und zu zerstuckeln. Die Wachen hatten alle Muhe, das Tor zu verrammeln und den Mob zuruckzudrungen. Grenouille wurde schleunigst in sein Verlies gebracht. Der Prusident trat ans Fenster und versprach ein schnelles und exemplarisch strenges Verfahren. Trotzdem dauerte es noch Stunden, ehe sich die Menge verlaufen, noch Tage, eh sich die Stadt leidlich beruhigt hatte.
          In der Tat ging der Prozess gegen Grenouille uußerst zugig vonstatten, da nicht nur die Beweismittel erdruckend waren, sondern der Angeklagte selbst bei den Vernehmungen ohne Umschweife die ihm zur Last gelegten Morde gestand.
          Allein nach seinen Motiven befragt, wusste er keine befriedigende Antwort zu geben. Er wiederholte immer nur, er habe die Mudchen gebraucht und sie deshalb erschlagen. Wozu er sie gebraucht habe und was das uberhaupt bedeuten sollte, "er habe sie gebraucht" - dazu schwieg er. Man uberantwortete ihn daraufhin der Folter, hungte ihn stundenlang an den Fußen auf, pumpte ihm sieben Finten Wasser ein, setzte Fußzwingen - ohne den geringsten Erfolg. Der Mensch schien gegen kurperliche Schmerzen unempfindlich, gab keinen Laut von sich und sagte, wenn er abermals befragt wurde, nichts als: "Ich habe sie gebraucht. " Die Richter hielten ihn fur geisteskrank. Sie setzten die Folter ab und beschlossen, das Verfahren ohne weitere Vernehmungen zu Ende zu bringen.
          Die einzige Verzugerung, die sich noch ergab, war ein juristisches Geplunkel mit dem Magistrat von Draguignan, in dessen Vogtei La Napoule gelegen war, und dem Parlament in Aix, welche beide den Prozess an sich bringen wollten. Aber die Grasser Richter ließen sich die Sache nicht mehr entwinden. Sie waren es gewesen, die den Tuter gefasst hatten, in ihrem Zustundigkeitsbereich war die uberwiegende Anzahl der Morde begangen worden, und ihnen drohte der geballte Volkszorn, wenn sie den Murder einem anderen Gericht uberließen. Sein Blut musste in Grasse fließen.
          Am 15. April 1766 wurde das Urteil gefullt und dem Angeklagten in seiner Zelle verlesen: "Der Parfumeurgeselle Jean-Baptiste Grenouille", so hieß es da, "soll binnen achtundvierzig Stunden auf den Cours vor die Tore der Stadt gefuhrt, dort, das Gesicht zum Himmel, auf ein Holzkreuz gebunden werden, bei lebendigem Leib zwulf Schluge mit einer eisernen Stange erhalten, die ihm die Gelenke der Arme, Beine, Huften und Schultern zerschmettern, und danach auf dem Kreuze angeflochten aufgestellt werden bis zu seinem Tode." Die ubliche Gnadenpraxis, den Delinquenten nach dem Zerschmettern mittels eines Fadens zu erwurgen, wurde dem Scharfrichter ausdrucklich untersagt, auch wenn der Todeskampf sich uber Tage hinziehen sollte. Die Leiche sei nuchtens auf dem Schindanger zu vergraben, der Ort nicht zu kennzeichnen.
          Grenouille nahm den Spruch ohne Regung entgegen. Der Gerichtsdiener fragte ihn nach seinem letzten Wunsch. "Nichts", sagte Grenouille; er habe alles, was er brauche.
          Ein Priester ging in die Zelle, um ihm die Beichte abzunehmen, kam aber schon nach einer Viertelstunde unverrichteter Dinge wieder heraus. Der Verurteilte habe ihn bei der Erwuhnung des Namens Gottes so absolut verstundnislos angeschaut, als hure er diesen Namen soeben zum ersten Mal, sich dann auf seiner Pritsche ausgestreckt, um sofort in tiefsten Schlaf zu versinken. Jedes weitere Wort sei sinnlos gewesen.
          In den folgenden zwei Tagen kamen viele Menschen, um den beruhmten Murder aus der Nuhe zu sehen. Die Wurter ließen sie durch die Klappe an der Zellenture einen Blick tun und verlangten sechs Sol pro Blick. Ein Kupferstecher, der eine Skizze anfertigen wollte, musste zwei Franc bezahlen. Das Motiv war aber eher enttuuschend. Der Gefangene, an Fuß- und Handgelenken angekettet, lag die ganze Zeit auf der Pritsche und schlief. Das Gesicht hatte er zur Wand gekehrt, und er reagierte weder auf Klopfzeichen noch auf Zurufe. Der Zutritt zur Zelle war Besuchern strikt verwehrt, und die Wurter wagten es trotz verlockender Angebote nicht, sich uber dies Verbot hinwegzusetzen. Man furchtete, der Gefangene kunne von einem Angehurigen seiner Opfer zur Unzeit ermordet werden. Aus dem gleichen Grund durfte ihm auch kein Essen zugeschoben werden. Es hutte vergiftet sein kunnen. Wuhrend der ganzen Gefangenschaft erhielt Grenouille sein Essen aus der Gesindekuche des bischuflichen Palastes, welches der Gefungnisoberaufseher vorzukosten hatte. Die letzten beiden Tage aß er freilich gar nichts. Er lag und schlief. Gelegentlich klirrten seine Ketten, und wenn der Wurter an die Turklappe eilte, konnte er ihn einen Schluck aus der Wasserflasche nehmen, sich wieder aufs Lager werfen und weiterschlafen sehen. Es schien, als sei dieser Mensch seines Lebens derart mude, dass er nicht einmal mehr die letzten Stunden davon in wachem Zustand miterleben wollte.
          Unterdessen wurde der Cours fur die Hinrichtung vorbereitet. Zimmerleute bauten ein Schafott, drei mal drei Meter groß und zwei Meter hoch, mit Gelunder und einer soliden Treppe - ein so pruchtiges hatte man in Grasse noch nie gehabt. Dazu eine Holztribune fur die Honoratioren und einen Zaun gegen das gemeine Volk, das in gewisser Distanz gehalten werden sollte. Die Fensterplutze in den Huusern links und rechts der Porte du Cours und im Gebuude der Wache waren lungst zu exorbitanten Preisen vermietet. Sogar in der etwas seitwurts gelegenen Charitu hatte der Gehilfe des Scharfrichters den Kranken ihre Zimmer abgehandelt und mit hohem Gewinn an Schaulustige weitervermietet. Die Limonadenverkuufer mischten kannenweise Lakritzenwasser auf Vorrat, der Kupferstecher druckte seine im Gefungnis genommene und aus der Phantasie noch ein wenig rasanter gestaltete Skizze des Murders in vielen hundert Exemplaren, fliegende Hundler strumten zu Dutzenden in die Stadt, die Bucker buken Gedenkplutzchen.
          Der Scharfrichter, Monsieur Papon, der schon seit Jahren keinen Delinquenten mehr zu zerbrechen gehabt hatte, ließ sich eine schwere vierkantige Eisenstange schmieden und ging damit in den Schlachthof, um an Tierkadavern seine Hiebe zu uben. Zwulf Schluge durfte er nur fuhren, und mit diesen mussten die zwulf Gelenke sicher zerbrochen werden, ohne dass wertvolle Teile des Kurpers, wie etwa Brust oder Kopf, beschudigt wurden - ein diffiziles Geschuft, das grußtes Fingerspitzengefuhl erforderte.
          Die Burger bereiteten sich auf das Ereignis wie auf einen hohen Festtag vor. Dass nicht gearbeitet werden wurde, verstand sich von selbst. Die Frauen bugelten ihr Feiertagshabit, die Munner staubten ihre Rucke aus und ließen sich die Stiefel glunzend putzen. Wer eine Militurcharge oder ein Amt besaß, wer Gildenmeister war, Advokat, Notar, Direktor einer Bruderschaft oder sonst etwas Bedeutendes, der legte Uniform und offizielle Tracht an, mit Orden, Schurpen, Ketten und mit kreideweiß gepuderter Perucke. Die Gluubigen gedachten sich post festum zum Gottesdienst zu versammeln, die Satansjunger zu einer deftigen luziferischen Dankmesse, die gebildete Noblesse zur magnetischen Seance in den Hotels der Cabris', Villeneuves und Fontmichels. In den Kuchen wurde schon gebacken und gebraten, aus den Kellern Wein geholt und vom Markt der Blumenschmuck, in der Kathedrale probten Organist und Kirchenchor.
          Im Hause Richis an der Rue Drohe blieb es still. Richis hatte sich jede Zurustung fur den "Tag der Befreiung", als welchen das Volk den Hinrichtungstag des Murders bezeichnete, verbeten. Ihm war alles ein Ekel. Die plutzlich wiederaufbrechende Furcht der Menschen war ihm ein Ekel gewesen, ihre fiebrige Vorfreude war ihm ein Ekel. Sie selbst, die Menschen, alle miteinander, waren ihm ein Ekel. Er hatte sich nicht an der Prusentation des Tuters und seiner Opfer auf dem Platz vor der Kathedrale beteiligt, nicht am Prozess, nicht am widerwurtigen Defilee der Sensationslusternen vor der Zelle des Verurteilten. Zur Identifikation der Haare und Kleider seiner Tochter hatte er das Gericht zu sich nach Hause bestellt, kurz und gefasst seine Aussage gemacht und gebeten, man muge ihm die Dinge als Reliquien uberlassen, was auch geschah. Er trug sie in Laures Kammer, legte das zerschnittene Nachthemd und das Leibchen auf ihr Bett, breitete die roten Haare ubers Kissen und setzte sich davor und verließ die Kammer Tag und Nacht nicht mehr, als wolle er durch diese sinnlose Wache gutmachen, was er in der Nacht von La Napoule versuumt hatte. Er war so erfullt von Ekel, Ekel vor der Welt und vor sich selbst, dass er nicht weinen konnte.
          Auch vor dem Murder empfand er Ekel. Er wollte ihn nicht mehr als Menschen sehen, nur noch als Opfer, das geschlachtet wurde. Erst bei der Hinrichtung wollte er ihn sehen, wenn er auf dem Kreuz lag und die zwulf Schluge auf ihn niederkrachten, dann wollte er ihn sehen, ganz nah wollte er ihn dann sehen, er hatte sich einen Platz in vorderster Reihe reservieren lassen. Und wenn sich das Volk verlaufen hutte, nach ein paar Stunden, dann wollte er hinaufsteigen zu ihm aufs Blutgerust und sich neben ihn setzen und Wache halten, nuchtelang, tagelang, wenn es sein musste, und ihm dabei in die Augen schauen, dem Murder seiner Tochter, und ihm den ganzen Ekel in die Augen truufeln, der in ihm war, den ganzen Ekel in seinen Todeskampf hineinschutten wie eine brennende Suure, so lange, bis das Ding verreckt war...
          Danach? Was er danach tun wurde? Er wusste es nicht. Vielleicht wieder sein gewohntes Leben aufnehmen, vielleicht heiraten, vielleicht einen Sohn zeugen, vielleicht nichts tun, vielleicht sterben. Es war ihm vullig gleichgultig. Daruber nachzudenken erschien ihm so sinnlos, als duchte er daruber nach, was er nach seinem eigenen Tode tun sollte: nichts naturlich. Nichts, was er jetzt schon wissen kunnte.

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          Die Hinrichtung war auf funf Uhr nachmittags angesetzt. Schon am Morgen kamen die ersten Schaulustigen und sicherten sich Plutze. Sie brachten Stuhle und Trittbunkchen mit, Sitzkissen, Verpflegung, Wein und ihre Kinder. Als gegen Mittag die Landbevulkerung aus allen Himmelsrichtungen in Massen herbeistrumte, war der Cours schon so dicht besetzt, dass die Neuankummlinge auf den terrassenfurmig ansteigenden Gurten und Feldern jenseits des Platzes und auf der Straße nach Grenoble lagern mussten. Die Hundler machten bereits gute Geschufte, man aß, man trank, es summte und brodelte wie bei einem Jahrmarkt. Bald waren wohl an die zehntausend Menschen zusammengekommen, mehr als zum Fest der Jasminkunigin, mehr als zur grußten Prozession, mehr als jemals zuvor in Grasse. Bis weit die Hunge hinauf standen sie. Sie hingen in den Buumen, sie hockten auf den Mauern und Duchern, sie drungten sich zu zehnt, zu zwulft in den Fensteruffnungen. Nur im Zentrum des Cours, geschutzt vom Barrikadenzaun, wie herausgestochen aus dem Teig der Menschenmenge, blieb noch ein freier Platz fur die Tribune und fur das Schafott, das sich plutzlich ganz klein ausmachte, wie ein Spielzeug oder wie die Buhne eines Puppentheaters. Und eine Gasse wurde freigehalten, vom Richtplatz zur Porte du Cours und in die Rue Droite hinein.
          Kurz nach drei erschienen Monsieur Papon und seine Gehilfen. Beifall rauschte auf. Sie trugen das aus Holzbalken gefugte Andreaskreuz zum Schafott und brachten es auf die geeignete Arbeitshuhe, indem sie es mit vier schweren Tischlerbucken unterstutzten. Ein Tischlergeselle nagelte es fest. Jeder Handgriff der Henkersknechte und des Tischlers wurde von der Menge mit Applaus bedacht. Als dann Papon mit der Eisenstange herbeitrat, das Kreuz umging, seine Schritte ausmaß, bald von dieser, bald von jener Seite einen imaginierten Schlag fuhrte, brach regelrechter Jubel aus.
          Um vier begann sich die Tribune zu fullen. Es gab viel feine Leute zu bestaunen, reiche Herren mit Lakaien und guten Manieren, schune Damen, große Hute, glitzernde Kleider. Der gesamte Adel aus Stadt und Land war zugegen. Die Herren des Rats erschienen in geschlossenem Zug, angefuhrt von den beiden Konsuln. Richis trug schwarze Kleider, schwarze Strumpfe, schwarzen Hut. Hinter dem Rat marschierte der Magistrat ein, unter Leitung des Gerichtsprusidenten. Als letzter kam der Bischof im offenen Tragstuhl, in leuchtend violettem Ornat und grunem Hutchen. Wer noch bedeckt war, nahm sputestens jetzt die Mutze ab. Es wurde feierlich.
          Dann geschah etwa zehn Minuten lang nichts. Die Herrschaften hatten Platz genommen, das Volk harrte reglos, niemand aß mehr, alles wartete. Papon und seine Knechte standen auf der Buhne des Schafotts wie angeschraubt. Die Sonne hing groß und gelb uber dem Esterei. Aus dem Grasser Becken kam ein lauer Wind und trug den Duft der Orangenbluten herauf. Es war sehr warm und geradezu unwahrscheinlich still.
          Endlich, als man schon meinte, die Spannung kunne nicht lunger andauern, ohne in einen tausendfachen Schrei, einen Tumult, eine Raserei oder ein sonstiges Massenereignis zu zerplatzen, hurte man in der Stille Pferdegetrappel und das Knirschen von Rudern.
          Die Rue Droite herunter kam ein geschlossener zweispunniger Wagen gefahren, der Wagen des Polizeilieutenants. Er passierte das Stadttor und erschien, nun fur jedermann sichtbar, in der schmalen Gasse, die zum Richtplatz fuhrte. Der Polizeilieutenant hatte auf diese Art der Vorfuhrung bestanden, da er anders die Sicherheit des Delinquenten nicht garantieren zu kunnen glaubte. ublich war sie durchaus nicht. Das Gefungnis lag kaum funf Minuten vom Richtplatz entfernt, und wenn ein Verurteilter diese kurze Strecke, aus welchem Grunde immer, zu Fuß nicht mehr bewultigte, so hutte es ein offner Eselskarren auch getan. Dass einer zur eigenen Hinrichtung in der Karosse vorfuhr, mit Kutscher, livrierten Dienern und Reiterbegleitung, das hatte man noch nicht erlebt.
          Trotzdem kam in der Menge nicht Unruhe oder Unmut auf, im Gegenteil. Man war zufrieden, dass uberhaupt etwas geschah, hielt die Sache mit der Kutsche fur einen gelungenen Einfall, uhnlich wie im Theater, wo man es schutzt, wenn ein bekanntes Stuck auf uberraschend neue Weise prusentiert wird. Viele fanden sogar, der Auftritt sei angemessen. Einem so außergewuhnlich abscheulichen Verbrecher gebuhrte eine außerordentliche Behandlung. Man konnte ihn nicht wie einen ordinuren Straßenruuber in Ketten auf den Platz zerren und erschlagen. Daran wure nichts Sensationelles gewesen. Ihn vom Equipagenpolster weg auf das Andreaskreuz zu fuhren - das war von ungleich einfallsreicherer Grausamkeit.
          Die Kutsche hielt zwischen Schafott und Tribune. Die Lakaien sprangen ab, uffneten den Schlag und klappten das Treppchen herunter. Der Polizeilieutenant stieg aus, nach ihm ein Offizier der Wache und endlich Grenouille. Er trug einen blauen Rock, ein weißes Hemd, weiße Seidenstrumpfe und schwarze Schnallenschuhe. Er war nicht gefesselt. Niemand fuhrte ihn am Arm. Er entstieg der Kutsche wie ein freier Mann.
          Und dann geschah ein Wunder. Oder so etwas uhnliches wie ein Wunder, numlich etwas dermaßen Unbegreifliches, Unerhurtes und Unglaubliches, dass alle Zeugen es im nachhinein als Wunder bezeichnet haben wurden, wenn sie uberhaupt noch jemals darauf zu sprechen gekommen wuren, was nicht der Fall war, da sie sich sputer allesamt schumten, uberhaupt daran beteiligt gewesen zu sein.
          Es war numlich so, dass die zehntausend Menschen auf dem Cours und auf den umliegenden Hungen sich von einem Moment zum anderen von dem unerschutterlichen Glauben durchtrunkt fuhlten, der kleine Mann im blauen Rock, der soeben aus der Kutsche gestiegen war, kunne unmuglich ein Murder sein. Nicht dass sie an seiner Identitut zweifelten! Da stand derselbe Mensch, den sie vor wenigen Tagen auf dem Kirchplatz am Fenster der Pruvotu gesehen hatten und den sie, wuren sie damals seiner habhaft geworden, in wutendem Hass gelyncht hutten. Derselbe, der zwei Tage zuvor aufgrund erdruckender Beweise und eigenen Gestundnisses rechtskruftig verurteilt worden war. Derselbe, dessen Erschlagung durch den Scharfrichter sie noch vor einer Minute gierig ersehnt hatten. Er war's, unzweifelhaft! Und doch - er war es auch nicht, er konnte es nicht sein, er konnte kein Murder sein. Der Mann, der auf dem Richtplatz stand, war die Unschuld in Person. Das wussten in diesem Moment alle vom Bischof bis zum Limonadenverkuufer, von der Marquise bis zur kleinen Wuscherin, vom Prusidenten des Gerichts bis zum Gassenjungen.
          Auch Papon wusste es. Und seine Fuuste, die den Eisenstab umklammert hielten, zitterten. Ihm war mit einem Mal so schwach in seinen starken Armen, so weich in den Knien, so bang im Herzen wie einem Kind. Er wurde diesen Stab nicht heben kunnen, niemals im Leben wurde er die Kraft aufbringen, ihn gegen den kleinen unschuldigen Mann zu erheben, ach, er furchtete den Moment, da er heraufgefuhrt wurde, er schlotterte, er musste sich auf seinen murderischen Stab stutzen, um nicht vor Schwuche in die Knie zu sinken, der große, starke Papon!
          Nicht anders erging es den zehntausend Munnern und Frauen und Kindern und Greisen, die versammelt waren: Sie wurden schwach wie kleine Mudchen, die dem Charme ihres Liebhabers erliegen. Es uberkam sie ein muchtiges Gefuhl von Zuneigung, von Zurtlichkeit, von toller kindischer Verliebtheit, ja, weiß Gott, von Liebe zu dem kleinen Murdermann, und sie konnten, sie wollten nichts dagegen tun. Es war wie ein Weinen, gegen das man sich nicht wehren kann, wie ein lange zuruckgehaltenes Weinen, das aus dem Bauch aufsteigt und alles Widerstundliche wunderbar zersetzt, alles verflussigt und ausschwemmt. Nur noch liquide waren die Menschen, innerlich in Geist und Seele aufgelust, nur noch von amorpher Flussigkeit, und einzig ihr Herz spurten sie als haltlosen Klumpen in ihrem Innern schwanken und legten es, eine jede, ein jeder, in die Hand des kleinen Mannes im blauen Rock, auf Gedeih und Verderb: Sie liebten ihn.
          Grenouille stand nun wohl schon mehrere Minuten lang am geuffneten Schlag der Kutsche und ruhrte sich nicht. Der Lakai neben ihm war in die Knie gesunken und sank noch immer weiter bis hin zu jener vullig prostrativen Haltung, wie sie im Orient vor dem Sultan und vor Allah ublich ist. Und selbst in dieser Haltung zitterte und schwankte er noch und wollte weitersinken, sich flach auf die Erde legen, in sie hinein, unter sie. Bis ans andre Ende der Welt wollte er sinken vor lauter Ergebenheit. Der Offizier der Wache und der Polizeilieutenant, beides trutzige Munner, deren Aufgabe es gewesen wure, den Verurteilten jetzt aufs Blutgerust zu fuhren und seinem Henker auszuliefern, konnten keine koordinierten Handlungen mehr zustande bringen. Sie weinten und nahmen ihre Hute ab, setzten sie wieder auf, warfen sie zu Boden, fielen sich gegenseitig in die Arme, lusten sich, fuchtelten unsinnig mit den Armen in der Luft herum, rangen die Hunde, zuckten und grimassierten wie vom Veitstanz Befallene.
          Die weiter entfernt befindlichen Honoratioren gaben sich ihrer Ergriffenheit auf kaum diskretere Weise hin. Ein jeder ließ dem Drang seines Herzens freien Lauf. Da waren Damen, die sich beim Anblick Grenouilles die Fuuste in den Schoß stemmten und seufzten vor Wonne; und andere, die vor sehnsuchtigem Verlangen nach dem herrlichen Jungling - denn so erschien er ihnen - sang- und klanglos in Ohnmacht versanken. Da waren Herren, die in einem fort von ihren Sitzen aufspritzten und sich wieder niederließen und wieder aufsprangen, muchtig schnaufend und die Fuuste um die Degengriffe ballend, als wollten sie ziehen, und, indem sie schon zogen, den Stahl wieder zuruckstießen, dass es in den Scheiden nur so klapperte und knackte; und andere, die die Augen stumm zum Himmel richteten und ihre Hunde zum Gebet verkrampften; und Monseigneur, der Bischof, der, als sei ihm ubel, mit dem Oberkurper vornuberklappte und die Stirn auf seine Knie schlug, bis ihm das grune Hutchen vom Kopfe kollerte; und dabei war ihm gar nicht ubel, sondern er schwelgte nur zum ersten Mal in seinem Leben in religiusem Entzucken, denn ein Wunder war geschehen vor aller Augen, der Herrgott huchstpersunlich war dem Henker in den Arm gefallen, indem er den als Engel offenbarte, der vor der Welt ein Murder schien - o dass dergleichen noch geschah im 18. Jahrhundert. Wie groß war der Herr! Und wie klein und windig war man selbst, der man einen Bannfluch gesprochen hatte, ohne daran zu glauben, bloß zur Beruhigung des Volkes! O welche Anmaßung, o welche Kleingluubigkeit! Und nun tat der Herr ein Wunder! O welch herrliche Demutigung, welch suße Erniedrigung, welche Gnade, als Bischof von Gott so gezuchtigt zu werden.
          Das Volk jenseits der Barrikade gab sich unterdessen immer schamloser dem unheimlichen Gefuhlsrausch hin, den Grenouilles Erscheinen ausgelust hatte. Wer zu Beginn bei seinem Anblick nur Mitgefuhl und Ruhrung verspurt hatte, der war nun von nackter Begehrlichkeit erfullt, wer zunuchst bewundert und begehrt hatte, den trieb es zur Ekstase. Alle hielten den Mann im blauen Rock fur das schunste, attraktivste und vollkommenste Wesen, das sie sich denken konnten: Den Nonnen erschien er als der Heiland in Person, den Satansgluubigen als strahlender Herr der Finsternis, den Aufgeklurten als das Huchste Wesen, den jungen Mudchen als ein Murchenprinz, den Munnern als ein ideales Abbild ihrer selbst. Und alle fuhlten sie sich von ihm an ihrer empfindlichsten Stelle erkannt und gepackt, er hatte sie im erotischen Zentrum getroffen. Es war, als besitze der Mann zehntausend unsichtbare Hunde und als habe er jedem der zehntausend Menschen, die ihn umgaben, die Hand aufs Geschlecht gelegt und liebkose es auf just jene Weise, die jeder einzelne, ob Mann oder Frau, in seinen geheimsten Phantasien am sturksten begehrte.
          Die Folge war, dass die geplante Hinrichtung eines der verabscheuungswurdigsten Verbrechers seiner Zeit zum grußten Bacchanal ausartete, das die Welt seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert gesehen hatte: Sittsame Frauen rissen sich die Blusen auf, entblußten unter hysterischen Schreien ihre Bruste, warfen sich mit hochgezogenen Rucken auf die Erde. Munner stolperten mit irren Blicken durch das Feld von geilem aufgespreiztem Fleisch, zerrten mit zitternden Fingern ihre wie von unsichtbaren Frusten steifgefrorenen Glieder aus der Hose, fielen uchzend irgendwohin, kopulierten in unmuglichster Stellung und Paarung, Greis mit Jungfrau, Tagluhner mit Advokatengattin, Lehrbub mit Nonne, Jesuit mit Freimaurerin, alles durcheinander, wie's gerade kam. Die Luft war schwer vom sußen Schweißgeruch der Lust und laut vom Geschrei, Gegrunze und Gestuhn der zehntausend Menschentiere. Es war infernalisch.
          Grenouille stand und luchelte. Vielmehr erschien es den Menschen, die ihn sahen, als luchle er mit dem unschuldigsten, liebevollsten, bezauberndsten und zugleich verfuhrerischsten Lucheln der Welt. Aber es war in Wirklichkeit kein Lucheln, sondern ein hußliches, zynisches Grinsen, das auf seinen Lippen lag und das seinen ganzen Triumph und seine ganze Verachtung widerspiegelte. Er, Jean-Baptiste Grenouille, geboren ohne Geruch am stinkendsten Ort der Welt, stammend aus Abfall, Kot und Verwesung, aufgewachsen ohne Liebe, lebend ohne warme menschliche Seele einzig aus Widerborstigkeit und der Kraft des Ekels, klein, gebuckelt, hinkend, hußlich, gemieden, ein Scheusal innen wie außen - er hatte es erreicht, sich vor der Welt beliebt zu machen. Was heißt beliebt! Geliebt! Verehrt! Verguttert! Er hatte die prometheische Tat vollbracht. Den guttlichen Funken, den andre Menschen mir nichts, dir nichts in die Wiege gelegt bekommen und der ihm als einzigem vorenthalten worden war, hatte er sich durch unendliches Raffinement ertrotzt. Mehr noch! Er hatte ihn sich recht eigentlich selbst in seinem Innern geschlagen. Er war noch grußer als Prometheus. Er hatte sich eine Aura erschaffen, strahlender und wirkungsvoller, als sie je ein Mensch vor ihm besaß. Und er verdankte sie niemandem - keinem Vater, keiner Mutter und am allerwenigsten einem gnudigen Gott - als einzig sich selbst. Er war in der Tat sein eigener Gott, und ein herrlicherer Gott als jener weihrauchstinkende Gott, der in den Kirchen hauste. Vor ihm lag ein leibhaftiger Bischof auf den Knien und winselte vor Vergnugen. Die Reichen und Muchtigen, die stolzen Herren und Damen erstarben in Bewunderung, indes das Volk im weiten Rund, darunter Vuter, Mutter, Bruder, Schwestern seiner Opfer, ihm zu Ehren und in seinem Namen Orgien feierten. Ein Wink von ihm, und alle wurden ihrem Gott abschwuren und ihn, den Großen Grenouille anbeten.
          Ja, er war der Große Grenouille! Jetzt trat's zutage. Er war's, wie einst in seinen selbstverliebten Phantasien, so jetzt in Wirklichkeit. Er erlebte in diesem Augenblick den grußten Triumph seines Lebens.
          Und er wurde ihm furchterlich. Er wurde ihm furchterlich, denn er konnte keine Sekunde davon genießen. In dem Moment, da er aus der Kutsche auf den sonnenhellen Platz getreten war, angetan mit dem Parfum, das vor den Menschen beliebt macht, mit dem Parfum, an dem er zwei Jahre lang gearbeitet hatte, dem Parfum, das zu besitzen er sein Leben lang gedurstet hatte... in diesem Moment, da er sah und roch, wie unwiderstehlich es wirkte und wie mit Windeseile sich verbreitend es die Menschen um ihn her gefangennahm, - in diesem Moment stieg der ganze Ekel vor den Menschen wieder in ihm auf und vergullte ihm seinen Triumph so grundlich, dass er nicht nur keine Freude, sondern nicht einmal das geringste Gefuhl von Genugtuung verspurte. Was er sich immer ersehnt hatte, dass numlich die undern Menschen ihn liebten, wurde ihm im Augenblick seines Erfolges unertruglich, denn er selbst liebte sie nicht, er hasste sie. Und plutzlich wusste er, dass er nie in der Liebe, sondern immer nur im Hass Befriedigung funde, im Hassen und Gehasstwerden.
          Aber der Hass, den er fur die Menschen empfand, blieb von den Menschen ohne Echo. Je mehr er sie in diesem Augenblick hasste, desto mehr vergutterten sie ihn, denn sie nahmen von ihm nichts wahr als seine angemaßte Aura, seine Duftmaske, sein geraubtes Parfum, und dies in der Tat war zum Verguttern gut.
          Er hutte sie jetzt am liebsten alle vom Erdboden vertilgt, die stupiden, stinkenden, erotisierten Menschen, genauso wie er damals im Land seiner rabenschwarzen Seele die fremden Geruche vertilgt hatte. Und er wunschte sich, dass sie merkten, wie sehr er sie hasste, und dass sie ihn darum, um dieses seines einzigen jemals wahrhaft empfundenen Gefuhls willen widerhassten und ihn ihrerseits vertilgten, wie sie es ja ursprunglich vorgehabt hatten. Er wollte sich ein Mal im Leben entuußern. Er wollte ein Mal im Leben sein wie andere Menschen auch und sich seines Innern entuußern: wie sie ihrer Liebe und ihrer dummen Verehrung, so er seines Hasses. Er wollte ein Mal, nur ein einziges Mal, in seiner wahren Existenz zur Kenntnis genommen werden und von einem anderen Menschen eine Antwort erhalten auf sein einziges wahres Gefuhl, den Hass.
          Aber daraus wurde nichts. Daraus konnte nichts werden. Und heute schon gar nicht. Denn er war ja maskiert mit dem besten Parfum der Welt, und er trug unter dieser Maske kein Gesicht, sondern nichts als seine totale Geruchlosigkeit. Da wurde ihm plutzlich ubel, denn er fuhlte, dass die Nebel wieder stiegen.
          Wie damals in der Huhle im Traum im Schlaf im Herzen in seiner Phantasie stiegen mit einem Mal die Nebel, die entsetzlichen Nebel seines eigenen Geruchs, den er nicht riechen konnte, weil er geruchlos war. Und wie damals wurde ihm unendlich bang und angst, und er glaubte, ersticken zu mussen. Anders als damals aber war dies kein Traum und kein Schlaf, sondern die blanke Wirklichkeit. Und anders als damals lag er nicht allein in einer Huhle, sondern stand auf einem Platz im Angesicht von zehntausend Menschen. Und anders als damals half hier kein Schrei, der ihn erwachen ließe und befreite, und half keine Flucht zuruck in die gute, warme, rettende Welt. Denn dies, hier und jetzt, war die Welt, und dies, hier und jetzt, war sein verwirklichter Traum. Und er selbst hatte es so gewollt.
          Die furchterlichen stickigen Nebel stiegen weiter aus dem Morast seiner Seele, indes um ihn das Volk in orgiastischen und orgastischen Verzuckungen uchzte. Ein Mann kam auf ihn zugelaufen. Von der vordersten Reihe der Honoratiorentribune war er aufgesprungen, so heftig, dass ihm sein schwarzer Hut vom Kopf gefallen war, und flatterte nun mit wehendem schwarzem Rock uber den Richtplatz wie ein Rabe oder wie ein ruchender Engel. Es ar Richis.
          Er wird mich tuten, dachte Grenouille. Er ist der einzige, der sich nicht von meiner Maske tuuschen lusst. Er kann sich nicht tuuschen lassen. Der Duft seiner Tochter klebt an mir, so verruterisch deutlich wie Blut. Er muss mich erkennen und tuten. Er muss es tun.
          Und er breitete seine Arme aus, um den heransturzenden Engel zu empfangen. Schon glaubte er, den Dolch- oder Degenstoß als herrlich prickelnden Schlag gegen die Brust zu spuren und die Klinge, die durch alle Duftpanzer und stickigen Nebel hindurchging, mitten in sein kaltes Herz hinein - endlich, endlich etwas in seinem Herzen, etwas anderes als er selbst! Er fuhlte sich fast schon erlust.
          Doch dann lag mit einem Mal Richis an seiner Brust, kein ruchender Engel, sondern ein erschutterter, kluglich schluchzender Richis, und umfing ihn mit den Armen, krallte sich regelrecht fest an ihm, als funde er sonst keinen Halt in einem Meer von Gluckseligkeit. Kein befreiender Dolchstoß, kein Stich ins Herz, nicht einmal in Fluch oder nur ein Schrei des Hasses. Statt dessen Richis' trunennasse Wange an der seinen klebend und ein zitternder Mund, der ihm zuwinselte: "Vergib mir, mein Sohn, mein lieber Sohn, vergib mir!"
          Da wurde es ihm von innen her weiß vor Augen, und die uußere Welt wurde rabenschwarz. Die gefangenen Nebel gerannen zu einer tobenden Flussigkeit wie kochende, schuumende Milch. Sie uberfluteten ihn, pressten mit unertruglichem Druck gegen die innere Schalenwand seines Kurpers, ohne Auslass zu finden. Er wollte fliehen, um Himmels willen fliehen, aber wohin... Er wollte zerplatzen, explodieren wollte er, um nicht an sich selbst zu ersticken. Endlich sank er nieder und verlor das Bewusstsein.

    50


          Als er wieder zu sich kam, lag er im Bett der Laure Richis. Ihre Reliquien, Kleider und ihr Haar, waren weggeruumt worden. Eine Kerze brannte auf dem Nachttisch. Durch das angelehnte Fenster hurte er von Ferne den Jubel der feiernden Stadt. Antoine Richis saß auf einem Schemel neben dem Bett und wachte. Er hatte Grenouilles Hand in die seine gelegt und streichelte sie.
          Noch bevor er die Augen aufschlug, prufte Grenouille die Atmosphure. Im Innern war sie still. Nichts brodelte und presste mehr. Es herrschte wieder die gewohnte kalte Nacht in seiner Seele, die er brauchte, um sein Bewusstsein frostig und klar zu machen und nach außen zu lenken: Dort roch er sein Parfum. Es hatte sich verundert. Die Spitzen waren etwas schwucher geworden, so dass nun die Herznote von Laures Geruch noch herrlicher hervortrat, ein mildes, dunkles, funkelndes Feuer. Er fuhlte sich sicher. Er wusste, dass er noch fur Stunden unangreifbar war, und uffnete die Augen.
          Richis' Blick ruhte auf ihm. Unendliches Wohlwollen lag in diesem Blick, Zurtlichkeit, Ruhrung und die hohle, dummliche Tiefe des Liebenden.
          Er luchelte und druckte Grenouilles Hand fester und sagte: "Es wird jetzt alles gut werden. Der Magistrat hat dein Urteil kassiert. Alle Zeugen haben abgeschworen. Du bist frei. Du kannst tun, was du willst. Aber ich will, dass du bei mir bleibst. Ich habe eine Tochter verloren, ich will dich als meinen Sohn gewinnen. Du bist ihr uhnlich. Du bist schun wie sie, deine Haare, dein Mund, deine Hand... Ich habe die ganze Zeit deine Hand gehalten, deine Hand ist wie die ihre. Und wenn ich in deine Augen sehe, so ist mir, als schaue sie mich an. Du bist ihr Bruder, und ich will, dass du mein Sohn wirst, meine Freude, mein Stolz, mein Erbe. Leben deine Eltern noch?"
          Grenouille schuttelte den Kopf, und Richis' Gesicht wurde puterrot vor Gluck. "Dann wirst du mein Sohn werden?" stammelte er und fuhr von seinem Schemel hoch, um sich auf den Rand des Bettes zu setzen und auch Grenouilles zweite Hand zu pressen. "Wirst du? Wirst du? Willst du mich zu deinem Vater haben? Sage nichts! Sprich nicht! Du bist noch zu schwach, um zu sprechen. Nicke nur!"
          Grenouille nickte. Da brach Richis das Gluck wie roter Schweiß aus allen Poren, und er beugte sich zu Grenouille herab und kusste ihn auf den Mund.
          "Schlaf jetzt, mein lieber Sohn!" sagte er, als er sich wieder aufgerichtet hatte. "Ich werde bei dir wachen, solange bis du eingeschlafen bist." Und nachdem er ihn eine lange Zeit in stummer Seligkeit betrachtet hatte: "Du machst mich sehr, sehr glucklich."
          Grenouille zog die Mundwinkel leicht auseinander, wie er es den Menschen abgeschaut hatte, die lucheln. Dann schloss er die Augen. Er wartete eine Weile, ehe er seinen Atem ruhiger und tiefer gehen ließ, wie es die Schlufer tun. Er spurte Richis' liebenden Blick auf seinem Gesicht. Einmal spurte er, wie Richis sich abermals vorbeugte, um ihn zu kussen, es dann aber unterließ, aus Scheu, ihn zu wecken. Endlich wurde die Kerze ausgeblasen, und Richis schlich sich auf Zehenspitzen aus der Kammer.
          Grenouille blieb liegen, bis er in Haus und Stadt kein Geruusch mehr hurte. Als er dann aufstand, dummerte es schon. Er kleidete sich an und machte sich davon, leise uber den Flur, leise die Stiege hinab und durch den Salon hinaus auf die Terrasse. Von hier aus konnte man uber die Stadtmauersehen, uber die Schussel des Grasser Landes, bei klarem Wetter wohl auch bis zum Meer. Jetzt hing ein dunner Nebel, ein Dunst eher, uber den Feldern, und die Dufte, die von dorther kamen, Gras, Ginster und Rose, waren wie gewaschen, rein, simpel, trustlich einfach. Grenouille durchquerte den Garten und stieg uber die Mauer.
          Oben am Cours musste er sich noch einmal durch Menschendunste kumpfen, ehe er das freie Land gewann. Der ganze Platz und die Hunge glichen einem riesigen verlotterten Heerlager. Zu Tausenden lagen die betrunkenen, von den Ausschweifungen des nuchtlichen Festes erschupften Gestalten herum, manche nackt, manche halb entblußt und halb bedeckt von Kleidern, unter die sie sich wie unter ein Stuck Decke verkrochen hatten. Es stank nach saurem Wein, nach Schnaps, nach Schweiß und Pisse, nach Kinderscheiße und nach verkohltem Fleisch. Da und dort qualmten noch die Feuerstellen, an denen sie gebraten, gesoffen und getanzt hatten. Hie und da gluckste noch aus dem tausendfachen Geschnarche ein Lallen oder ein Geluchter auf. Es mag auch sein, dass manch einer noch wachte und sich die letzten Fetzen von Bewusstsein aus dem Gehirn zechte. Aber niemand sah Grenouille, der uber die verstreuten Leiber stieg, vorsichtig und rasch zugleich, wie durch Morast. Und wer ihn sah, der erkannte ihn nicht. Er duftete nicht mehr. Das Wunder war vorbei.
          Am Ende des Cours angelangt, nahm er nicht die Straße nach Grenoble, nicht die nach Cabris, sondern er ging querfeldein in westliche Richtung davon, ohne sich noch ein einziges Mal umzuschauen. Als die Sonne aufstieg, fett und gelb und stechendheiß, war er lungst verschwunden.
          Die Grasser erwachten mit einem entsetzlichen Kater. Selbst denen, die nicht getrunken hatten, war bleischwer im Kopf und speiubel in Magen und Gemut. Auf dem Cours, in hellstem Sonnenlicht, suchten biedere Bauern nach den Kleidern, die sie im Exzess der Orgie von sich geschleudert hatten, suchten sittsame Frauen nach ihren Munnern und Kindern, schulten sich wildfremde Menschen entsetzt aus intimster Umarmung, standen sich Bekannte, Nachbarn, Gatten plutzlich in peinlichster uffentlicher Nacktheit gegenuber.
          Vielen erschien dieses Erlebnis so grauenvoll, so vollstundig unerklurlich und unvereinbar mit ihren eigentlichen moralischen Vorstellungen, dass sie es buchstublich im Augenblick seines Stattfindens aus ihrem Geduchtnis luschten und sich infolgedessen auch sputer wahrhaftig nicht mehr daran zuruckerinnern konnten. Andere, die ihren Wahrnehmungsapparat nicht so souverun beherrschten, versuchten, wegzuschauen und wegzuhuren und wegzudenken was nicht ganz einfach war, denn die Schande war zu offensichtlich und zu allgemein. Wer seine Habseligkeiten und seine Angehurigen gefunden hatte, machte sich so rasch und so unauffullig wie muglich davon. Gegen Mittag war der Platz wie leergefegt.
          Die Leute in der Stadt kamen, wenn uberhaupt, erst gegen Abend aus den Huusern, um die dringendsten Besorgungen zu erledigen. Man grußte sich nur fluchtig beim Begegnen, sprach nur uber das Belangloseste. uber die Ereignisse des Vortags und der vergangenen Nacht fiel kein Wort. So hemmungslos und frisch heraus man sich gestern noch gegeben hatte, so schamhaft war man jetzt. Und alle waren so, denn alle waren schuldig. Nie schien das Einvernehmen unter den Grasser Burgern besser als in jener Zeit. Man lebte wie in Watte.
          Manche freilich mussten sich allein kraft ihres Amtes direkter mit dem befassen, was geschehen war. Die Kontinuitut des uffentlichen Lebens, die Unverbruchlichkeit von Recht und Ordnung erforderten rasche Maßnahmen. Schon am Nachmittag tagte der Stadtrat. Die Herren, darunter auch der Zweite Konsul, umarmten sich stumm, als gelte es, das Gremium durch diese verschwurerische Geste neu zu konstituieren. Dann beschloss man una anima und ohne dass der Vorkommnisse oder gar des Namens Grenouille auch nur Erwuhnung getan worden wure, "die Tribune und das Schafott auf dem Cours unverzuglich abreißen zu lassen und den Platz und die umliegenden zertrampelten Felder wieder in ihren vormaligen ordentlichen Zustand versetzen zu lassen". Hierfur wurden hundertsechzig Livre bewilligt.
          Gleichzeitig tagte das Gericht in der Pruvotu. Der Magistrat kam ohne Aussprache uberein, den "Fall G." als erledigt zu betrachten, die Akten zu schließen und ohne Registratur zu archivieren und ein neues Verfahren gegen einen bislang unbekannten Murder von funfundzwanzig Jungfrauen im Grasser Raum zu eruffnen. An den Polizeilieutenant erging der Befehl, die Untersuchungen unverzuglich aufzunehmen.
          Schon am nuchsten Tag wurde er fundig. Aufgrund eindeutiger Verdachtsmomente verhaftete man Dominique Druot, Maitre Parfumeur in der Rue de la Louve, in dessen Kabane ja schließlich die Kleider und Haare sumtlicher Opfer gefunden worden waren. Von seinem anfunglichen Leugnen ließen sich die Richter nicht tuuschen. Nach vierzehnstundiger Folter gestand er alles und bat sogar um eine muglichst baldige Hinrichtung, die ihm schon fur den folgenden Tag gewuhrt wurde. Man knupfte ihn im Morgengrauen auf, ohne großes Tamtam, ohne Schafott und Tribunen, im Beisein lediglich des Henkers, einiger Mitglieder des Magistrats, eines Arztes und eines Priesters. Die Leiche ließ man, nachdem der Tod eingetreten, festgestellt und protokollarisch niedergelegt war, unverzuglich beisetzen. Damit war der Fall erledigt.
          Die Stadt hatte ihn ohnehin schon vergessen, und zwar so vollstundig, dass Reisende, die in den folgenden Tagen eintrafen und sich beiluufig nach dem beruchtigten Grasser Mudchenmurder erkundigten, nicht einen einzigen vernunftigen Menschen fanden, der ihnen Auskunft hutte erteilen kunnen. Nur ein paar Narren aus der Charitu, notorische Geisteskranke, plapperten noch irgend etwas daher von einem großen Fest auf der Place du Cours, dessentwegen sie hutten ihre Zimmer ruumen mussen.
          Und bald hatte sich das Leben gunzlich normalisiert. Die Leute arbeiteten fleißig und schliefen gut und gingen ihren Geschuften nach und hielten sich rechtschaffen. Das Wasser sprudelte wie eh und je aus den vielen Quellen und Brunnen und schwemmte den Schlamm durch die Gassen. Die Stadt stand wieder schubig und stolz an den Hungen uber dem fruchtbaren Becken. Die Sonne schien warm. Bald war es Mai. Man erntete Rosen.

    VIERTER TEIL


    51


          Grenouille ging nachts. Wie zu Beginn seiner Reise wich er den Studten aus, mied die Straßen, legte sich bei Tagesanbruch schlafen, stand abends auf und ging weiter. Er fraß, was er am Wege fand: Gruser, Pilze, Bluten, tote Vugel, Wurmer. Er durchzog die Provence, uberquerte in einem gestohlenen Kahn die Rhone sudlich von Orange, folgte dem Lauf der Arduche bis tief in die Cevennen hinein und dann dem Allier nach Norden.
          In der Auvergne kam er dem Plomb du Cantal nahe. Er sah ihn westlich liegen, groß und silbergrau im Mondlicht, und er roch den kuhlen Wind, der von ihm kam. Aber es verlangte ihn nicht hinzugehen. Er hatte keine Sehnsucht mehr nach dem Huhlenleben. Diese Erfahrung war ja schon gemacht und hatte sich als unlebbar erwiesen. Ebenso wie die andere Erfahrung, die des Lebens unter den Menschen. Man erstickte da und dort. Er wollte uberhaupt nicht mehr leben. Er wollte nach Paris gehen und sterben. Das wollte er.
          Von Zeit zu Zeit griff er in seine Tasche und schloss die Hand um den kleinen glusernen Flakon mit seinem Parfum. Das Fluschchen war noch fast voll. Fur den Auftritt in Grasse hatte er bloß einen Tropfen verbraucht. Der Rest wurde genugen, um die ganze Welt zu bezaubern. Wenn er wollte, kunnte er sich in Paris nicht nur von Zehn-, sondern von Hunderttausenden umjubeln lassen; oder nach Versailles spazieren, um sich vom Kunig die Fuße kussen zu lassen; dem Papst einen parfumierten Brief schreiben und sich als der neue Messias offenbaren; in Notre-Dame vor Kunigen und Kaisern sich selbst zum Oberkaiser salben, ja sogar zum Gott auf Erden - falls man sich als Gott uberhaupt noch salbte...
          All das kunnte er tun, wenn er nur wollte. Er besaß die Macht dazu. Er hielt sie in der Hand. Eine Macht, die sturker war als die Macht des Geldes oder die Macht des Terrors oder die Macht des Todes: die unuberwindliche Macht, den Menschen Liebe einzuflußen. Nur eines konnte diese Macht nicht: sie konnte ihn nicht vor sich selber riechen machen. Und mochte er auch vor der Welt durch sein Parfum erscheinen als ein Gott - wenn er sich selbst nicht riechen konnte und deshalb niemals wusste, wer er sei, so pfiff er drauf, auf die Welt, auf sich selbst, auf sein Parfum.
          Die Hand, die den Flakon umschlossen hatte, duftete ganz zart, und wenn er sie an seine Nase fuhrte und schnupperte, dann wurde ihm wehmutig, und fur ein paar Sekunden vergaß er zu laufen und blieb stehen und roch. Niemand weiß, wie gut dies Parfum wirklich ist, dachte er. Niemand weiß, wie gut es gemacht ist. Die andern sind nur seiner Wirkung untertan, ja, sie wissen nicht einmal, dass es ein Parfum ist, das auf sie wirkt und sie bezaubert. Der einzige, der es jemals in seiner wirklichen Schunheit erkannt hat, bin ich, weil ich es selbst geschaffen habe. Und zugleich bin ich der einzige, den es nicht bezaubern kann. Ich bin der einzige, fur den es sinnlos ist.
          Und ein andermal, da war er schon in Burgund: Als ich an der Mauer stand, unterhalb des Gartens, in dem das rothaarige Mudchen spielte, und ihr Duft zu mir heruberwehte... oder vielmehr das Versprechen ihres Dufts, denn ihr sputerer Duft existierte ja noch gar nicht - vielleicht war das, was ich damals empfand, demjenigen uhnlich, was die Menschen auf dem Cours empfanden, als ich sie mit meinem Parfum uberschwemmte...? Aber dann verwarf er den Gedanken: Nein, es war etwas anderes. Denn ich wusste ja, dass ich den Duft begehrte, nicht das Mudchen. Die Menschen aber glaubten, sie begehrten mich, und was sie wirklich begehrten, blieb ihnen ein Geheimnis.
          Dann dachte er nichts mehr, denn das Denken war nicht seine Sturke, und er war auch schon im Orleanais.
          Er uberquerte die Loire bei Sully. Einen Tag sputer hatte er den Duft von Paris in der Nase. Am 25. Juni 1767 betrat er die Stadt durch die Rue Saint-Jacques fruhmorgens um sechs.
          Es wurde ein heißer Tag, der heißeste bisher in diesem Jahr. Die tausendfultigen Geruche und Gestunke quollen wie aus tausend aufgeplatzten Eiterbeulen. Kein Wind regte sich. Das Gemuse an den Marktstunden erschlaffte, eh es Mittag war. Fleisch und Fische verwesten. In den Gassen stand die verpestete Luft. Selbst der Fluss schien nicht mehr zu fließen, sondern nur noch zu stehen und zu stinken. Es war wie am Tag von Grenouilles Geburt.
          Er ging uber den Pont Neuf ans rechte Ufer, und weiter zu den Hallen und zum Cimetiere des Innocents. In den Arkaden der Gebeinhuuser lungs der Rue aux Fers ließ er sich nieder. Das Gelunde des Friedhofs lag wie ein zerbombtes Schlachtfeld vor ihm, zerwuhlt, zerfurcht, von Gruben durchzogen, von Schudeln und Gebeinen ubersut, ohne Baum, Strauch oder Grashalm, eine Schutthalde des Todes.
          Kein lebender Mensch ließ sich blicken. Der Leichengestank war so schwer, dass selbst die Totengruber sich verzogen hatten. Sie kamen erst nach Sonnenuntergang wieder, um bei Fackellicht bis in die Nacht hinein Gruben fur die Toten des nuchsten Tages auszuheben.
          Nach Mitternacht erst - die Totengruber waren schon gegangen - belebte sich der Ort mit allem muglichen Gesindel, Dieben, Murdern, Messerstechern, Huren, Deserteuren, jugendlichen Desperados. Ein kleines Lagerfeuer wurde angezundet, zum Kochen und damit sich der Gestank verzehre.
          Als Grenouille aus den Arkaden kam und sich unter diese Menschen mischte, nahmen sie ihn zunuchst gar nicht wahr. Er konnte unbehelligt an ihr Feuer treten, als sei er einer von ihnen. Das besturkte sie sputer in der Meinung, es musse sich bei ihm um einen Geist oder einen Engel oder sonst etwas ubernaturliches gehandelt haben. Denn ublicherweise reagierten sie huchst empfindlich auf die Nuhe eines Fremden.
          Der kleine Mann in seinem blauen Rock aber sei plutzlich einfach dagewesen, wie aus dem Boden herausgewachsen, mit einem kleinen Fluschchen in der Hand, das er entstupselte. Dies war das erste, woran sich alle erinnern konnten: dass da einer stand und ein Fluschchen entstupselte. Und dann habe er sich mit dem Inhalt dieses Fluschchens uber und uber besprenkelt und sei mit einem Mal von Schunheit ubergussen gewesen wie von strahlendem Feuer.
          Fur einen Moment wichen sie zuruck aus Ehrfurcht und bassem Erstaunen. Aber im selben Moment spurten sie schon, dass das Zuruckweichen mehr wie ein Anlaufnehmen war, dass ihre Ehrfurcht in Begehren umschlug, ihr Erstaunen in Begeisterung. Sie fuhlten sich zu diesem Engelsmenschen hingezogen. Ein rabiater Sog ging von ihm aus, eine reißende Ebbe, gegen die kein Mensch sich stemmen konnte, um so weniger, als sich kein Mensch gegen sie hutte stemmen wollen, denn es war der Wille selbst, den diese Ebbe unterspulte und in ihre Richtung trieb: hin zu ihm.
          Sie hatten einen Kreis um ihn gebildet, zwanzig, dreißig Personen und zogen diesen Kreis nun enger und enger. Bald fasste der Kreis sie nicht mehr alle, sie begannen zu drucken, zu schieben und zu drungeln, jeder wollte dem Zentrum am nuchsten sein.
          Und dann brach mit einem Schlag die letzte Hemmung in ihnen, der Kreis in sich zusammen. Sie sturzten sich auf den Engel, fielen uber ihn her, rissen ihn zu Boden. Jeder wollte ihn beruhren, jeder wollte einen Teil von ihm haben, ein Federchen, ein Flugelchen, einen Funken seines wunderbaren Feuers. Sie rissen ihm die Kleider, die Haare, die Haut vom Leibe, sie zerrupften ihn, sie schlugen ihre Krallen und Zuhne in sein Fleisch, wie die Hyunen fielen sie uber ihn her.
          Aber so ein Menschenkurper ist ja zuh und lusst sich nicht so einfach auseinanderreißen, selbst Pferde haben da die grußte Muhe. Und so blitzten bald die Dolche auf und stießen zu und schlitzten auf, und uxte und Schlagmesser sausten auf die Gelenke herab, zerhieben krachend die Knochen. In kurzester Zeit war der Engel in dreißig Teile zerlegt, und ein jedes Mitglied der Rotte grapschte sich ein Stuck, zog sich, von wollustiger Gier getrieben, zuruck und fraß es auf. Eine halbe Stunde sputer war Jean-Baptiste Grenouille in jeder Faser vom Erdboden verschwunden.
          Als sich die Kannibalen nach gehabter Mahlzeit wieder m Feuer zusammenfanden, sprach keiner ein Wort. Der eine oder andere stieß ein wenig auf, spie ein Knuchelchen aus, schnalzte leise mit der Zunge, stupste mit dem Fuß einen ubriggebliebenen Fetzen des blauen Rocks in die Flammen: Sie waren alle ein bisschen verlegen und trauten sich nicht, einander anzusehen. Einen Mord oder ein anderes niedertruchtiges Verbrechen hatte jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, schon einmal begangen. Aber einen Menschen aufgefressen? Zu so etwas Entsetzlichem, dachten sie, seien sie nie und nimmer imstande. Und sie wunderten sich, wie leicht es ihnen doch gefallen war und dass sie, bei aller Verlegenheit, nicht den geringsten Anflug von schlechtem Gewissen verspurten. Im Gegenteil! Es war ihnen, wenngleich im Magen etwas schwer, im Herzen durchaus leicht zumute. In ihren finsteren Seelen schwankte es mit einem Mal so angenehm heiter. Und auf ihren Gesichtern lag ein mudchenhafter, zarter Glanz von Gluck. Daher vielleicht die Scheu, den Blick zu heben und sich gegenseitig in die Augen zu sehen.
          Als sie es dann wagten, verstohlen erst und dann ganz offen, da mussten sie lucheln. Sie waren außerordentlich stolz. Sie hatten zum ersten Mal etwas aus Liebe getan.

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