Gustav Meyrink. Der Golem

 
  • Gustav Meyrink. Der Golem
  • Tag
  • I
  • Prag
  • Punsch
  • Nacht
  • "SALON LOISITSCHEK".
  • Wach
  • Schnee
  • Spuk
  • Licht
  • Not
  • Angst
  • Trieb
  • Weib
  • List
  • Qual
  • KARL FREIHERR VON LEISETRETER
  • Untersuchungsrichter
  • Mai
  • Mond
  • Frei
  • Schluñ
  • ATHANASIUS PERNATH
  • ATHANASIUS PERNATH
  • MIRJAM,



  •       çÕÓÔÁ× íÁÊÒÉÎË. çÏÌÅÍ. îÁ ÎÅÍÅÃËÏÍ ÑÚÙËÅ).
          äÁÔÁ ÓÏÚÄÁÎÉÅ ÐÒÏÉÚ×ÅÄÅÎÉÑ: 1915 Ç.
          ðÅÞÁÔÎÙÊ ÉÓÔÏÞÎÉË: Gustav Meyrink. Der Golem, Leipzig, 1916
          OCR, Spellcheck: Serge Winitzki



          Leipzig
          Kurt Wolff Verlag
          1916
          Vierter Abdruck. Dezember 1915
          Copyright 1915 by Kurt Wolff Verlag Leipzig
          Kapitelverzeichnis
          Schlaf
          Tag
          I
          Prag
          Punsch
          Nacht
          Wach
          Schnee
          Spuk
          Licht
          Not
          Angst
          Trieb
          Weib
          List
          Qual
          Mai
          Mond
          Frei
          Schluñ
          Schlaf
          Das Mondlicht fÄllt auf das Fuñende meines Bettes und liegt dort wie ein groñer, heller, flacher Stein.
          Wenn der Vollmond in seiner Gestalt zu schrumpfen beginnt und seine rechte Seite fÄngt an zu verfallen, - wie ein Gesicht, das dem Alter entgegengeht, zuerst an einer Wange Falten zeigt und abmagert, - dann bemÄchtigt sich meiner um solche Zeit des Nachts eine trØbe, qualvolle Unruhe.
          Ich schlafe nicht und wache nicht, und im Halbtraum vermischt sich in meiner Seele Erlebtes mit Gelesenem und GehÃrtem, wie StrÃme von verschiedener Farbe und Klarheit zusammenflieñen.
          Ich hatte Øber das Leben des Buddha Gotama gelesen, ehe ich mich niedergelegt, und in tausend Spielarten zog der Satz immer wieder von vorne beginnend durch meinen Sinn:
          "Eine KrÄhe flog zu einem Stein hin, der wie ein StØck Fett aussah, und dachte: vielleicht ist hier etwas Wohlschmeckendes. Da nun die KrÄhe dort nichts Wohlschmeckendes fand, flog sie fort. Wie die KrÄhe, die sich dem Stein genÄhert, so verlassen wir - wir, die Versucher, - den Asketen Gotama, da wir den Gefallen an ihm verloren haben."
          Und das Bild von dem Stein, der aussah wie ein StØck Fett, wÄchst ins Ungeheuerliche in meinem Hirn:
          Ich schreite durch ein ausgetrocknetes Fluñbett und hebe glatte Kiesel auf.
          Graublaue mit eingesprengtem glitzerndem Staub, Øber die ich nachgrØble und nachgrØble und doch mit ihnen nichts anzufangen weiñ, - dann schwarze mit schwefelgelben Flecken wie die steingewordenen Versuche eines Kindes, plumpe, gesprenkelte Molche nachzubilden.
          Und ich will sie weit von mir werfen, diese Kiesel, doch immer fallen sie mir aus der Hand, und ich kann sie aus dem Bereich meiner Augen nicht bannen.
          Alle jene Steine, die je in meinem Leben eine Rolle gespielt, tauchen auf rings um mich her.
          Manche quÄlen sich schwerfÄllig ab, sich aus dem Sande ans Licht emporzuarbeiten - wie groñe schieferfarbene Taschenkrebse, wenn die Flut zurØckkommt, - und als wollten sie alles daransetzen, meine Blicke auf sich zu lenken, um mir Dinge von unendlicher Wichtigkeit zu sagen.
          Andere - erschÃpft - fallen kraftlos zurØck in ihre LÃcher und geben es auf, je zu Worte zu kommen.
          Zuweilen fahre ich empor aus dem DÄmmer dieser halben TrÄume und sehe fØr einen Augenblick wiederum den Mondschein auf dem gebauschten Fuñende meiner Decke liegen wie einen groñen, hellen, flachen Stein, um blind von neuem hinter meinem schwindenden Bewuñtsein herzutappen, ruhelos nach jenem Stein suchend, der mich quÄlt - der irgendwo verborgen im Schutte meiner Erinnerung liegen muñ und aussieht wie ein StØck Fett.
          Eine RegenrÃhre muñ einst neben ihm auf der Erde gemØndet haben, male ich mir aus - stumpfwinklig abgebogen, die RÄnder von Rost zerfressen, - und trotzig will ich mir im Geiste ein solches Bild erzwingen, um meine aufgescheuchten Gedanken zu belØgen und in Schlaf zu lullen.
          Es gelingt mir nicht.
          Immer wieder und immer wieder mit alberner Beharrlichkeit behauptet eine eigensinnige Stimme in meinem Innern - unermØdlich wie ein Fensterladen, den der Wind in regelmÄñigen ZwischenrÄumen an die Mauer schlagen lÄñt: es sei das ganz anders, das sei gar nicht der Stein, der wie Fett aussehe.
          Und es ist von der Stimme nicht loszukommen.
          Wenn ich hundertmal einwende, alles das sei doch ganz nebensÄchlich, so schweigt sie wohl eine kleine Weile, wacht aber dann unvermerkt wieder auf und beginnt hartnÄckig von neuem: gut, gut, schon recht, es ist aber doch nicht der Stein, der wie ein StØck Fett aussieht. -
          Langsam beginnt sich meiner ein unertrÄgliches GefØhl von Hilflosigkeit zu bemÄchtigen.
          Wie es weiter gekommen ist, weiñ ich nicht. Habe ich freiwillig jeden Widerstand aufgegeben, oder haben sie mich ØberwÄltigt und geknebelt, meine Gedanken?
          Ich weiñ nur, mein KÃrper liegt schlafend im Bett, und meine Sinne sind losgetrennt und nicht mehr an ihn gebunden. -
          Wer ist jetzt "ich", will ich plÃtzlich fragen; da besinne ich mich, dañ ich doch kein Organ mehr besitze, mit dem ich Fragen stellen kÃnnte; dann fØrchte ich, die dumme Stimme werde wieder aufwachen und von neuem das endlose VerhÃr Øber den Stein und das Fett beginnen.
          Und so wende ich mich ab.

    Tag


          Da stand ich plÃtzlich in einem dØsteren Hofe und sah durch einen rÃtlichen Torbogen gegenØber - jenseits der engen, schmutzigen Strañe - einen jØdischen TrÃdler an einem GewÃlbe lehnen, das an den MauerrÄndern mit altem EisengerØmpel, zerbrochenen Werkzeugen, verrosteten SteigbØgeln und Schlittschuhen und vielerlei anderen abgestorbenen Sachen behangen war.
          Und dieses Bild trug das quÄlend EintÃnige an sich, das alle jene EindrØcke kennzeichnet, die tagtÄglich so und so oft wie Hausierer die Schwelle unserer Wahrnehmung Øberschreiten, und rief in mir weder Neugierde noch øberraschung hervor.
          Ich wurde mir bewuñt, dañ ich schon seit langer Zeit in dieser Umgebung zu Hause war.
          Auch diese Empfindung hinterlieñ mir trotz ihres Gegensatzes zu dem, was ich doch vor kurzem noch wahrgenommen und wie ich hierher gelangt, keinerlei tieferen Eindruck. - -
          Ich muñ einmal von einem sonderbaren Vergleich zwischen einem Stein und einem StØck Fett gehÃrt oder gelesen haben, drÄngte sich mir plÃtzlich der Einfall auf, als ich die ausgetretenen Stufen zu meiner Kammer emporstieg und mir Øber das speckige Aussehen der Steinschwellen flØchtige Gedanken machte.
          Da hÃrte ich Schritte die oberen Treppen Øber mir vorauslaufen, und als ich zu meiner TØr kam, sah ich, dañ es die vierzehnjÄhrige, rothaarige Rosina des TrÃdlers Aaron Wassertrum gewesen war.
          Ich muñte dicht an ihr vorbei, und sie stand mit dem RØcken gegen das StiegengelÄnder und bog sich lØstern zurØck.
          Ihre schmutzigen HÄnde hatte sie um die Eisenstange gelegt, - zum Halt - und ich sah, wie ihre nackten Unterarme bleich aus dem trØben Halbdunkel hervorleuchteten.
          Ich wich ihren Blicken aus.
          Mich ekelte vor ihrem zudringlichen LÄcheln und diesem wÄchsernen Schaukelpferdgesicht.
          Sie muñ schwammiges, weiñes Fleisch haben wie der Axolotl, den ich vorhin im SalamanderkÄfig bei dem VogelhÄndler gesehen habe, fØhlte ich.
          Die Wimpern Rothaariger sind mir widerwÄrtig wie die eines Kaninchens.
          Und ich sperrte auf und schlug rasch die TØr hinter mir zu. - -
          Von meinem Fenster aus konnte ich den TrÃdler Aaron Wassertrum vor seinem GewÃlbe stehen sehen.
          Er lehnte am Eingang der dunklen WÃlbung und zwickte mit einer Beiñzange an seinen FingernÄgeln herum.
          War die rothaarige Rosina seine Tochter oder seine Nichte? Er hatte keine ähnlichkeit mit ihr.
          Unter den Judengesichtern, die ich Tag fØr Tag in der Hahnpañgasse auftauchen sehe, kann ich deutlich verschiedene StÄmme unterscheiden, die sich so wenig durch die nahe Verwandtschaft der einzelnen Individuen verwischen lassen, wie sich Ãl und Wasser vermengen wird. Da darf man nicht sagen: die dort sind BrØder oder Vater und Sohn.
          Der gehÃrt zu jenem Stamm und dieser zu einem andern, das ist alles, was sich aus den GesichtszØgen lesen lÄñt.
          Was bewiese es auch, wenn selbst Rosina dem TrÃdler Ähnlich sÄhe!
          Diese StÄmme hegen einen heimlichen Ekel und Abscheu voreinander, der sogar die Schranken der engen Blutsverwandtschaft durchbricht, - aber sie verstehen ihn geheimzuhalten vor der Auñenwelt, wie man ein gefÄhrliches Geheimnis hØtet.
          Kein einziges lÄñt ihn durchblicken, und in dieser øbereinstimmung gleichen sie hañerfØllten Blinden, die sich an ein schmutzgetrÄnktes Seil klammern: der eine mit beiden FÄusten, ein anderer nur widerwillig mit einem Finger, alle aber von aberglÄubischer Furcht besessen, dañ sie dem Untergang verfallen mØssen, sobald sie den gemeinsamen Halt aufgeben und sich von den Øbrigen trennen.
          Rosina ist von jenem Stamme, dessen rothaariger Typus noch abstoñender ist, als der der andern. Dessen MÄnner engbrØstig sind und lange HØhnerhÄlse haben mit vorstehendem Adamsapfel.
          Alles scheint an ihnen sommersprossig, und ihr ganzes Leben leiden sie unter brØnstigen Qualen, diese MÄnner, - und kÄmpfen heimlich gegen ihre GelØste einen ununterbrochenen, erfolglosen Kampf, von immerwÄhrender widerlicher Angst um ihre Gesundheit gefoltert.
          Ich war mir nicht klar, wieso ich Rosina Øberhaupt in verwandtschaftliche Beziehungen mit dem TrÃdler Wassertrum bringen konnte.
          Nie habe ich sie doch in der NÄhe des Alten gesehen oder bemerkt, dañ sie jemals einander etwas zugerufen hÄtten.
          Auch war sie fast immer in unserem Hofe oder drØckte sich in den dunklen Winkeln und GÄngen unseres Hauses umher.
          Sicherlich halten sie alle meine Mitbewohner fØr eine nahe Verwandte oder zumindest Schutzbefohlene des TrÃdlers, und doch bin ich Øberzeugt, dañ kein einziger einen Grund fØr solche Vermutungen anzugeben vermÃchte.
          Ich wollte meine Gedanken von Rosina losreiñen und sah von dem offenen Fenster meiner Stube hinab auf die Hahnpañgasse.
          Als habe Aaron Wassertrum meinen Blick gefØhlt, wandte er plÃtzlich sein Gesicht zu mir empor.
          Sein starres, grÄñliches Gesicht mit den runden Fischaugen und der klaffenden Oberlippe, die von einer Hasenscharte gespalten ist.
          Wie eine menschliche Spinne kam er mir vor, die die feinste BerØhrung ihres Netzes spØrt, so teilnahmslos sie sich auch stellt.
          Und wovon er nur leben mag? Was denkt er, und was ist sein Vorhaben?
          Ich wuñte es nicht.
          An den MauerrÄndern seines GewÃlbes hÄngen unverÄndert Tag fØr Tag, jahraus jahrein dieselben toten wertlosen Dinge.
          Mit geschlossenen Augen hÄtte ich sie hinzeichnen kÃnnen: hier die verbogene Blechtrompete ohne Klappen, das vergilbte Bild auf Papier gemalt, mit den so sonderbar zusammengestellten Soldaten. Dann eine Girlande verrosteter Sporen an einem schimmligen Lederriemen und anderes halb vermodertes GerØmpel.
          Und vorne auf dem Boden, dicht nebeneinander geschichtet, so dañ niemand die Schwelle des GewÃlbes Øberschreiten kann, eine Reihe runder eiserner Herdplatten. -
          Alle diese Dinge nahmen an Zahl nie zu, nie ab, und blieb wirklich hier und da einmal ein VorØbergehender stehen und fragte nach dem Preis des einen oder andern, geriet der TrÃdler in heftige Erregung.
          In grauenerregender Weise zog er dann seine Lippen mit der Hasenscharte empor und sprudelte gereizt irgend etwas UnverstÄndliches in einem gurgelnden, stolpernden Bañ hervor, dañ dem KÄufer die Lust weiter zu fragen verging und er abgeschreckt seinen Weg fortsetzte.
          Der Blick des Aaron Wassertrum war blitzschnell von meinen Augen abgeglitten und ruhte jetzt mit gespanntem Interesse an den kahlen Mauern, die vom Nebenhause an mein Fenster stoñen.
          Was konnte er dort nur sehen?
          Das Haus steht doch mit dem RØcken gegen die Hahnpañgasse, und seine Fenster blicken in den Hof! Nur eines ist in die Strañe gekehrt.
          ZufÄllig schienen die RÄume, die nebenan in derselben StockhÃhe wie die meinigen liegen - ich glaube, sie gehÃren zu einem winkligen Atelier - in diesem Moment betreten worden zu sein, denn durch die Mauern hÃrte ich plÃtzlich eine mÄnnliche und eine weibliche Stimme miteinander reden.
          UnmÃglich konnte das aber der TrÃdler von unten aus wahrgenommen haben! - -
          Vor meiner TØr bewegte sich jemand, und ich erriet: es ist immer noch Rosina, die drauñen im Dunkeln steht in begehrlichem Warten, dañ ich sie doch vielleicht zu mir hereinrufen wolle.
          Und unten, ein halbes Stockwerk tiefer, lauert der blatternarbige, halbwØchsige Loisa auf den Stiegen mit angehaltenem Atem, ob ich die TØr Ãffnen werde, und ich spØre fÃrmlich den Hauch seines Hasses und seine schÄumende Eifersucht bis herauf zu mir.
          Er fØrchtet sich nÄher zu kommen und von Rosina bemerkt zu werden. Er weiñ sich von ihr abhÄngig wie ein hungriger Wolf von seinem WÄrter und mÃchte doch am liebsten aufspringen und besinnungslos seiner Wut die ZØgel schieñen lassen! - - -
          Ich setzte mich an meinen Arbeitstisch und suchte meine Pinzetten und Stichel hervor.
          Aber ich konnte nichts fertigbringen und meine Hand war nicht ruhig genug, die feinen japanischen Gravierungen auszubessern.
          Das trØbe, dØstere Leben, das an diesem Hause hÄngt, lÄñt mein GemØt nicht stillwerden, und immer tauchen alte Bilder in mir auf.
          Loisa und sein Zwillingsbruder Jaromir sind wohl kaum ein Jahr Älter als Rosina.
          An ihren Vater, der HostienbÄcker gewesen, konnte ich mich kaum mehr erinnern, und jetzt sorgt fØr sie, glaube ich, ein altes Weib.
          Ich wuñte nur nicht, welche es war unter den vielen, die versteckt im Hause wohnen wie KrÃten in ihrem Schlupfwinkel.
          Sie sorgt fØr die beiden Jungen, das heiñt: sie gewÄhrt ihnen Unterkunft; dafØr mØssen sie ihr abliefern, was sie gelegentlich stehlen oder erbetteln. -
          Ob sie ihnen wohl auch zu essen gibt? Ich konnte es mir nicht denken, denn erst spÄt abends kommt die Alte heim.
          LeichenwÄscherin soll sie sein.
          Loisa, Jaromir und Rosina sah ich, als sie noch Kinder waren, oft harmlos im Hof zu dritt spielen.
          Die Zeit aber ist lang vorbei.
          Den ganzen Tag ist Loisa jetzt hinter dem rothaarigen JudenmÄdel her.
          Zuweilen sucht er sie lange umsonst, und wenn er sie nirgends finden kann, dann schleicht er sich vor meine TØr und wartet mit verzerrtem Gesicht, dañ sie heimlich hierher komme.
          Da sehe ich ihn, wenn ich bei meiner Arbeit sitze, im Geiste drauñen in dem winkligen Gange lauern, den Kopf mit dem ausgemergelten Genick horchend vorgebeugt.
          Manchmal bricht dann durch die Stille plÃtzlich ein wilder LÄrm.
          Jaromir, der taubstumm ist, und dessen ganzes Denken eine ununterbrochene wahnsinnige Gier nach Rosina erfØllt, irrt wie ein wildes Tier im Hause umher, und sein unartikuliertes heulendes Gebell, das er, vor Eifersucht und Argwohn halb von Sinnen, ausstÃñt, klingt so schauerlich, dañ einem das Blut in den Adern stockt.
          Er sucht die beiden, die er stets beieinander vermutet - irgendwo in einem der tausend schmutzigen Schlupfwinkel versteckt - in blinder Raserei, immer von dem Gedanken gepeitscht, seinem Bruder auf den Fersen sein zu mØssen, dañ nichts mit Rosina vorgehe, von dem er nicht wisse.
          Und gerade diese unaufhÃrliche Qual des KrØppels ist, ahnte ich, das Reizmittel, das Rosina antreibt, sich stets von neuem mit dem andern einzulassen.
          Wird ihre Neigung oder Bereitwilligkeit schwÄcher, so ersinnt Loisa immer wieder besondere Scheuñlichkeiten, um Rosinas Gier von neuem zu entfachen.
          Da lassen sie sich scheinbar oder wirklich von dem Taubstummen ertappen und locken den Rasenden heimtØckisch hinter sich her in dunkle GÄnge, wo sie aus rostigen Fañreifen, die in die HÃhe schnellen, wenn man auf sie tritt, und eisernen Rechen - mit den Spitzen nach oben gekehrt - bÃsartige Fallen errichtet haben, in die er stØrzen muñ und sich blutig fÄllt.
          Von Zeit zu Zeit denkt sich Rosina, um die Folter aufs Äuñerste anzuspannen, auf eigene Faust etwas HÃllisches aus.
          Dann Ändert sie mit einem Schlage ihr Benehmen zu Jaromir und tut, als fÄnde sie plÃtzlich Gefallen an ihm.
          Mit ihrer ewig lÄchelnden Miene teilt sie dem KrØppel hastig Dinge mit, die ihn in eine fast irrsinnige Erregung versetzen, und sie hat sich dazu eine geheimnisvoll scheinende, nur halbverstÄndliche Zeichensprache ersonnen, die den Taubstummen rettungslos in ein unentwirrbares Netz von Ungewiñheit und verzehrenden Hoffnungen verstricken muñ. -
          Einmal sah ich ihn im Hofe vor ihr stehen, und sie sprach mit so heftigen Lippenbewegungen und Gestikulationen auf ihn ein, dañ ich glaubte, jeden Augenblick wØrde er in wilder Aufregung zusammenbrechen.
          Der Schweiñ lief ihm Øbers Gesicht vor Øbermenschlicher Anstrengung, den Sinn der absichtlich so unklaren, hastigen Mitteilungen zu erfassen.
          Und den ganzen folgenden Tag lauerte er dann fiebernd in Erwartung auf den finsteren Stiegen eines halb versunkenen Hauses, das in der Fortsetzung der engen, schmutzigen Hahnpañgasse liegt, - bis er die Zeit versÄumt hatte, sich an den Ecken ein paar Kreuzer zu erbetteln.
          Und als er spÄt abends halbtot vor Hunger und Aufregung heim wollte, hatte ihn die Pflegemutter lÄngst ausgesperrt. - - -
          0x01 graphic

          Ein frÃhliches Frauenlachen drang aus dem anstoñenden Atelier durch die Mauern herØber zu mir.
          Ein Lachen! - In diesen HÄusern ein frÃhliches Lachen? Im ganzen Getto wohnt niemand, der frÃhlich lachen kÃnnte.
          Da fiel mir ein, dañ mir vor einigen Tagen der alte Marionettenspieler Zwakh anvertraute, ein junger, vornehmer Herr hÄtte ihm das Atelier teuer abgemietet - offenbar, um mit der ErwÄhlten seines Herzens unbelauscht zusammenkommen zu kÃnnen.
          Nach und nach, jede Nacht, mØñten nun, damit niemand im Hause etwas merke, die kostbaren MÃbel des neuen Mieters heimlich StØck fØr StØck hinaufgeschafft werden.
          Der gutmØtige Alte hatte sich vor VergnØgen die HÄnde gerieben, als er es mir erzÄhlte, und sich kindlich gefreut, wie er alles so geschickt angefangen habe: keiner der Mitbewohner kÃnne auch nur eine Ahnung von dem romantischen Liebespaar haben.
          Und von drei HÄusern aus sei es mÃglich, unauffÄllig in das Atelier zu gelangen. - Sogar durch eine FalltØre gÄbe es einen Zugang!
          Ja, wenn man die eiserne TØr des Bodenraumes aufklinke, - und das sei von drØben aus sehr leicht, - kÃnne man an meiner Kammer, vorbei zu den Stiegen unseres Hauses gelangen und diese als Ausgang benØtzen ...
          Wieder klingt das frÃhliche Lachen herØber und lÄñt in mir die undeutliche Erinnerung an eine luxuriÃse Wohnung und an eine adlige Familie auftauchen, zu der ich oft gerufen wurde, um an kostbaren AltertØmern kleine Ausbesserungen vorzunehmen. -
          PlÃtzlich hÃre ich nebenan einen gellenden Schrei. Ich horche erschreckt.
          Die eiserne BodentØr klirrt heftig, und im nÄchsten Augenblick stØrzt eine Dame in mein Zimmer.
          Mit aufgelÃstem Haar, weiñ wie die Wand, einen goldenen Brokatstoff Øber die bloñen Schultern geworfen.
          "Meister Pernath, verbergen Sie mich, - um Gottes Christi willen! - fragen Sie nicht, verbergen Sie mich hier!"
          Ehe ich noch antworten konnte, wurde meine TØr abermals aufgerissen und sofort wieder zugeschlagen. -
          Eine Sekunde lang hatte das Gesicht des TrÃdlers Aaron Wassertrum wie eine scheuñliche Maske hereingegrinst. -
          0x01 graphic

          Ein runder, leuchtender Fleck taucht vor mir auf, und im Schein des Mondlichtes erkenne ich wiederum das Fuñende meines Bettes. Noch liegt der Schlaf auf mir wie ein schwerer, wolliger Mantel und der Name Pernath steht in goldenen Buchstaben vor meiner Erinnerung.
          Wo nur habe ich diesen Namen gelesen? - Athanasius Pernath?
          Ich glaube, ich glaube vor langer, langer Zeit habe ich einmal irgendwo meinen Hut verwechselt, und ich wunderte mich damals, dañ er mir so genau passe, wo ich doch eine hÃchst eigentØmliche Kopfform habe.
          Und ich sah in den fremden Hut hinein - damals und - - ja, ja, dort hatte es gestanden in goldenen Papierbuchstaben auf dem weiñen Futter:
          ATHANASIUS PERNATH.
          Ich hatte mich vor dem Hut gescheut und gefØrchtet, ich wuñte nicht warum.
          Da fÄhrt plÃtzlich die Stimme, die ich vergessen hatte, und die immer von mir wissen wollte, wo der Stein ist, der wie Fett ausgesehen habe, auf mich los, gleich einem Pfeil.
          Schnell male ich mir das scharfe, sØñlich grinsende Profil der roten Rosina aus, und es gelingt mir auf diese Weise, dem Pfeil auszuweichen, der sich sogleich in der Finsternis verliert.
          Ja, das Gesicht der Rosina! Das ist doch noch stÄrker als die stumpfsinnige plappernde Stimme; und gar, wo ich jetzt gleich wieder in meinem Zimmer in der Hahnpañgasse geborgen sein werde, kann ich ganz ruhig sein.

    I


          Wenn ich mich nicht getÄuscht habe in der Empfindung, dañ jemand in einem gewissen, gleichbleibenden Abstand hinter mir die Treppe heraufkommt, in der Absicht, mich zu besuchen, so muñ er jetzt ungefÄhr auf dem letzten Stiegenabsatz stehen.
          Jetzt biegt er um die Ecke, wo der Archivar Schemajah Hillel seine Wohnung hat, und kommt von den ausgetretenen Steinfliesen auf den Flur des oberen Stockwerkes, der mit roten Ziegeln ausgelegt ist.
          Nun tastet er sich an der Wand entlang, und jetzt, gerade jetzt, muñ er, mØhsam im Finstern buchstabierend, meinen Namen auf dem TØrschild lesen.
          Und ich stellte mich aufrecht in die Mitte des Zimmers und blickte zum Eingang.
          Da Ãffnete sich die TØre, und er trat ein.
          Nur wenige Schritte machte er auf mich zu und nahm weder den Hut ab, noch sagte er ein Wort der BegrØñung.
          So benimmt er sich, wenn er zu Hause ist, fØhlte ich, und ich fand es ganz selbstverstÄndlich, dañ er so und nicht anders handelte.
          Er griff in die Tasche und nahm ein Buch heraus.
          Dann blÄtterte er lange drin herum.
          Der Umschlag des Buches war aus Metall, und die Vertiefungen in Form von Rosetten und Siegeln waren mit Farbe und kleinen Steinen ausgefØllt.
          Endlich hatte er die Stelle gefunden, die er suchte, und deutete darauf.
          Das Kapitel hieñ "Ibbur", "die SeelenschwÄngerung", entzifferte ich.
          Das groñe, in Gold und Rot ausgefØhrte Initial "I" nahm fast die HÄlfte der ganzen Seite ein, die ich unwillkØrlich Øberflog, und war am Rande verletzt.
          Ich sollte es ausbessern.
          Das Initial war nicht auf das Pergament geklebt, wie ich es bisher in alten BØchern gesehen, schien vielmehr aus zwei Platten dØnnen Goldes zu bestehen, die im Mittelpunkte zusammengelÃtet waren und mit den Enden um die RÄnder des Pergaments griffen.
          Also muñte, wo der Buchstabe stand, ein Loch in das Blatt geschnitten sein?
          Wenn das der Fall war, muñte auf der nÄchsten Seite das "I" verkehrt stehen?
          Ich blÄtterte um und fand meine Annahme bestÄtigt.
          UnwillkØrlich las ich auch diese Seite durch und die gegenØberliegende.
          Und ich las weiter und weiter.
          Das Buch sprach zu mir, wie der Traum spricht, klarer nur und viel deutlicher. Und es rØhrte mein Herz an wie eine Frage.
          Worte strÃmten aus einem unsichtbaren Munde, wurden lebendig und kamen auf mich zu. Sie drehten sich und wandten sich vor mir wie buntgekleidete Sklavinnen, sanken dann in den Boden oder verschwanden wie schillernder Dunst in der Luft und gaben der nÄchsten Raum. Jede hoffte eine kleine Weile, dañ ich sie erwÄhlen wØrde und auf den Anblick der Kommenden verzichten.
          Manche waren unter ihnen, die gingen prunkend einher wie Pfauen, in schimmernden GewÄndern, und ihre Schritte waren langsam und gemessen.
          Manche wie KÃniginnen, doch gealtert und verlebt, die Augenlider gefÄrbt, - mit dirnenhaftem Zug um den Mund und die Runzeln mit hÄñlicher Schminke verdeckt.
          Ich sah an ihnen vorbei und nach den kommenden, und mein Blick glitt Øber lange ZØge grauer Gestalten mit Gesichtern, so gewÃhnlich und ausdrucksarm, dañ es unmÃglich schien, sie dem GedÄchtnis einzuprÄgen.
          Dann brachten sie ein Weib geschleppt, das war splitternackt und riesenhaft wie ein Erzkoloñ.
          Eine Sekunde blieb das Weib vor mir stehen und beugte sich nieder zu mir.
          Ihre Wimpern waren so lang wie mein ganzer KÃrper, und sie deutete stumm auf den Puls ihrer linken Hand.
          Der schlug wie ein Erdbeben, und ich fØhlte, es war das Leben einer ganzen Welt in ihr.
          Aus der Ferne raste ein Korybantenzug heran.
          Ein Mann und ein Weib umschlangen sich. Ich sah sie von weitem kommen, und immer nÄher brauste der Zug.
          Jetzt hÃrte ich den hallenden Gesang der VerzØckten dicht vor mir, und meine Augen suchten das verschlungene Paar.
          Das aber hatte sich verwandelt in eine einzige Gestalt und sañ, halb mÄnnlich, halb weiblich, - ein Hermaphrodit - auf einem Throne von Perlmutter.
          Und die Krone des Hermaphroditen endete in einem Brett aus rotem Holz; darein hatte der Wurm der ZerstÃrung geheimnisvolle Runen genagt.
          In einer Staubwolke kam eilig hinterdreingetrappelt eine Herde kleiner, blinder Schafe: die Futtertiere, die der gigantische Zwitter in seinem Gefolge fØhrte, seine Korybantenschar am Leben zu erhalten.
          Zuweilen waren unter den Gestalten, die aus dem unsichtbaren Munde strÃmten, etliche, die kamen aus GrÄbern, - TØcher vor dem Gesicht.
          Und blieben sie vor mir stehen, lieñen sie plÃtzlich ihre HØllen fallen und starrten mit Raubtieraugen hungrig auf mein Herz, dañ ein eisiger Schreck mir ins Hirn fuhr und sich mein Blut zurØckstaute wie ein Strom, in den FelsblÃcke vom Himmel herniedergefallen sind - plÃtzlich und mitten in sein Bette. -
          Eine Frau schwebte an mir vorbei. Ich sah ihr Antlitz nicht, sie wandte es ab, und sie trug einen Mantel aus flieñenden TrÄnen. -
          MaskenzØge tanzten vorØber, lachten und kØmmerten sich nicht um mich.
          Nur ein Pierrot sieht sich nachdenklich um nach mir und kehrt zurØck. Pflanzt sich vor mich hin und blickt in mein Gesicht hinein, als sei es ein Spiegel.
          Er schneidet so seltsame Grimassen, hebt und bewegt seine Arme, bald zÃgernd, bald blitzschnell, dañ sich meiner ein gespenstiger Trieb bemÄchtigt ihn nachzuahmen, mit den Augen zu zwinkern, mit den Achseln zu zucken und die Mundwinkel zu verziehen.
          Da stoñen ihn ungeduldig nachdrÄngende Gestalten zur Seite, die alle vor meine Blicke wollen.
          Doch keines der Wesen hat Bestand.
          Gleitende Perlen sind sie, auf eine Seidenschnur gereiht, die einzelnen TÃne nur einer Melodie, die dem unsichtbaren Mund entstrÃmen.
          Das war kein Buch mehr, das zu mir sprach. Das war eine Stimme. Eine Stimme, die etwas von mir wollte, was ich nicht begriff; wie sehr ich mich auch abmØhte. Die mich quÄlte mit brennenden, unverstÄndlichen Fragen.
          Die Stimme aber, die diese sichtbaren Worte redete, war abgestorben und ohne Widerhall.
          Jeder Laut, der in der Welt der Gegenwart erklingt, hat viele Echos, wie jegliches Ding einen groñen Schatten hat und viele kleine Schatten, doch diese Stimme hatte keine Echos mehr, - lange, lange schon sind sie wohl verweht und verklungen. - - -
          Und bis zu Ende hatte ich das Buch gelesen und hielt es noch in den HÄnden, da war mir, als hÄtte ich suchend in meinem Gehirn geblÄttert und nicht in einem Buche! - -
          Alles, was mir die Stimme gesagt, hatte ich, seit ich lebte, in mir getragen, nur verdeckt war es gewesen und vergessen und hatte sich vor meinem Denken versteckt gehalten bis auf den heutigen Tag. -
          0x01 graphic

          Ich blickte auf.
          Wo war der Mann, der mir das Buch gebracht hatte?
          Fortgegangen!?
          Wird er es holen, wenn es fertig ist?
          Oder sollte ich es ihm bringen? -
          Aber ich konnte mich nicht erinnern, dañ er gesagt hÄtte, wo er wohne.
          Ich wollte mir seine Erscheinung ins GedÄchtnis zurØckrufen, doch es miñlang.
          Wie war er nur gekleidet gewesen? War er alt, war er jung? - Und welche Farben hatten sein Haar und sein Bart gehabt?
          Nichts, gar nichts mehr konnte ich mir vorstellen. - Alle Bilder, die ich mir von ihm schuf, zerrannen haltlos, noch ehe ich sie im Geiste zusammenzusetzen vermochte.
          Ich schloñ die Augen und preñte die Hand auf die Lider, um einen winzigen Teil nur seines Bildnisses zu erhaschen.
          Nichts, nichts.
          Ich stellte mich hin, mitten ins Zimmer, und blickte auf die TØr, wie ich es getan - vorhin, als er gekommen war, und malte mir aus: jetzt biegt er um die Ecke, jetzt schreitet er Øber den Ziegelsteinboden, liest jetzt drauñen mein TØrschild "Athanasius Pernath" und jetzt tritt er herein.
          Vergebens.
          Nicht die leiseste Spur einer Erinnerung, wie seine Gestalt ausgesehen, wollte in mir erwachen.
          Ich sah das Buch auf dem Tische liegen und wØnschte mir im Geiste die Hand dazu, die es aus der Tasche gezogen und mir gereicht hatte.
          Nicht einmal, ob sie einen Handschuh getragen, ob sie entblÃñt gewesen, ob jung oder runzlig, mit Ringen geschmØckt oder nicht, konnte ich mich entsinnen.
          Da kam mir ein seltsamer Einfall.
          Wie eine Eingebung war es, der man nicht widerstehen darf.
          Ich zog meinen Mantel an, setzte meinen Hut auf und ging hinaus auf den Gang und die Treppen hinab. Dann kam ich langsam wieder zurØck in mein Zimmer.
          Langsam, ganz langsam, so wie er, als er gekommen war. Und als ich die TØr Ãffnete, da sah ich, dañ meine Kammer voll DÄmmerung lag. War es denn nicht heller Tag noch gewesen, als ich soeben hinausging?
          Wie lange muñte ich da gegrØbelt haben, dañ ich nicht bemerkte, wie spÄt es ist!
          Und ich versuchte den Unbekannten nachzuahmen in Gang und Mienen und konnte mich an sie doch gar nicht erinnern. -
          Wie sollte es mir auch glØcken, ihn nachzuahmen, wenn ich keinen Anhaltspunkt mehr hatte, wie er ausgesehen haben mochte.
          Aber es kam anders. Ganz anders, als ich dachte.
          Meine Haut, meine Muskeln, mein KÃrper erinnerten sich plÃtzlich, ohne es dem Gehirn zu verraten. Sie machten Bewegungen, die ich nicht wØnschte und nicht beabsichtigte.
          Als ob meine Glieder nicht mehr mir gehÃrten!
          Mit einem Male war mein Gang tappend und fremdartig geworden, als ich ein paar Schritte im Zimmer machte.
          Das ist der Gang eines Menschen, der bestÄndig im Begriffe ist, vornØber zu fallen, sagte ich mir.
          Ja, ja, ja, so war sein Gang!
          Ganz deutlich wuñte ich: so ist er.
          Ich trug ein fremdes, bartloses Gesicht mit hervorstehenden Backenknochen und schaute aus schrÄgstehenden Augen.
          Ich fØhlte es und konnte mich doch nicht sehen.
          Das ist nicht mein Gesicht, wollte ich entsetzt aufschreien, wollte es betasten, doch meine Hand folgte meinem Willen nicht und senkte sich in die Tasche und holte ein Buch hervor.
          Ganz so, wie er es vorhin getan hatte. -
          Da plÃtzlich sitze ich wieder ohne Hut, ohne Mantel, am Tische und bin ich. Ich, ich.
          Athanasius Pernath.
          Grausen und Entsetzen schØttelten mich, mein Herz raste zum Zerspringen, und ich fØhlte: gespenstische Finger, die soeben noch in meinem Gehirn herumgetastet, haben von mir abgelassen.
          Noch spØrte ich im Hinterkopf die kalten Spuren ihrer BerØhrung. -
          Nun wuñte ich, wie der Fremde war, und ich hÄtte ihn wieder in mir fØhlen kÃnnen, - jeden Augenblick - wenn ich nur gewollt hÄtte; aber sein Bild mir vorzustellen, dañ ich es vor mir sehen wØrde Auge in Auge - das vermochte ich noch immer nicht und werde es auch nie kÃnnen.
          Es ist wie ein Negativ, eine unsichtbare Hohlform, erkannte ich, deren Linien ich nicht erfassen kann - in die ich selber hineinschlØpfen muñ, wenn ich mir ihrer Gestalt und ihres Ausdrucks im eigenen Ich bewuñt werden will - -
          In der Schublade meines Tisches stand eine eiserne Kassette; - in diese wollte ich das Buch sperren und erst, wenn der Zustand der geistigen Krankheit von mir gewichen sein wØrde, wollte ich es wieder hervorholen und an die Ausbesserung des zerbrochenen Initialen "I" gehen.
          Und ich nahm das Buch vom Tisch.
          Da war mir, als hÄtte ich es gar nicht angefañt; ich griff die Kassette an: dasselbe GefØhl. Als mØñte das Tastempfinden eine lange, lange Strecke voll tiefer Dunkelheit durchlaufen, ehe es in meinem Bewuñtsein mØndete, als seien die Dinge durch eine jahresgroñe Zeitschicht von mir entfernt und gehÃrten einer Vergangenheit an, die lÄngst an mir vorØbergezogen!
          0x01 graphic

          Die Stimme, die nach mir suchend in der Finsternis kreist, um mich mit dem fettigen Stein zu quÄlen, ist an mir vorbeigekommen und hat mich nicht gesehen. Und ich weiñ, dañ sie aus dem Reiche des Schlafes stammt. Aber was ich erlebt, das war wirkliches Leben, - darum konnte sie mich nicht sehen und sucht vergeblich nach mir, fØhle ich.

    Prag


          Neben mir stand der Student Charousek, den Kragen seines dØnnen, fadenscheinigen øberziehers aufgeschlagen, und ich hÃrte, wie ihm vor KÄlte die ZÄhne aufeinanderschlugen.
          Er kann sich den Tod holen in diesem zugigen, eisigen Torbogen, sagte ich mir, und ich forderte ihn auf, mit hinØber in meine Wohnung zu kommen.
          Er aber lehnte ab.
          "Ich danke Ihnen, Meister Pernath," murmelte er frÃstelnd, "leider habe ich nicht mehr so viel Zeit Øbrig; - ich muñ eilends in die Stadt. - Auch wØrden wir bis auf die Haut nañ, wenn wir jetzt auf die Gasse treten wollten - schon nach wenigen Schritten! - - Der Platzregen will nicht schwÄcher werden!"
          Die Wasserschauer fegten Øber die DÄcher hin und liefen an den Gesichtern der HÄuser herunter wie ein TrÄnenstrom.
          Wenn ich den Kopf ein wenig vorbog, konnte ich da drØben im vierten Stock mein Fenster sehen, das, vom Regen Øberrieselt, aussah, als seien seine Scheiben aufgeweicht, - undurchsichtig und hÃckerig geworden wie Hausenblase.
          Ein gelber Schmutzbach floñ die Gasse herab, und der Torbogen fØllte sich mit VorØbergehenden, die alle das Nachlassen des Unwetters abwarten wollten.
          "Dort schwimmt ein Brautbukett", sagte plÃtzlich Charousek und deutete auf einen Strauñ aus welken Myrten, der in dem Schmutzwasser vorbeigetrieben kam.
          DarØber lachte jemand hinter uns laut auf.
          Als ich mich umdrehte, sah ich, dañ es ein alter, vornehm gekleideter Herr mit weiñem Haar und einem aufgedunsenen, krÃtenartigen Gesicht gewesen war.
          Charousek blickte ebenfalls einen Augenblick zurØck und brummte etwas vor sich hin.
          Unangenehmes ging von dem Alten aus; - ich wandte meine Aufmerksamkeit von ihm ab und musterte die miñfarbigen HÄuser, die da vor meinen Augen wie verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinander hockten.
          Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen!
          Ohne øberlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem Boden dringt.
          An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden øberrest eines frØheren, langgestreckten GebÄudes, hat man sie angelehnt - vor zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne RØcksicht auf die Øbrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit zurØckspringender Stirn; - ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn.
          Unter dem trØben Himmel sahen sie aus, als lÄgen sie im Schlaf, und man spØlte nichts von dem tØckischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.
          In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des Nachts und im frØhesten Morgengrauen fØr sie gÄbe, wo sie erregt eine lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fÄhrt da ein schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erklÄren lÄñt, GerÄusche laufen Øber ihre DÄcher und fallen in den Regenrinnen nieder, - und wir nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu forschen.
          Oft trÄumte mir, ich hÄtte diese HÄuser belauscht in ihrem spukhaften Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, dañ sie die heimlichen, eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und FØhlens entÄuñern und es wieder an sich ziehen kÃnnen, - es tagsØber den Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder zurØckzufordern.
          Und lasse ich die seltsamen Menschen, die in ihnen wohnen wie Schemen, wie Wesen - nicht von MØttern geboren, - die in ihrem Denken und Tun wie aus StØcken wahllos zusammengefØgt scheinen, im Geiste an mir vorØberziehen, so bin ich mehr denn je geneigt zu glauben, dañ solche TrÄume in sich dunkle Wahrheiten bergen, die mir im Wachsein nur noch wie EindrØcke von farbigen MÄrchen in der Seele fortglimmen.
          Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem kØnstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Getto ein kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches Zahlenwort hinter die ZÄhne schob.
          Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte, in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so mØñten auch, dØnkt mich, alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick zusammenfallen, lÃschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein nebensÄchliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen, bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gÄnzlich Unbestimmtes, Haltloses - in ihrem Hirn aus.
          Was ist dabei fØr ein immerwÄhrendes, schreckhaftes Lauern in diesen GeschÃpfen!
          Niemals sieht man sie arbeiten, diese Menschen, und dennoch sind sie frØh beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten mit angehaltenem Atem - wie auf ein Opfer, das doch nie kommt.
          Und hat es wirklich einmal den Anschein, als trÄte jemand in ihren Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern kÃnnten, dann fÄllt plÃtzlich eine lÄhmende Angst Øber sie her, scheucht sie in ihre Winkel zurØck und lÄñt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen.
          Niemand scheint schwach genug, dañ ihnen noch so viel Mut bliebe, sich seiner zu bemÄchtigen.
          "Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe genommen ist", sagte Charousek zÃgernd und sah mich an. -
          Wie konnte er wissen, woran ich dachte? -
          So stark facht man zuweilen seine Gedanken an, dañ sie imstande sind, auf das Gehirn des Nebenstehenden Øberzuspringen wie sprØhende Funken, fØhlte ich.
          "- - - wovon sie nur leben mÃgen?" sagte ich nach einer Weile.
          "Leben? Wovon? Mancher unter ihnen ist ein MillionÄr!"
          Ich blickte Charousek an. Was konnte er damit meinen!
          Der Student aber schwieg und sah nach den Wolken.
          FØr einen Augenblick hatte das Stimmengemurmel in dem Torbogen gestockt, und man hÃrte bloñ das Zischen des Regens.
          Was er nur damit sagen will: "Mancher unter ihnen ist ein MillionÄr!?"
          Wieder war es, als hÄtte Charousek meine Gedanken erraten. Er wies nach dem TrÃdlerladen neben uns, an dem das Wasser den Rost des EisengerØmpels in flieñenden, braunroten PfØtzen vorbeispØlte.
          "Aaron Wassertrum! Er zum Beispiel ist MillionÄr, - fast ein Drittel der Judenstadt ist sein Besitz. Wissen Sie es denn nicht, Herr Pernath?!"
          Mir blieb fÃrmlich der Atem im Mund stecken. "Aaron Wassertrum! Der TrÃdler Aaron Wassertrum MillionÄr?!"
          "Oh, ich kenne ihn genau", fuhr Charousek verbissen fort, und als hÄtte er nur darauf gewartet, dañ ich ihn frage. "Ich kannte auch seinen Sohn, den Dr. Wassory. Haben Sie nie von ihm gehÃrt? Von Dr. Wassory, dem - berØhmten - Augenarzt? - Vor einem Jahr noch hat die ganze Stadt begeistert von ihm gesprochen, - von dem groñen - - Gelehrten. Niemand wuñte damals, dañ er seinen Namen abgelegt und frØher Wassertrum geheiñen. - Er spielte sich gerne auf den weitabgewandten Mann der Wissenschaft hinaus, und wenn einmal auf Herkunft die Rede kam, warf er bescheiden und tiefbewegt so mit halben Worten hin, dañ sein Vater noch aus dem Getto stamme, - sich aus den niedrigsten AnfÄngen heraus unter Kummer aller Art und unsÄglichen Sorgen empor ans Licht habe arbeiten mØssen.
          Ja! Unter Kummer und Sorgen!
          Unter wessen Kummer und unsÄglichen Sorgen aber und mit welchen Mitteln, das hat er nicht dazu gesagt!
          Ich aber weiñ, was es mit dem Getto fØr eine Bewandtnis hat!" Charousek fañte meinen Arm und schØttelte ihn heftig.
          "Meister Pernath, ich bin so arm, dañ ich es selbst kaum mehr begreife; ich muñ halbnackt gehen wie ein Vagabund, sehen Sie her, und ich bin doch Student der Medizin, - bin doch ein gebildeter Mensch!"
          Er riñ seinen øberzieher auf und ich sah zu meinem Entsetzen, dañ er weder Hemd noch Rock anhatte und den Mantel Øber der nackten Haut trug.
          "Und so arm war ich bereits, als ich diese Bestie, diesen allmÄchtigen, angesehenen Dr. Wassory zu Fall brachte, - und noch heute ahnt keiner, dañ ich, ich der eigentliche Urheber war.
          Man meint in der Stadt, ein gewisser Dr. Savioli sei es gewesen, der seine Praktiken ans Tageslicht gezogen und ihn dann zum Selbstmord getrieben hat. - Dr. Savioli war nichts als mein Werkzeug, sage ich Ihnen. Ich allein habe den Plan erdacht und das Material zusammengetragen, habe die Beweise geliefert und leise und unmerklich Stein um Stein in dem GebÄude Dr. Wassorys gelockert, bis der Zustand erreicht war, wo kein Geld der Erde, keine List des Gettos mehr vermocht hÄtten, den Zusammenbruch, zu dem es nur noch eines unmerklichen Anstoñes bedurfte, abzuwenden.
          Wissen Sie, so - so wie man Schach spielt.
          Gerade so wie man Schach spielt.
          Und niemand weiñ, dañ ich es war!
          Den TrÃdler Aaron Wassertrum, den lÄñt wohl manchmal eine furchtbare Ahnung nicht schlafen, dañ einer, den er nicht kennt, der immer in seiner NÄhe ist und den er doch nicht fassen kann, - ein anderer als Dr. Savioli - die Hand im Spiele gehabt haben mØsse.
          Wiewohl Wassertrum einer von jenen ist, deren Augen durch Mauern zu schauen vermÃgen, so fañt er es doch nicht, dañ es Gehirne gibt, die auszurechnen imstande sind, wie man mit langen, unsichtbaren, vergifteten Nadeln durch solche Mauern stechen kann, an Quadern, an Gold und Edelsteinen vorbei, um die verborgene Lebensader zu treffen."
          Und Charousek schlug sich vor die Stirn und lachte wild.
          "Aaron Wassertrum wird es bald erfahren; genau an dem Tage, an dem er Dr. Savioli an den Hals will! Genau an demselben Tage!
          Auch diese Schachpartie habe ich ausgerechnet bis zum letzten Zug. - Diesmal wird es ein KÃnigslÄufergambit sein. Da gibt es keinen einzigen Zug bis zum bittern Ende, gegen den ich nicht eine verderbliche Entgegnung wØñte.
          Wer sich mit mir in ein solches KÃnigslÄufergambit einlÄñt, der hÄngt in der Luft, sage ich Ihnen, wie eine hilflose Marionette an feinen FÄden, - an FÄden, die ich zupfe, - hÃren Sie wohl, die ich zupfe, und mit dessen freiem Willen ist's dahin."
          Der Student redete wie im Fieber, und ich sah ihm entsetzt ins Gesicht.
          "Was haben Ihnen Wassertrum und sein Sohn denn getan, dañ Sie so voll Hañ sind?"
          Charousek wehrte heftig ab:
          "Lassen wir das - fragen Sie lieber, was Dr. Wassory den Hals gebrochen hat! - Oder wØnschen Sie, dañ wir ein andres Mal darØber sprechen? - Der Regen hat nachgelassen. Vielleicht wollen Sie nach Hause gehen?"
          Er senkte seine Stimme, wie jemand, der plÃtzlich ganz ruhig wird. Ich schØttelte den Kopf.
          "Haben Sie jemals gehÃrt, wie man heutzutage den grØnen Star heilt? - Nicht? - So muñ ich Ihnen das deutlich machen, damit Sie alles genau verstehen, Meister Pernath!
          HÃren Sie zu: Der 'grØne Star' also ist eine bÃsartige Erkrankung des Augeninnern, die mit Erblinden endet, und es gibt nur ein Mittel, dem Fortschreiten des øbels Einhalt zu tun, nÄmlich die sogenannte Iridektomie, die darin besteht, dañ man aus der Regenbogenhaut des Auges ein keilfÃrmiges StØckchen herauszwickt.
          Die unvermeidlichen Folgen davon sind wohl greuliche Blendungserscheinungen, die fØrs ganze Leben bleiben; der Prozeñ des Erblindens jedoch ist meistens aufgehalten.
          Mit der Diagnose des grØnen Stars hat es aber eine eigene Bewandtnis.
          Es gibt nÄmlich Zeiten, besonders bei Beginn der Krankheit, wo die deutlichsten Symptome scheinbar ganz zurØcktreten, und in solchen FÄllen darf ein Arzt, obwohl er keine Spur einer Krankheit finden kann, dennoch niemals mit Bestimmtheit sagen, dañ sein VorgÄnger, der andrer Meinung gewesen, sich notwendigerweise geirrt haben mØsse.
          Hat aber einmal die erwÄhnte Iridektomie, die sich natØrlich genauso an einem gesunden Auge wie an einem kranken ausfØhren lÄñt, stattgefunden, so kann man unmÃglich mehr feststellen, ob frØher wirklich grØner Star vorgelegen hat oder nicht.
          Und auf diese und noch andere UmstÄnde hatte Dr. Wassory einen scheuñlichen Plan aufgebaut.
          UnzÄhlige Male - besonders an Frauen - konstatierte er grØnen Star, wo harmlose SehstÃrungen vorlagen, nur um zu einer Operation zu kommen, die ihm keine MØhe machte und viel Geld eintrug.
          Da endlich hatte er vollkommen Wehrlose in der Hand; da gehÃrte zum AusplØndern auch keine Spur von Mut mehr!
          Sehen Sie, Meister Pernath, da war das degenerierte Raubtier in jene Lebensbedingungen versetzt, wo es auch ohne Waffe und Kraft seine Opfer zerfleischen konnte.
          Ohne etwas aufs Spiel zu setzen! - Begreifen Sie?! Ohne das geringste wagen zu mØssen!
          Durch eine Menge fauler VerÃffentlichungen in FachblÄttern hatte sich Dr. Wassory in den Ruf eines hervorragenden Spezialisten zu setzen verstanden und sogar seinen Kollegen, die viel zu arglos und anstÄndig waren, um ihn zu durchschauen, Sand in die Augen zu streuen gewuñt.
          Ein Strom von Patienten, die alle bei ihm Hilfe suchten, war die natØrliche Folge.
          Kam nun jemand mit geringfØgigen SehstÃrungen zu ihm und lieñ sich untersuchen, so ging Dr. Wassory sofort mit tØckischer PlanmÄñigkeit zu Werke.
          Zuerst stellte er das Øbliche KrankenverhÃr an, notierte aber geschickt immer nur, um fØr alle FÄlle gedeckt zu sein, jene Antworten, die eine Deutung auf grØnen Star zulieñen.
          Und vorsichtig sondierte er, ob nicht schon eine frØhere Diagnose vorlÄge.
          GesprÄchsweise lieñ er einflieñen, dañ ein dringender Ruf aus dem Auslande behufs wichtiger wissenschaftlicher Mañnahmen an ihn ergangen sei und er daher schon morgen verreisen mØsse. -
          Bei der Augenspiegelung mit elektrischen Lichtstrahlen, die er sodann vornahm, bereitete er dem Kranken absichtlich so viel Schmerzen wie mÃglich.
          Alles mit Vorbedacht! Alles mit Vorbedacht!
          Wenn das VerhÃr vorØber und die Øbliche bange Frage des Patienten, ob Grund zur BefØrchtung vorhanden sei, erfolgt war, da tat Wassory seinen ersten Schachzug.
          Er setzte sich dem Kranken gegenØber, lieñ eine Minute verstreichen und sprach dann gemessen und mit sonorer Stimme den Satz:
          "Erblindung beider Augen ist bereits in der allernÄchsten Zeit wohl unvermeidlich!"
          0x01 graphic

          Die Szene, die naturgemÄñ folgte, war entsetzlich.
          Oft fielen die Leute in Ohnmacht, weinten und schrien und warfen sich in wilder Verzweiflung zu Boden.
          Das Augenlicht verlieren, heiñt alles verlieren.
          Und wenn der wiederum Øbliche Moment eintrat, wo das arme Opfer die Knie Dr. Wassorys umklammerte und flehte, ob es denn auf Gottes Erde gar keine Hilfe mehr gÄbe, da tat die Bestie den zweiten Schachzug und verwandelte sich selbst in jenen - Gott, der helfen konnte!
          Alles, alles in der Welt ist wie ein Schachzug, Meister Pernath! -
          Schleunigste Operation, sagte Dr. Wassory dann nachdenklich, sei das einzige, was vielleicht Rettung bringen kÃnne, und mit einer wilden, gierigen Eitelkeit, die plÃtzlich Øber ihn kam, erging er sich mit einem Redeschwall in weitschweifigem Ausmalen dieses und jenes Falles, die alle mit dem vorliegenden eine ungemein groñe ähnlichkeit gehabt hÄtten, - wie unzÄhlige Kranke ihm allein die Erhaltung des Augenlichts verdankten und dergleichen mehr.
          Er schwelgte fÃrmlich in dem GefØhl, fØr eine Art hÃheren Wesens gehalten zu werden, in dessen HÄnde das Wohl und Wehe seines Mitmenschen gelegt ist.
          Das hilflose Opfer aber sañ, das Herz voll brennender Fragen, gebrochen vor ihm, Angstschweiñ auf der Stirne, und wagte ihm nicht einmal in die Rede zu fallen, aus Furcht: ihn - den einzigen, der noch Hilfe bringen konnte - zu erzØrnen.
          Und mit den Worten, dañ er zur Operation leider erst in einigen Monaten schreiten kÃnne, wenn er von seiner Reise wieder zurØck sei, schloñ Dr. Wassory seine Rede.
          Hoffentlich - man solle in solchen FÄllen immer das Beste hoffen - sei es dann nicht zu spÄt, sagte er.
          NatØrlich sprangen dann die Kranken entsetzt auf, erklÄrten, dañ sie unter gar keinen UmstÄnden auch nur einen Tag lÄnger warten wollten, und baten flehentlich um Rat, wer von den andern AugenÄrzten in der Stadt sonst wohl als Operateur in Betracht kommen kÃnnte.
          Da war der Augenblick gekommen, wo Dr. Wassory den entscheidenden Schlag fØhrte.
          Er ging in tiefem Nachdenken auf und ab, legte seine Stirn in Falten des Grams und lispelte schlieñlich bekØmmert, ein Eingriff seitens eines andern Arztes bedinge leider eine abermalige Bespiegelung des Auges mit elektrischem Licht, und das mØsse - der Patient wisse ja selbst, wie schmerzhaft es sei - wegen der blendenden Strahlen geradezu verhÄngnisvoll wirken.
          Ein andrer Arzt also, ganz abgesehen davon, dañ so manchem von ihnen gerade in der Iridektomie die nÃtige øbung fehle - dØrfe, eben weil er wiederum von neuem untersuchen mØsse, gar nicht vor Ablauf lÄngerer Zeit, bis sich die Sehnerven wieder erholt hÄtten, zu einem chirurgischen Eingriff schreiten."
          Charousek ballte die FÄuste.
          "Das nennen wir in der Schachsprache 'Zugzwang', lieber Meister Pernath! - - Was weiter folgte, war wiederum Zugzwang, - ein erzwungener Zug nach dem andern.
          Halb wahnsinnig vor Verzweiflung beschwor nun der Patient den Dr. Wassory, er mÃge doch Erbarmen haben, einen Tag nur seine Abreise verschieben und die Operation selber vornehmen. - Es handle sich doch um mehr als um schnellen Tod, die grauenhafte, folternde Angst, jeden Augenblick erblinden zu mØssen, sei ja das Schrecklichste, was es geben kÃnne.
          Und je mehr das Scheusal sich strÄubte und jammerte: ein Aufschub seiner Reise kÃnne ihm unabsehbaren Schaden bringen, desto hÃhere Summen boten freiwillig die Kranken.
          Schien schlieñlich die Summe Dr. Wassory hoch genug, gab er nach und fØgte bereits am selben Tage, ehe noch ein Zufall seinen Plan aufdecken konnte, den Bedauernswerten an beiden gesunden Augen jenen unheilbaren Schaden zu, jenes immerwÄhrende GefØhl des Geblendetseins, das das Leben zu stetiger Qual gestalten muñte, die Spuren des Schurkenstreiches aber ein fØr allemal verwischte.
          Durch solche Operationen an gesunden Augen vermehrte Dr. Wassory nicht nur seinen Ruhm und seinen Ruf als unvergleichlicher Arzt, dem es noch jedesmal gelungen sei, die drohende Erblindung aufzuhalten, - es befriedigte gleichzeitig seine mañlose Geldgier und frÃnte seiner Eitelkeit, wenn die ahnungslosen, an KÃrper und VermÃgen geschÄdigten Opfer zu ihm wie zu einem Helfer aufsahen und ihn als Retter priesen.
          Nur ein Mensch, der mit allen Fasern im Getto und seinen zahllosen, unscheinbaren, jedoch unØberwindlichen Hilfsquellen wurzelte und von Kindheit an gelernt hat, auf der Lauer zu liegen wie eine Spinne, der jeden Menschen in der Stadt kannte und bis ins kleinste seine Beziehungen und VermÃgensverhÄltnisse erriet und durchschaute, - nur ein solcher - "Halbhellseher" mÃchte man es beinahe nennen, - konnte jahrelang derartige Scheuñlichkeiten verØben.
          Und wÄre ich nicht gewesen, bis heute triebe er sein Handwerk noch, wØrde es bis ins hohe Alter weiterbetrieben haben, um schlieñlich als ehrwØrdiger Patriarch im Kreise seiner Lieben, angetan mit hohen Ehren, kØnftigen Geschlechtern ein leuchtendes Vorbild, seinen Lebensabend zu genieñen, bis - bis endlich auch Øber ihn das groñe Verrecken hinweggezogen wÄre.
          Ich aber wuchs ebenfalls im Getto auf, und auch mein Blut ist mit jener AtmosphÄre hÃllischer List gesÄttigt, und so vermochte ich ihn zu Fall zu bringen, - so wie die Unsichtbaren einen Menschen zu Fall bringen, - wie aus heiterm Himmel heraus ein Blitz trifft.
          Dr. Savioli, ein junger deutscher Arzt, hat das Verdienst der Entlarvung, - ihn schob ich vor und hÄufte Beweis auf Beweis, bis der Tag anbrach, wo der Staatsanwalt seine Hand nach Dr. Wassory ausstreckte.
          Da beging die Bestie Selbstmord! - Gesegnet sei die Stunde!
          Als hÄtte mein DoppelgÄnger neben ihm gestanden und ihm die Hand gefØhrt, nahm er sich das Leben mit jener Phiole Amylnitrit, die ich absichtlich in seinem Ordinationszimmer bei der Gelegenheit hatte stehenlassen, als ich selbst ihn einmal verleitet, auch an mir die falsche Diagnose des grØnen Stars zu stellen, - absichtlich und mit dem glØhenden Wunsche, dañ es dieses Amylnitrit sein mÃchte, das ihm den letzten Stoñ geben sollte.
          Der Gehirnschlag hÄtte ihn getroffen, hieñ es in der Stadt.
          Amylnitrit tÃtet, eingeatmet, wie Gehirnschlag. Aber lange konnte das GerØcht nicht aufrechterhalten werden."
          0x01 graphic

          Charousek starrte plÃtzlich geistesabwesend, als habe er sich in ein tiefes Problem verloren, vor sich hin, dann zuckte er mit der Achsel nach der Richtung, wo Aaron Wassertrums TrÃdlerladen lag.
          "Jetzt ist er allein," murmelte er, "ganz allein mit seiner Gier und - und - und mit der Wachspuppe!"
          0x01 graphic

          Mir schlug das Herz bis zum Hals.
          Ich sah Charousek voll Entsetzen an.
          War er wahnsinnig? Es muñten Fieberphantasien sein, die ihn diese Dinge erfinden lieñen.
          Gewiñ, gewiñ! Er hat alles erfunden, getrÄumt!
          Es kann nicht wahr sein, was er da Øber den Augenarzt Grauenhaftes erzÄhlt hat. Er ist schwindsØchtig, und die Fieber des Todes kreisen in seinem Hirn.
          Und ich wollte ihn mit ein paar scherzenden Worten beruhigen, seine Gedanken in eine freundliche Richtung lenken.
          Da fuhr, noch ehe ich die Worte fand, wie ein Blitz in meine Erinnerung das Gesicht Wassertrums mit der gespaltenen Oberlippe, wie es damals in mein Zimmer mit runden Fischaugen durch die aufgerissene TØr hereingeschaut hatte.
          Dr. Savioli! Dr. Savioli! - ja, ja, so war auch der Name des jungen Mannes gewesen, den mir der Marionettenspieler Zwakh flØsternd anvertraut als den des vornehmen Zimmerherrn, der von ihm das Atelier gemietet hatte.
          Dr. Savioli! - Wie ein Schrei tauchte es in meinem Innern auf. Eine Reihe nebelhafter Bilder zuckte durch meinen Geist, jagte sich mit schreckhaften Vermutungen, die auf mich einstØrmten.
          Ich wollte Charousek fragen, ihm voll Angst rasch alles erzÄhlen, was ich damals erlebt, da sah ich, dañ ein heftiger Hustenanfall sich seiner bemÄchtigt hatte und ihn fast umwarf. Ich konnte nur noch unterscheiden, wie er sich mØhsam mit den HÄnden an der Mauer stØtzend in den Regen hinaustappte und mir einen flØchtigen Gruñ zunickte.
          Ja, ja, er hat recht, er sprach nicht im Fieber, - fØhlte ich, - das unfañbare Gespenst des Verbrechens ist es, das durch diese Gassen schleicht Tag und Nacht und sich zu verkÃrpern sucht.
          Es liegt in der Luft, und wir sehen es nicht. PlÃtzlich schlÄgt es sich nieder in einer Menschenseele, - wir ahnen es nicht, - da, dort, und ehe wir es fassen kÃnnen, ist es gestaltlos geworden und alles lÄngst vorØber.
          Und nur noch dunkle Worte Øber irgendein entsetzliches Geschehnis kommen an uns heran.
          Mit einem Schlage begriff ich diese rÄtselhaften GeschÃpfe, die rings um mich wohnten, in ihrem innersten Wesen: sie treiben willenlos durchs Dasein von einem unsichtbaren magnetischen Strom belebt - - so, wie vorhin das Brautbukett in dem schmutzigen Rinnsal vorØberschwamm.
          Mir war, als starrten die HÄuser alle mit tØckischen Gesichtern voll namenloser Bosheit auf mich herØber, - die Tore: aufgerissene schwarze MÄuler, aus denen die Zungen ausgefault waren, - Rachen, die jeden Augenblick einen gellenden Schrei ausstoñen konnten, so gellend und hañerfØllt, dañ es uns bis ins Innerste erschrecken mØñte.
          Was hatte zum Schluñ noch der Student Øber den TrÃdler gesagt? - Ich flØsterte mir seine Worte vor: - Aaron Wassertrum sei jetzt allein mit seiner Gier und - - seiner Wachspuppe.
          Was kann er nur mit der Wachspuppe gemeint haben?
          Es muñ ein Gleichnis gewesen sein, beschwichtigte ich mich, - eines jener krankhaften Gleichnisse, mit denen er einen zu Øberfallen pflegt, die man nicht versteht, und die einen, wenn sie spÄter unerwartet sichtbar werden, so tieferschrecken kÃnnen wie die Dinge von ungewohnter Form, auf die plÃtzlich ein greller Lichtstreif fÄllt.
          Ich holte tief Atem, um mich zu beruhigen und den furchtbaren Eindruck, den mir Charouseks ErzÄhlung verursacht hatte, abzuschØtteln.
          Ich sah die Leute genauer an, die mit mir in dem Hausflur warteten: Neben mir stand jetzt der dicke Alte. Derselbe, der vorhin so widerlich gelacht hatte.
          Er hatte einen schwarzen Gehrock an und Handschuhe und starrte mit vorquellenden Augen unverwandt auf den Torbogen des Hauses gegenØber.
          Sein glattrasiertes Gesicht mit den breiten, gemeinen ZØgen zuckte vor Erregung.
          UnwillkØrlich folgte ich seinen Blicken und bemerkte, dañ sie wie gebannt an der rothaarigen Rosina hingen, die drØben jenseits der Gasse stand, ihr immerwÄhrendes LÄcheln um die Lippen.
          Der Alte war bemØht, ihr Zeichen zu geben, und ich sah, dañ sie es wohl wuñte, aber sich benahm, als verstØnde sie nicht.
          Endlich hielt es der Alte nicht lÄnger aus, watete auf den Fuñspitzen hinØber und hØpfte mit lÄcherlicher ElastizitÄt wie ein groñer schwarzer Gummiball Øber die PfØtzen.
          Man schien ihn zu kennen, denn ich hÃrte allerhand Glossen fallen, die darauf hinzielten. Ein Strolch hinter mir, ein rotes, gestricktes Tuch um den Hals, mit blauer MilitÄrmØtze, die Virginia hinter dem Ohr, machte mit grinsendem Mund Anspielungen, die ich nicht verstand.
          Ich begriff nur, dañ sie den Alten in der Judenstadt den "Freimaurer" nannten und in ihrer Sprache mit diesem Spitznamen jemand bezeichnen wollten, der sich an halbwØchsigen MÄdchen zu vergehen pflegt, aber durch intime Beziehungen zur Polizei vor jeder Strafe sicher ist. - - -
          Dann waren das Gesicht Rosinas und der Alte drØben im Dunkel des Hausflures verschwunden.

    Punsch


          Wir hatten das Fenster geÃffnet, um den Tabakrauch aus meinem kleinen Zimmer strÃmen zu lassen.
          Der kalte Nachtwind blies herein und wehte an die zottigen MÄntel, die an der TØre hingen, dañ sie leise hin und her schwankten.
          "Prokops wØrdige Haupteszierde mÃchte am liebsten davonfliegen", sagte Zwakh und deutete auf des Musikers groñen Schlapphut, der die breite Krempe bewegte wie schwarze FlØgel.
          Josua Prokop zwinkerte lustig mit den Augenlidern.
          "Er will," sagte er, "er will wahrscheinlich - - -"
          "Er will zum 'Loisitschek' zur Tanzmusik", nahm ihm Vrieslander das Wort vorweg.
          Prokop lachte und schlug mit der Hand den Takt zu den KlÄngen, die die dØnne Winterluft her Øber die DÄcher trug.
          Dann nahm er meine alte, zerbrochene Gitarre von der Wand, tat, als zupfe er die zerbrochenen Saiten und sang mit kreischendem Falsett und gespreizter Betonung in Rotwelsch ein wunderliches Lied:
          "An Bein-del von Ei-sen
          recht alt
          "An Stran-zen net gar
          a so kalt
          "Messinung, a' RÄucherl
          und Rohn
          "und immerrr nurr putz-en - - -
          0x01 graphic

          "Wie groñartig er mit einem Mal die Gaunersprache beherrscht!" und Vrieslander lachte laut auf und brummte mit:
          "Und stok-en sich Aufzug
          und Pfiff
          "Und schmallern an eisernes
          G'sØff.
          "Juch, -
          "Und Handschuhkren, Harom net san - -
          0x01 graphic

          "Dieses kuriose Lied schnarrt jeden Abend beim 'Loisitschek' der meschuggene Nephtali Schaffranek mit dem grØnen Augenschirm, und ein geschminktes Weibsbild spielt Harmonika und grÃlt den Text dazu", erklÄrte mir Zwakh. "Sie sollten auch einmal mit uns in diese Schenke gehen, Meister Pernath. SpÄter vielleicht, wenn wir mit dem Punsch zu Ende sind, - was meinen Sie? Zur Feier Ihres heutigen Geburtstages?"
          "Ja, ja, kommen Sie nachher mit uns", sagte Prokop und klinkte das Fenster zu, - "man muñ so etwas gesehen haben."
          Dann tranken wir den heiñen Punsch und hingen unsern Gedanken nach.
          Vrieslander schnitzte an einer Marionette.
          "Sie haben uns fÃrmlich von der Auñenwelt abgeschnitten, Josua," unterbrach Zwakh die Stille, "seit Sie das Fenster geschlossen haben, hat niemand mehr ein Wort gesprochen."
          "Ich dachte nur darØber nach, als vorhin die MÄntel so flogen, wie seltsam es ist, wenn der Wind leblose Dinge bewegt," antwortete Prokop schnell, wie um sich wegen seines Schweigens zu entschuldigen: "Es sieht gar so wunderlich aus, wenn GegenstÄnde plÃtzlich zu flattern anheben, die sonst immer tot daliegen. Nicht? - Ich sah einmal auf einem menschenleeren Platz zu, wie groñe Papierfetzen, - ohne dañ ich vom Winde etwas spØrte, denn ich stand durch ein Haus gedeckt, - in toller Wut im Kreise herumjagten und einander verfolgten, als hÄtten sie sich den Tod geschworen. Einen Augenblick spÄter schienen sie sich beruhigt zu haben, aber plÃtzlich kam wieder eine wahnwitzige Erbitterung Øber sie, und in sinnlosem Grimm rasten sie umher, drÄngten sich in einen Winkel zusammen, um von neuem besessen auseinander zu stieben und schlieñlich hinter einer Ecke zu verschwinden.
          Nur eine dicke Zeitung konnte nicht mitkommen; sie blieb auf dem Pflaster liegen und klappte hañerfØllt auf und zu, als sei ihr der Atem ausgegangen und als schnappe sie nach Luft.
          Ein dunkler Verdacht stieg damals in mir auf: was, wenn am Ende wir Lebewesen auch so etwas ähnliches wÄren wie solche Papierfetzen? - Ob nicht vielleicht ein unsichtbarer, unbegreiflicher "Wind" auch uns hin und her treibt und unsre Handlungen bestimmt, wÄhrend wir in unserer Einfalt glauben unter eigenem, freiem Willen zu stehen?
          Wie, wenn das Leben in uns nichts anderes wÄre als ein rÄtselhafter Wirbelwind? Jener Wind, von dem die Bibel sagt: Weiñt du, von wannen er kommt und wohin er geht? - - - TrÄumen wir nicht auch zuweilen, wir griffen in tiefes Wasser und fingen silberne Fische, und nichts anderes ist geschehen, als dañ ein kalter Luftzug unsere HÄnde traf?"
          "Prokop, Sie sprechen in Worten wie Pernath, was ist's mit Ihnen?" sagte Zwakh und sah den Musiker miñtrauisch an.
          "Die Geschichte vom Buch Ibbur, die vorhin erzÄhlt wurde, - schade, dañ Sie so spÄt kamen und sie nicht mit anhÃrten, - hat ihn so nachdenklich gestimmt", meinte Vrieslander.
          "Eine Geschichte von einem Buche?"
          "Eigentlich von einem Menschen, der ein Buch brachte und seltsam aussah. - Pernath weiñ nicht, wie er heiñt, wo er wohnt, was er wollte, und obwohl sein Aussehen sehr auffallend gewesen sein soll, lasse es sich doch nicht recht schildern."
          Zwakh horchte auf.
          *"Das ist sehr merkwØrdig," sagte er nach einer Pause, "war der Fremde vielleicht bartlos, und hatte er schrÄgstehende Augen?"
          "Ich glaube," antwortete ich, "das heiñt, ich - ich - weiñ es ganz bestimmt. Kennen Sie ihn denn?"
          Der Marionettenspieler schØttelte den Kopf. "Er erinnerte mich nur an den 'Golem'."
          Der Maler Vrieslander lieñ sein Schnitzmesser sinken:
          "Golem? - Ich habe schon so viel davon reden hÃren. Wissen Sie etwas Øber den Golem, Zwakh?"
          "Wer kann sagen, dañ er Øber den Golem etwas wisse?", antwortete Zwakh und zuckte die Achseln. "Man verweist ihn ins Reich der Sage, bis sich eines Tages in den Gassen ein Ereignis vollzieht, das ihn plÃtzlich wieder aufleben lÄñt. Und eine Zeitlang spricht dann jeder von ihm, und die GerØchte wachsen ins Ungeheuerliche. Werden so Øbertrieben und aufgebauscht, dañ sie schlieñlich an der eigenen UnglaubwØrdigkeit zugrunde gehen. Der Ursprung der Geschichte reicht wohl ins siebzehnte Jahrhundert zurØck, sagt man. Nach verlorengegangenen Vorschriften der Kabbala soll ein Rabbiner da einen kØnstlichen Menschen - den sogenannten Golem - verfertigt haben, damit er ihm als Diener helfe die Glocken in der Synagoge lÄuten, und allerhand grobe Arbeit tue.
          Es sei aber doch kein richtiger Mensch daraus geworden und nur ein dumpfes, halbbewuñtes Vegetieren habe ihn belebt. Wie es heiñt, auch das nur tagsØber und kraft des Einflusses eines magischen Zettels, der ihm hinter den ZÄhnen stak und die freien siderischen KrÄfte des Weltalls herabzog.
          Und als eines Abends vor dem Nachtgebet der Rabbiner das Siegel aus dem Munde des Golem zu nehmen versÄumt, da wÄre dieser in Tobsucht verfallen, in der Dunkelheit durch die Gassen gerast und hÄtte zerschlagen, was ihm in den Weg gekommen.
          Bis der Rabbi sich ihm entgegengeworfen und den Zettel vernichtet habe.
          Und da sei das GeschÃpf leblos niedergestØrzt. Nichts blieb von ihm Øbrig als die zwerghafte Lehmfigur, die heute noch drØben in der Altneusynagoge gezeigt wird."
          "Derselbe Rabbiner soll einmal auch zum Kaiser auf die Burg berufen worden sein und die Schemen der Toten beschworen und sichtbar gemacht haben," warf Prokop ein, "moderne Forscher behaupten, er habe sich dazu einer Laterna magica bedient."
          "Jawohl, keine ErklÄrung ist abgeschmackt genug, dañ sie bei den Heutigen nicht Beifall fÄnde," fuhr Zwakh unbeirrt fort. - "Eine Laterna magica!! Als ob Kaiser Rudolf, der sein ganzes Leben solchen Dingen nachging, einen so plumpen Schwindel nicht auf den ersten Blick hÄtte durchschauen mØssen!
          Ich kann freilich nicht wissen, worauf sich die Golemsage zurØckfØhren lÄñt, dañ aber irgend etwas, was nicht sterben kann, in diesem Stadtviertel sein Wesen treibt und damit zusammenhÄngt, dessen bin ich sicher. Von Geschlecht zu Geschlecht haben meine Vorfahren hier gewohnt, und niemand kann wohl auf mehr erlebte und ererbte Erinnerungen an das periodische Auftauchen des Golem zurØckblicken als gerade ich!"
          Zwakh hatte plÃtzlich aufgehÃrt zu reden, und man fØhlte mit ihm, wie seine Gedanken in vergangene Zeiten zurØckwanderten.
          Wie er, den Kopf aufgestØtzt, dort am Tische sañ und beim Scheine der Lampe seine roten, jugendlichen BÄckchen fremdartig von dem weiñen Haar abstachen, verglich ich unwillkØrlich im Geiste seine ZØge mit den maskenhaften Gesichtern seiner Marionetten, die er mir so oft gezeigt.
          Seltsam, wie Ähnlich ihnen der alte Mann doch sah!
          Derselbe Ausdruck und derselbe Gesichtsschnitt!
          Manche Dinge der Erde kÃnnen nicht loskommen voneinander, fØhlte ich, und wie ich Zwakhs einfaches Schicksal an mir vorØberziehen lieñ, da schien es mir mit einemmal gespenstisch und ungeheuerlich, dañ ein Mensch wie er, obschon er eine bessere Erziehung als seine Vorfahren genossen hatte und Schauspieler hÄtte werden sollen, plÃtzlich wieder zu dem schÄbigen Marionettenkasten zurØckkehren konnte, um nun abermals auf die JahrmÄrkte zu ziehen und dieselben Puppen, die schon seiner VorvÄter kØmmerliches Erwerbsmittel gewesen, von neuem ihre ungelenken Verbeugungen machen und schlÄfrigen Erlebnisse vorfØhren zu lassen.
          Er vermag es nicht, sich von ihnen zu trennen, begriff ich; sie leben mit von seinem Leben, und als er fern von ihnen war, da haben sie sich in Gedanken verwandelt, haben in seinem Hirn gewohnt und ihn rast- und ruhelos gemacht, bis er wieder heimkehrte. Darum hÄlt er sie jetzt so liebevoll und kleidet sie stolz in Flitter.
          "Zwakh, wollen Sie uns nicht weitererzÄhlen?" forderte Prokop den Alten auf und sah fragend nach Vrieslander und mir hin, ob auch wir gleichen Wunsches seien.
          "Ich weiñ nicht, wo ich anfangen soll," meinte der Alte zÃgernd, "die Geschichte mit dem Golem lÄñt sich schwer fassen. So wie Pernath vorhin sagte: er wisse genau, wie jener Unbekannte ausgesehen habe, und doch kÃnne er ihn nicht schildern. UngefÄhr alle dreiunddreiñig Jahre wiederholt sich ein Ereignis in unsern Gassen, das gar nichts besonders Aufregendes an sich trÄgt und dennoch ein Entsetzen verbreitet, fØr das weder eine ErklÄrung noch eine Rechtfertigung ausreicht:
          Immer wieder begibt es sich nÄmlich, dañ ein vollkommen fremder Mensch, bartlos, von gelber Gesichtsfarbe und mongolischem Typus, aus der Richtung der Altschulgasse her, in altmodische, verschossene Kleider gehØllt, gleichmÄñigen und eigentØmlich stolpernden Ganges, so, als wolle er jeden Augenblick vornØber fallen, durch die Judenstadt schreitet und plÃtzlich - unsichtbar wird.
          GewÃhnlich biegt er in eine Gasse und ist dann verschwunden.
          Ein andermal heiñt es, er habe auf seinem Wege einen Kreis beschrieben und sei zu dem Punkte zurØckgekehrt, von dem er ausgegangen: einem uralten Hause in der NÄhe der Synagoge.
          Einige Aufgeregte wiederum behaupten, sie hÄtten ihn um eine Ecke auf sich zukommen sehen. Wiewohl er ihnen aber ganz deutlich entgegengeschritten, sei er dennoch, genau wie jemand, dessen Gestalt sich in weiter Ferne verliert, immer kleiner und kleiner geworden und - schlieñlich ganz verschwunden.
          Vor Sechsundsechzig Jahren nun muñ der Eindruck, den er hervorgebracht, besonders tief gegangen sein, denn ich erinnere mich - ich war noch ein ganz kleiner Junge -, dañ man das GebÄude in der Altschulgasse damals von oben bis unten durchsuchte.
          Es wurde auch festgestellt, dañ wirklich in diesem Hause ein Zimmer mit Gitterfenster vorhanden ist, zu dem es keinen Zugang gibt.
          Aus allen Fenstern hatte man WÄsche gehÄngt, um von der Gasse aus einen Augenschein zu gewinnen, und war auf diese Weise der Tatsache auf die Spur gekommen.
          Da es anders nicht zu erreichen gewesen, hatte sich ein Mann an einem Strick vom Dache herabgelassen, um hineinzusehen. Kaum aber war er in die NÄhe des Fensters gelangt, da riñ das Seil, und der UnglØckliche zerschmetterte sich auf dem Pflaster den SchÄdel. Und als spÄter der Versuch nochmals wiederholt werden sollte, gingen die Ansichten Øber die Lage des Fensters derart auseinander, dañ man davon abstand.
          Ich selber begegnete dem 'Golem' das erste Mal in meinem Leben vor ungefÄhr dreiunddreiñig Jahren.
          Er kam in einem sogenannten Durchhause auf mich zu, und wir rannten fast aneinander.
          Es ist mir heute noch unbegreiflich, was damals in mir vorgegangen sein muñ. Man trÄgt doch um Gottes willen nicht immerwÄhrend, tagaus tagein die Erwartung mit sich herum, man werde dem Golem begegnen.
          In jenem Augenblick aber, bestimmt - ganz bestimmt, noch ehe ich seiner ansichtig werden konnte, schrie etwas in mir gellend auf: der Golem! Und im selben Moment stolperte jemand aus dem Dunkel des Torflures hervor, und jener Unbekannte ging an mir vorØber. Eine Sekunde spÄter drang eine Flut bleicher, aufgeregter Gesichter mir entgegen, die mich mit Fragen bestØrmten, ob ich ihn gesehen hÄtte.
          Und als ich antwortete, da fØhlte ich, dañ sich meine Zunge wie aus einem Krampfe lÃste, von dem ich vorher nichts gespØrt hatte.
          Ich war fÃrmlich Øberrascht, dañ ich mich bewegen konnte, und deutlich kam mir zum Bewuñtsein, dañ ich mich, wenn auch nur den Bruchteil eines Herzschlags lang - in einer Art Starrkrampf befunden haben muñte.
          øber all das habe ich oft und lange nachgedacht, und mich dØnkt, ich komme der Wahrheit am nÄchsten, wenn ich sage: Immer einmal in der Zeit eines Menschenalters geht blitzschnell eine geistige Epidemie durch die Judenstadt, befÄllt die Seelen der Lebenden zu irgendeinem Zweck, der uns verhØllt bleibt, und lÄñt wie eine Luftspiegelung die Umrisse eines charakteristischen Wesens erstehen, das vielleicht vorjahrhunderten hier gelebt hat und nach Form und Gestaltung dØrstet.
          Vielleicht ist es mitten unter uns, Stunde fØr Stunde, und wir nehmen es nicht wahr. HÃren wir doch auch den Ton einer schwirrenden Stimmgabel nicht, bevor sie das Holz berØhrt und es mitschwingen macht.
          Vielleicht ist es nur so etwas wie ein seelisches Kunstwerk, ohne innewohnendes Bewuñtsein, - ein Kunstwerk, das entsteht, wie ein Kristall nach stets sich gleichbleibendem Gesetz aus dem Gestaltlosen herauswÄchst.
          Wer weiñ das?
          Wie in schwØlen Tagen die elektrische Spannung sich bis zur UnertrÄglichkeit steigert und endlich den Blitz gebiert, kÃnnte es da nicht sein, dañ auch auf die stetige AnhÄufung jener niemals wechselnden Gedanken, die hier im Getto die Luft vergiften, eine plÃtzliche, ruckweise Entladung folgen muñ? - eine seelische Explosion, die unser Traumbewuñtsein ans Tageslicht peitscht, um - dort den Blitz der Natur - hier ein Gespenst zu schaffen, das in Mienen, Gang und Gehaben, in allem und jedem das Symbol der Massenseele unfehlbar offenbaren mØñte, wenn man die geheime Sprache der Formen nur richtig zu deuten verstØnde?
          Und wie mancherlei Erscheinungen das Einschlagen des Blitzes ankØnden, so verraten auch hier gewisse grauenhafte Vorzeichen das drohende Hereinbrechen jenes Phantoms ins Reich der Tat. Der abblÄtternde Bewurf einer alten Mauer nimmt eine Gestalt an, die einem schreitenden Menschen gleicht; und in Eisblumen am Fenster bilden sich ZØge starrer Gesichter. Der Sand vom Dache scheint anders zu fallen als sonst und drÄngt dem argwÃhnischen Beobachter den Verdacht auf, eine unsichtbare Intelligenz, die sich lichtscheu verborgen hÄlt, werfe ihn herab und Øbe sich in heimlichen Versuchen, allerlei seltsame Umrisse hervorzubringen. - Ruht das Auge auf eintÃnigem Geflecht oder den Unebenheiten der Haut, bemÄchtigt sich unser die unerfreuliche Gabe, Øberall mahnende, bedeutsame Formen zu sehen, die in unsern TrÄumen ins Riesengroñe auswachsen. Und immer zieht sich durch solche schemenhaften Versuche der angesammelten Gedankenherden, die WÄlle der AlltÄglichkeit zu durchnagen, fØr uns wie ein roter Faden die qualvolle Gewiñheit, dañ unser eigenstes Inneres mit Vorbedacht und gegen unsern Willen ausgesogen wird, nur damit die Gestalt des Phantoms plastisch werden kÃnne.
          Wie ich nun vorhin Pernath bestÄtigen hÃrte, dañ ihm ein Mensch begegnet sei, bartlos, mit schiefgestellten Augen, da stand der "Golem" vor mir, wie ich ihn damals gesehen.
          Wie aus dem Boden gewachsen stand er vor mir.
          Und eine gewisse dumpfe Furcht, es stehe wieder etwas UnerklÄrliches nahe bevor, befiel mich einen Augenblick lang; dieselbe Angst, die ich schon einmal in meinen Kinderjahren verspØrt, als die ersten spukhaften äuñerungen des Golem ihre Schatten vorauswarfen.
          Sechsundsechzig Jahre ist das wohl jetzt her und knØpft sich an einen Abend, an dem der BrÄutigam meiner Schwester zu Besuch gekommen war, und in der Familie der Tag der Hochzeit festgesetzt werden sollte.
          Es wurde damals Blei gegossen - zum Scherz - und ich stand mit offenem Munde dabei und begriff nicht, was das zu bedeuten habe, - in meiner wirren, kindlichen Vorstellung brachte ich es in Zusammenhang mit dem Golem, von dem ich meinen Groñvater oft hatte erzÄhlen hÃren, und bildete mir ein, jeden Augenblick mØsse die TØr aufgehen und der Unbekannte eintreten.
          Meine Schwester leerte dann den LÃffel mit dem flØssigen Metall in das Wasserschaff und lachte mich, der ich aufgeregt zusah, lustig an.
          Mit welken, zitternden HÄnden holte mein Groñvater den blitzenden Bleiklumpen heraus und hielt ihn ans Licht. Gleich darauf entstand eine allgemeine Erregung. Man redete laut durcheinander; ich wollte mich hinzudrÄngen, aber man wehrte mich ab.
          SpÄter, als ich Älter geworden, erzÄhlte mir mein Vater, es wÄre damals das geschmolzene Metall zu einem kleinen, ganz deutlichen Kopf erstarrt gewesen, - glatt und rund, wie nach einer Form gegossen, und von unheimlicher ähnlichkeit mit den ZØgen des "Golem", dañ sich alle entsetzt hÄtten.
          Oft sprach ich mit dem Archivar Schemajah Hillel, der die Requisiten der Altneusynagoge in Verwahrung hat und auch die gewisse Lehmfigur aus Kaiser Rudolfs Zeiten, darØber. Er hat sich mit Kabbala befañt und meint, jener Erdklumpen mit den menschlichen Gliedmañen sei vielleicht nichts anderes als ein ehemaliges Vorzeichen, ganz so wie in meinem Fall der bleierne Kopf. Und der Unbekannte, der da umgehe, mØsse das Phantasie- oder Gedankenbild sein, das jener mittelalterliche Rabbiner zuerst lebendig gedacht habe, ehe er es mit Materie bekleiden konnte, und das nun in regelmÄñigen Zeitabschnitten, bei den gleichen astrologischen Sternstellungen, unter denen es erschaffen worden - wiederkehre, vom Triebe nach stofflichem Leben gequÄlt.
          Auch Hillels verstorbene Frau hatte den "Golem" von Angesicht zu Angesicht erblickt und ebenso wie ich gefØhlt, dañ man sich im Starrkrampf befindet, solange das rÄtselhafte Wesen in der NÄhe weilt.
          Sie sagte, sie sei felsenfest Øberzeugt gewesen, dañ es damals nur ihre eigene Seele habe sein kÃnnen, die - aus dem KÃrper getreten - ihr einen Augenblick gegenØbergestanden und mit den ZØgen eines fremden GeschÃpfes ins Gesicht gestarrt hÄtte.
          Trotz eines furchtbaren Grauens, das sich ihrer damals bemÄchtigt, habe sie doch keine Sekunde die Gewiñheit verlassen, dañ jener andere nur ein StØck ihres eignen Innern sein konnte." -
          0x01 graphic

          "Es ist unglaublich", murmelte Prokop in Gedanken verloren.
          Auch der Maler Vrieslander schien ganz in GrØbeln versunken.
          Da klopfte es an die TØre und das alte Weib, das mir des Abends Wasser bringt und was ich sonst noch nÃtig habe, trat ein, stellte den tÃnernen Krug auf den Boden und ging stillschweigend wieder hinaus.
          Wir alle hatten aufgeblickt und sahen wie erwacht im Zimmer umher, aber noch lange Zeit sprach niemand ein Wort.
          Als sei ein neuer Einfluñ mit der Alten zur TØr hereingeschlØpft, an den man sich erst gewÃhnen muñte.
          "Ja! Die rothaarige Rosina, das ist auch so ein Gesicht, das man nicht loswerden kann und aus den Winkeln und Ecken immer wieder auftauchen sieht", sagte plÃtzlich Zwakh ganz unvermittelt. "Dieses erstarrte, grinsende LÄcheln kenne ich nun schon ein ganzes Menschenleben. Erst die Groñmutter, dann die Mutter! - Und stets das gleiche Gesicht, kein Zug anders! Derselbe Name Rosina; - es ist immer eine die Auferstehung der andern."
          "Ist Rosina nicht die Tochter des TrÃdlers Aaron Wassertrum?" fragte ich.
          "Man spricht so", meinte Zwakh, - - "Aaron Wassertrum aber hat manchen Sohn und manche Tochter, von denen man nicht weiñ. Auch bei Rosinas Mutter wuñte man nicht, wer ihr Vater gewesen, - auch nicht, was aus ihr geworden ist. - Mit fØnfzehn Jahren hatte sie ein Kind geboren und war seitdem nicht mehr aufgetaucht. Ihr Verschwinden hing mit einem Mord zusammen, soweit ich mich entsinnen kann, der ihretwegen in diesem Hause begangen wurde.
          Wie jetzt ihre Tochter, spukte damals sie den halbwØchsigen Jungen im Kopfe. Einer von ihnen lebt noch, - ich sehe ihn Ãfter, - doch sein Name ist mir entfallen. Die andern sind bald gestorben, und ich meine, sie hat sie alle frØhzeitig under die Erde gebracht. Ich erinnere mich aus jener Zeit Øberhaupt nur noch an kurze Episoden, die wie verblichene Bilder durch mein GedÄchtnis treiben. So hat es damals einen halbblÃdsinnigen Menschen gegeben, der nachts von Schenke zu Schenke zog und den GÄsten gegen ein paar Kreuzer Silhouetten aus schwarzem Papier schnitt. Und wenn man ihn betrunken machte, geriet er in eine unsÄgliche Traurigkeit, und unter TrÄnen und Schluchzen schnitzelte er, ohne aufzuhÃren, immer das gleiche scharfe MÄdchenprofil, bis sein ganzer Papiervorrat verbraucht war.
          Aus ZusammenhÄngen zu schlieñen, die ich lÄngst vergessen, hatte er - fast ein Kind noch - eine gewisse Rosina, wohl die Groñmutter der heutigen, so heftig geliebt, dañ er den Verstand darØber verlor.
          Wenn ich die Jahre zurØckzÄhle, kann es keine andere als die Groñmutter der jetzigen Rosina gewesen sein." - - -
          Zwakh schwieg und lehnte sich zurØck.
          Das Schicksal in diesem Haus irrt im Kreise umher und kehrt immer wieder zum selben Punkt zurØck, fuhr es mir durch den Sinn, und ein hÄñliches Bild, das ich einmal mit angesehen - eine Katze mit verletzter GehirnhÄlfte im Kreise herumtaumelnd - trat vor mein Auge.
          0x01 graphic

          "Jetzt kommt der Kopf", hÃrte ich plÃtzlich den Maler Vrieslander mit heller Stimme sagen.
          Und er nahm einen runden Holzklotz aus der Tasche und begann an ihm zu schnitzen.
          Eine schwere MØdigkeit legte sich mir Øber die Augen, und ich rØckte meinen Lehnstuhl aus dem Lichtschein in den Hintergrund.
          Das Wasser fØr den Punsch brodelte im Kessel, und Josua Prokop fØllte wiederum die GlÄser. Leise, ganz leise klangen die KlÄnge der Tanzmusik durch das geschlossene Fenster; - manchmal verstummten sie vollends, dann wiederum wachten sie ein wenig auf, wie sie der Wind unterwegs verlor oder zu uns von der Gasse emportrug.
          Ob ich denn nicht anstoñen wolle, fragte mich nach einer Weile der Musiker.
          Ich aber gab keine Antwort, - so vollkommen war mir der Wille, mich zu bewegen, abhanden gekommen, dañ ich gar nicht auf den Gedanken, den Mund zu Ãffnen, verfiel.
          Ich dachte ich schliefe, so steinern war die innere Ruhe, die sich meiner bemÄchtigt hatte. Und ich muñte hinØber auf Vrieslanders funkelndes Messer blinzeln, das ruhelos aus dem Holz kleine SpÄne biñ, - um die Gewiñheit zu erlangen, dañ ich wach sei.
          In weiter Ferne brummte Zwakhs Stimme und erzÄhlte wieder allerlei wunderliche Geschichten Øber Marionetten und krause MÄrchen, die er fØr seine Puppenspiele erdacht.
          Auch von Dr. Savioli war die Rede und von der vornehmen Dame, der Gattin eines Adeligen, die in das versteckte Atelier heimlich zu Savioli zu Besuch komme.
          Und wiederum sah ich im Geiste Aaron Wassertrums hÃhnische, triumphierende Miene. -
          Ob ich Zwakh nicht mitteilen sollte, was sich damals ereignet hatte, Øberlegte ich, - dann hielt ich es nicht der MØhe fØr wert und fØr belanglos. Auch wuñte ich, dañ mein Wille versagen wØrde, wollte ich jetzt den Versuch machen zu sprechen.
          PlÃtzlich sahen die drei am Tisch aufmerksam zu mir herØber, und Prokop sagte ganz laut: "Er ist eingeschlafen", - so laut, dañ es fast klang, als ob es eine Frage sein sollte.
          Sie redeten mit gedÄmpfter Stimme weiter, und ich erkannte, dañ sie von mir sprachen.
          Vrieslanders Schnitzmesser tanzte hin und her und fing das Licht auf, das von der Lampe niederfloñ, und der spiegelnde Schein brannte mir in den Augen.
          Es fiel ein Wort wie: "irr sein", und ich horchte auf die Rede, die in der Runde ging.
          "Gebiete, wie das vom 'Golem' sollte man vor Pernath nie berØhren," sagte Josua Prokop vorwurfsvoll, "als er vorhin von dem Buche Ibbur erzÄhlte, schwiegen wir still und fragten nicht weiter. Ich mÃchte wetten, er hat alles nur getrÄumt."
          Zwakh nickte: "Sie haben ganz recht. Es ist, wie wenn man mit offenem Lichte eine verstaubte Kammer betreten wollte, in der morsche TØcher Decke und WÄnde bespannen und der dØrre Zunder der Vergangenheit fuñhoch den Boden bedeckt; ein flØchtiges BerØhren nur und schon schlÄgt das Feuer aus allen Ecken."
          "War Pernath lange im Irrenhaus? Schade um ihn, er kann doch erst vierzig sein", sagte Vrieslander.
          "Ich weiñ es nicht, ich habe auch keine Vorstellung, woher er stammen mag und was frØher sein Beruf gewesen ist. Aussehen tut er ja wie ein altfranzÃsischer Edelmann mit seiner schlanken Gestalt und dem Spitzbart. Vor vielen vielen Jahren hat mich ein befreundeter alter Arzt gebeten, ich mÃchte mich seiner ein wenig annehmen und ihm eine kleine Wohnung hier in diesen Gassen, wo sich niemand um ihn kØmmern und mit Fragen nach frØheren Zeiten beunruhigen wØrde, aussuchen." - Wieder sah Zwakh bewegt zu mir herØber. - "Seit jener Zeit lebt er hier, bessert AntiquitÄten aus und schneidet Gemmen und hat sich damit einen kleinen Wohlstand gegrØndet. Es ist ein GlØck fØr ihn, dañ er alles, was mit seinem Wahnsinn zusammenhÄngt, vergessen zu haben scheint. Fragen Sie ihn beileibe nur niemals nach Dingen, die die Vergangenheit in seiner Erinnerung wachrufen kÃnnten, - wie oft hat mir das der alte Arzt ans Herz gelegt! Wissen Sie, Zwakh, sagte er immer, wir haben so eine gewisse Methode; wir haben seine Krankheit mit vieler MØhe eingemauert, mÃchte ich's nennen, - so wie man eine UnglØcksstÄtte einfriedet, weil sich an sie eine traurige Erinnerung knØpft." - - -
          Die Rede des Marionettenspielers war auf mich zugekommen wie ein SchlÄchter auf ein wehrloses Tier und preñte mir mit rohen, grausamen HÄnden das Herz zusammen.
          Von jeher hatte eine dumpfe Qual an mir genagt, - ein Ahnen, als wÄre mir etwas genommen worden und als hÄtte ich in meinem Leben eine lange Strecke Wegs an einem Abgrunde hin durchschritten wie ein Schlafwandler. Und nie war es mir gelungen, die Ursache zu ergrØnden.
          Jetzt lag des RÄtsels LÃsung offen vor mir und brannte mich unertrÄglich wie eine bloñgelegte Wunde.
          Mein krankhafter Widerwillen, der Erinnerung an verflossene Ereignisse nachzuhÄngen, - dann der seltsame, von Zeit zu Zeit immer wiederkehrende Traum, ich sei in ein Haus mit einer Flucht mir unzugÄnglicher GemÄcher gesperrt, - das beÄngstigende Versagen meines GedÄchtnisses in Dingen, die meine Jugendzeit betrafen, - alles das fand mit einem Male seine furchtbare ErklÄrung: ich war wahnsinnig gewesen und man hatte Hypnose angewandt, hatte das - "Zimmer" verschlossen, das die Verbindung zu jenen GemÄchern meines Gehirns bildete, und mich zum Heimatlosen inmitten des mich umgebenden Lebens gemacht.
          Und keine Aussicht, die verlorene Erinnerung je wieder zu gewinnen!
          Die Triebfedern meines Denkens und Handelns liegen in einem andern, vergessenen Dasein verborgen, begriff ich, - nie wØrde ich sie erkennen kÃnnen: eine verschnittene Pflanze bin ich, ein Reis, das aus einer fremden Wurzel sproñt. GelÄnge es mir auch, den Eingang in jenes verschlossene "Zimmer" zu erzwingen, mØñte ich nicht abermals den Gespenstern, die man darein gebannt, in die HÄnde fallen?!
          Die Geschichte von dem Golem, die Zwakh vor einer Stunde erzÄhlte, zog mir durch den Sinn, und plÃtzlich erkannte ich einen riesengroñen, geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem sagenhaften Gemach ohne Zugang, in dem jener Unbekannte wohnen sollte, und meinem bedeutungsvollen Traum.
          Ja! auch in meinem Falle "wØrde der Strick reiñen", wollte ich versuchen, in das vergitterte Fenster meines Innern zu blicken.
          Der seltsame Zusammenhang wurde mir immer deutlicher und nahm etwas unbeschreiblich Erschreckendes fØr mich an.
          Ich fØhlte: es sind da Dinge - unfañbare - zusammengeschmiedet und laufen wie blinde Pferde, die nicht wissen wohin der Weg fØhrt, nebeneinander her.
          Auch im Getto: ein Zimmer, ein Raum, dessen Eingang niemand finden kann, - ein schattenhaftes Wesen, das darin wohnt und nur zuweilen durch die Gassen tappt, um Grauen und Entsetzen unter die Menschen zu tragen! - - -
          Immer noch schnitzte Vrieslander an dem Kopfe, und das Holz knirschte unter der Klinge des Messers.
          Es tat mir fast weh, wie ich es hÃrte, und ich sah hin, ob es denn nicht bald zu Ende sei.
          Wie der Kopf sich in des Malers Hand hin und her wandte, war es, als habe er Bewuñtsein und spÄhe von Winkel zu Winkel. Dann ruhten seine Augen lange auf mir, befriedigt, dañ sie mich endlich gefunden.
          Auch ich vermochte meine Blicke nicht mehr abzuwenden und starrte unverwandt auf das hÃlzerne Antlitz.
          Eine Weile schien das Messer des Malers zÃgernd etwas zu suchen, dann ritzte es entschlossen eine Linie ein, und plÃtzlich gewannen die ZØge des Holzklotzes schreckhaftes Leben.
          Ich erkannte das gelbe Gesicht des Fremden, der mir damals das Buch gebracht.
          Dann konnte ich nichts mehr unterscheiden, der Anblick hatte nur eine Sekunde gedauert, und ich spØrte, dañ mein Herz zu schlagen aufhÃrte und Ängstlich flatterte.
          Dennoch blieb ich mir - wie damals - des Gesichtes bewuñt.
          Ich war es selber geworden und lag auf Vrieslanders Schoñ und spÄhte umher.
          Meine Augen wanderten im Zimmer umher, und eine fremde Hand bewegte meinen SchÄdel.
          Dann sah ich mit einem Male Zwakhs aufgeregte Miene und hÃrte seine Worte: Um Gottes willen, das ist ja der Golem!
          Und ein kurzes Ringen entstand, und man wollte Vrieslander mit Gewalt das Schnitzwerk entreiñen, doch der wehrte sich und rief lachend:
          "Was wollt ihr, es ist doch ganz und gar miñlungen." Und er wand sich los, Ãffnete das Fenster und warf den Kopf auf die Gasse hinunter.
          Da schwand mein Bewuñtsein, und ich tauchte in eine tiefe Finsternis, die von schimmernden GoldfÄden durchzogen war, und als ich, wie es mir schien, nach einer langen, langen Zeit erwachte, da erst hÃrte ich das Holz klappernd auf das Pflaster fallen. - - -
          0x01 graphic

          "Sie haben so fest geschlafen, dañ Sie nicht merkten, wie wir Sie schØttelten," - sagte Josua Prokop zu mir, "der Punsch ist aus, und Sie haben alles versÄumt."
          Der heiñe Schmerz Øber das, was ich vorhin mitangehÃrt, Øbermannte mich wieder, und ich wollte aufschreien, dañ ich nicht getrÄumt habe, als ich ihnen von dem Buche Ibbur erzÄhlte - und es aus der Kassette nehmen und ihnen zeigen kÃnne.
          Aber diese Gedanken kamen nicht zu Wort und konnten die Stimmung allgemeinen Aufbruches, die meine GÄste ergriffen hatte, nicht durchdringen.
          Zwakh hÄngte mir mit Gewalt den Mantel und und rief:
          "Kommen Sie nur mit zum Loisitschek, Meister Pernath, es wird Ihre Lebensgeister erfrischen."

    Nacht


          Willenlos hatte ich mich von Zwakh die Treppe hinunterfØhren lassen.
          Ich spØrte den Geruch des Nebels, der von der Strañe ins Haus drang, deutlicher und deutlicher werden. Josua Prokop und Vrieslander waren einige Schritte vorausgegangen, und man hÃrte, wie sie drauñen vor dem Torweg mitsammen sprachen.
          "Er muñ rein in das Kanalgitter gefallen sein. Es ist doch zum Teufelholen."
          Wir traten hinaus auf die Gasse, und ich sah, wie Prokop sich bØckte und die Marionette suchte.
          "Freut mich, dañ du den dummen Kopf nicht finden kannst", brummte Vrieslander. Er hatte sich an die Mauer gestellt und sein Gesicht leuchtete grell auf und erlosch wieder in kurzen Intervallen - wie er das Feuer eines Streichholzes zischend in seine kurze Pfeife sog.
          Prokop machte eine heftig abwehrende Bewegung mit dem Arm und beugte sich noch tiefer hinab. Er kniete beinahe auf dem Pflaster:
          "Still doch! HÃrt ihr denn nichts?"
          Wir traten an ihn heran. Er deutete stumm auf das Kanalgitter und legte horchend die Hand ans Ohr. Eine Weile standen wir unbeweglich und lauschten in den Schacht hinab.
          Nichts.
          "Was war's denn?" flØsterte endlich der alte Marionettenspieler; doch sofort packte ihn Prokop heftig beim Handgelenk.
          Einen Augenblick - kaum einen Herzschlag lang - hatte es mir geschienen, als klopfte da unten eine Hand gegen eine Eisenplatte - fast unhÃrbar. Wie ich eine Sekunde spÄter darØber nachdachte, war alles vorbei; nur in meiner Brust hallte es wie ein Erinnerungsecho weiter und lÃste sich langsam in ein unbestimmtes GefØhl des Grauens auf.
          Schritte, die die Gasse heraufkamen, verscheuchten den Eindruck.
          "Gehen wir; was stehen wir da herum!" mahnte Vrieslander.
          Wir schritten die HÄuserreihe entlang.
          Prokop folgte nur widerwillig.
          "Meinen Hals mÃcht ich wetten, da unten hat jemand geschrien in Todesangst."
          Niemand von uns antwortete ihm, aber ich fØhlte, dañ etwas wie leise dÄmmernde Angst uns die Zunge in Fesseln hielt.
          Bald darauf standen wir vor einem rotverhÄngten Schenkenfenster.

    "SALON LOISITSCHEK".


          "Heinte groñes Konzehr"
          stand auf einem Pappendeckel geschrieben, dessen Rand mit verblichenen Photographien von Frauenzimmern bedeckt war.
          Ehe noch Zwakh die Hand auf die Klinke legen konnte, Ãffnete sich die EingangstØr nach innen, und ein vierschrÃtiger Kerl mit gewichstem schwarzem Haar, ohne Kragen - eine grØnseidene Krawatte um den bloñen Hals geschlungen und die Frackweste mit einem Klumpen aus SchweinszÄhnen geschmØckt - empfing uns mit BØcklingen.
          "JÄ, jÄ, das sin mir GÄstÄh. - - - Pane Schaffranek, rasch einen Tusch!" setzte er, Øber die Schulter in das von Menschen ØberfØllte Lokal gewendet, hastig seinem Willkommensgruñ hinzu.
          Ein klimperndes GerÄusch, wie wenn eine Ratte Øber Klaviersaiten liefe, war die Antwort.
          "JÄ, jÄ, das sin mir GÄstÄh, das sin mir GÄstÄh. Da schaut man", murmelte der VierschrÃtige immerwÄhrend eifrig vor sich hin, wÄhrend er uns aus den MÄnteln half.
          "Ja, ja, heinte ist der ganze verehrliche Hochadel des Landes bei mir versammelt", beantwortete er triumphierend Vrieslanders erstaunte Miene, als im Hintergrund auf einer Art Estrade, die durch GelÄnder und eine zweistufige Treppe vom vorderen Teil der Schenke getrennt war, ein paar vornehme junge Herren in Abendtoilette sichtbar wurden.
          Schwaden beiñenden Tabakrauches lagerten Øber den Tischen, hinter denen die langen HolzbÄnke an den WÄnden vollbesetzt von zerlumpten Gestalten waren: Dirnen von den Schanzen, ungekÄmmt, schmutzig, barfuñ, die festen BrØste kaum verhØllt von miñfarbigen UmhÄngetØchern, ZuhÄlter daneben mit blauen MilitÄrmØtzen und Zigaretten hinter dem Ohr, ViehhÄndler mit haarigen FÄusten und schwerfÄlligen Fingern, die bei jeder Bewegung eine stumme Sprache der Niedertracht redeten, vazierende Kellner mit frechen Augen und blatternarbige Kommis mit karierten Hosen.
          "Ich stell' ich Ihnen spanische Plente umadum, damit Sie schÃn ungestÃrt sein", krÄchzte die feiste Stimme des VierschrÃtigen, und eine Rollwand, beklebt mit kleinen, tanzenden Chinesen, schob sich langsam vor den Ecktisch, an den wir uns gesetzt hatten.
          Schnarrende KlÄnge einer Harfe machten das Stimmengewirr im Zimmer verlÃschen.
          Eine Sekunde eine rhythmische Pause.
          Totenstille, als hielte alles den Atem an.
          Mit erschreckender Deutlichkeit hÃrte man plÃtzlich wie die eisernen GasstÄbe fauchend die flachen herzfÃrmigen Flammen aus ihren MØndern in die Luft bliesen - - dann fiel die Musik Øber das GerÄusch her und verschlang es.
          Als wÄren sie soeben erst entstanden, tauchten da zwei seltsame Gestalten aus dem Tabakqualm vor meinem Blick empor.
          Mit langem, wallendem, weiñen Prophetenbart, ein schwarzseidenes KÄppchen - wie es die alten jØdischen FamilienvÄter tragen - auf dem Kahlkopf, die blinden Augen milchblÄulich und glÄsern - starr zur Decke gerichtet - sañ dort ein Greis, bewegte lautlos die Lippen und fuhr mit dØrren Fingern wie mit Geierkrallen in die Saiten einer Harfe. Neben ihm in speckglÄnzendem, schwarzen Taffetkleid, Jettschmuck und Jettkreuz an Hals und Armen - ein Sinnbild erheuchelter BØrgermoral - ein schwammiges Weibsbild, die Ziehharmonika auf dem Schoñ.
          Ein wildes Gestolper von KlÄngen drÄngte sich aus den Instrumenten, dann sank die Melodie ermattet zur bloñen Begleitung herab.
          Der Greis hatte ein paarmal in die Luft gebissen und riñ den Mund weit auf, dañ man die schwarzen Zahnstumpen sehen konnte. Langsam aus der Brust herauf rang sich ihm, von seltsamen hebrÄischen RÃchellauten begleitet, ein wilder Bañ:
          "Roo - n - te, blau - we Stern - -"
          "Rititit" (schrillte das Weibsbild dazwischen und schnappte sofort die keifigen Lippen zusammen, als habe sie schon zuviel gesagt)
          "Roonte blaue Steern
          HÃrndlach ess i' ach geern";
          "Rititit"
          "Rotboart, Grienboart
          allerlaj Stern" - -
          "Rititit, rititit."
          0x01 graphic

          Die Paare traten zum Tanze an.
          "Es ist das Lied vom 'chomezigen Borchu'", erklÄrte uns lÄchelnd der Marionettenspieler und schlug leise mit dem ZinnlÃffel, der sonderbarerweise mit einer Kette am Tisch befestigt war, den Takt. "Vor wohl hundert Jahren oder mehr noch hatten zwei BÄckergesellen, Rotbart und GrØnbart, am Abend des 'Schabbes Hagodel' das Brot - Sterne und HÃrnchen - vergiftet, um ein ausgiebiges Sterben in der Judenstadt hervorzurufen; aber der 'Meschores' - der Gemeindediener - war infolge gÃttlicher Erleuchtung noch rechtzeitig draufgekommen und konnte die beiden Verbrecher der Stadtpolizei Øberliefern. Zur Erinnerung an die wundersame Errettung aus Todesgefahr dichteten damals die 'Landonim' und 'Bocherlech' jenes seltsame Lied, das wir hier jetzt als Bordellquadrille hÃren."
          "Rititit - Rititit"
          "Roote blaue Steern - - - -" immer hohler und fanatischer erscholl das Gebell des Greises.
          PlÃtzlich wurde die Melodie konfuser und ging allmÄhlich in den Rhythmus des bÃhmischen "Schlapak" - eines schleifenden Schiebetanzes - Øber, bei dem die Paare die schwitzigen Wangen innig aneinander preñten.
          "So recht. Bravo. äh da! fang, hep, hep!" rief von der Estrade ein schlanker, junger Kavalier im Frack, das Monokel im Auge, dem Harfenisten zu, griff in die Westentasche und warf ein SilberstØck in der Richtung. Es erreichte sein Ziel nicht: ich sah noch, wie es Øber das TanzgewØhl hinblitzte; da war es plÃtzlich verschwunden. Ein Strolch - sein Gesicht kam mir so bekannt vor; ich glaube, es muñ derselbe gewesen sein, der neulich bei dem Regenguñ neben Charousek gestanden - hatte seine Hand hinter dem Busentuch seiner TÄnzerin, wo er sie bisher hartnÄckig ruhen gehabt, hervorgezogen - ein Griff in die Luft mit affenhafter Geschwindigkeit, ohne auch nur einen Takt der Musik auszulassen, und die MØnze war geschnappt. Nicht ein Muskel zuckte im Gesicht des Burschen auf, nur zwei, drei Paare in der NÄhe grinsten leise.
          "Wahrscheinlich einer vom 'Bataillon', nach der Geschicklichkeit zu schlieñen", sagte Zwakh lachend.
          "Meister Pernath hat sicherlich noch nie etwas vom 'Bataillon' gehÃrt", fiel Vrieslander auffallend rasch ein und zwinkerte heimlich dem Marionettenspieler zu, dañ ich es nicht sehen sollte. - Ich verstand gar wohl: es war wie vorhin, oben auf meinem Zimmer. Sie hielten mich fØr krank. Wollten mich aufheitern. Und Zwakh sollte etwas erzÄhlen. Irgend etwas.
          Wie mich der gute Alte so mitleidig ansah, stieg es mir heiñ vom Herzen in die Augen. Wenn er wØñte, wie weh mir sein Mitleid tat!
          Ich ØberhÃrte die ersten Worte, mit denen der Marionettenspieler seine Worte einleitete, - ich weiñ nur, mir war, als verblute ich langsam. Mir wurde immer kÄlter und starrer, wie vorhin, als ich als hÃlzernes Gesicht auf Vrieslanders Schoñ gelegen hatte. Dann war ich plÃtzlich mitten drin in der ErzÄhlung, die mich fremdartig umfing, - einhØllte, wie ein lebloses StØck aus einem Lesebuch.
          Zwakh begann:
          "Die ErzÄhlung vom Rechtsgelehrten Dr. Hulbert und seinem Bataillon.
          - - - No, was soll ich Ihnen sagen: Das Gesicht hatte er voller Warzen und krumme Beine wie ein Dachshund. Schon als JØngling kannte er nichts als Studium. Trockenes, entnervendes Studium. Von dem, was er sich durch Stundengeben mØhsam erwarb, muñte er noch seine kranke Mutter erhalten. Wie grØne Wiesen aussehen und Hecken und HØgel voll Blumen und WÄlder, erfuhr er, glaube ich, nur aus BØchern. Und wie wenig von Sonnenschein in Prags schwarze Gassen fÄllt, wissen Sie ja selbst.
          Sein Doktorat hatte er mit Auszeichnung gemacht; das war eigentlich selbstverstÄndlich.
          Nun, und mit der Zeit wurde er ein berØhmter Rechtsgelehrter. So berØhmt, dañ alle Leute - Richter und alte Advokaten - zu ihm fragen kamen, wenn sie irgend etwas nicht wuñten. Dabei lebte er Ärmlich wie ein Bettler in einer Dachkammer, deren Fenster hinaus auf den Teinhof schaute.
          So vergingen Jahre um Jahre und Dr. Hulberts Ruf als Leuchte seiner Wissenschaft wurde allmÄhlich Sprichwort im ganzen Lande. Dañ ein Mann wie er weichen Herzensempfindungen zugÄnglich sein konnte, zumal sein Haar schon anfing weiñ zu werden und sich niemand erinnerte, ihn je von etwas anderem als von Jurisprudenz sprechen gehort zu haben, hatte wohl keiner geglaubt. Doch gerade in solchen verschlossenen Herzen glØht die Sehnsucht am heiñesten.
          An dem Tage, als Dr. Hulbert das Ziel erreichte, das ihm wohl schon als HÃchstes seit seiner Studentenzeit vorgeschwebt hatte: - als nÄmlich Seine MajestÄt der Kaiser von Wien aus ihn zum Rector magnificus an unserer UniversitÄt ernannte, da ging es von Mund zu Mund, er habe sich mit einem jungen, bildschÃnen FrÄulein aus zwar armer, aber adliger Familie verlobt.
          Und wirklich schien von da an das Gluck bei Dr. Hulbert eingezogen zu sein. Wenn auch seine Ehe kinderlos blieb, so trug er doch seine junge Gattin auf HÄnden, und jeden Wunsch zu erfØllen, den er ihr nur irgend von den Augen abzulesen vermochte, war seine hÃchste Freude.
          In seinem Gluck vergañ er jedoch keineswegs, wie es wohl so mancher andere getan hatte, seine leidenden Mitmenschen. "Mir hat Gott meine Sehnsucht gestillt," soll er einmal gesagt haben, - "er hat mir ein Traumgesicht zur Wahrheit werden lassen, das wie ein Glanz vor mir hergegangen ist seit Kindheit an: er hat mir das lieblichste Wesen zu eigen gegeben, das die Erde tragt. Und so will ich, dañ ein Schimmer von diesem Gluck, soweit es in meiner Macht steht, auch auf andere fallt." - - -
          Und so kam es, dañ er sich bei Gelegenheit eines armen Studenten annahm wie seines eigenen Sohnes. Vermutlich in der ErwÄgung, wie wohl ihm selbst ein solch gutes Werk getan hatte, wÄre es ihm am eigenen Leib und Leben in den Tagen seiner kummervollen Jugendzeit passiert. Wie aber nun auf Erden manche Tat, die dem Menschen gut und edel scheint, Folgen nach sich zieht gleich der einer fluchwØrdigen, weil wir wohl doch nicht richtig unterscheiden kÃnnen zwischen dem, was giftigen Samen in sich tragt und was heilsamen, so begab es sich auch hier, dañ aus Dr. Hulberts mitleidsvollem Werk das bitterste Leid fØr ihn selbst sproñ.
          Die junge Frau entbrannte gar bald in heimlicher Liebe zu dem Studenten, und ein erbarmungsloses Schicksal wollte, dañ sie der Rektor gerade in dem Augenblicke, als er unerwartet nach Hause kam, um sie zum Zeichen seiner Liebe mit einem Strauñ Rosen als GeburtstagsprÄsent zu Øberraschen, in den Armen dessen antraf, auf den er Wohltat Øber Wohltat gehÄuft hatte.
          Man sagt, dañ die blaue Muttergottesblume fØr immer ihre Farbe verlieren kann, wenn der fahle, schweflige Schein eines Blitzes, der ein Hagelwetter verkØndet, plÃtzlich auf sie fÄllt; gewiñ ist, dañ die Seele des alten Mannes fØr immer erblindete an dem Tage, wo sein Gluck in Scherben ging. Am selben Abend noch sañ er, er, der bis dahin nicht gewuñt, was UnmÄñigkeit ist, hier beim "Loisitschek" - fast bewuñtlos vom Fusel - bis zum Morgengrauen. Und der "Loisitschek" wurde seine HeimstÄtte fØr den Rest seines zerstÃrten Lebens. Im Sommer schlief er irgendwo auf dem Schutt eines Neubaus, im Winter hier auf den hÃlzernen BÄnken.
          Den Titel eines Professors und Doktors beider Rechte belieñ man ihm stillschweigend. Niemand hatte das Herz dazu, gegen ihn, den einst berØhmten Gelehrten, den Vorwurf zu erheben, dañ man ärgernis nÄhme an seinem Wandel.
          AllmÄhlich sammelte sich um ihn, was an lichtscheuem Gesindel in der Judenstadt sein Wesen trieb, und so kam es zur GrØndung jener seltsamen Gemeinschaft, die man noch heutigentags "das Bataillon" nennt.
          Dr. Hulberts umfassende Gesetzeskenntnis wurde das Bollwerk fØr alle die, denen die Polizei zu scharf auf die Finger sah. War irgendein entlassener StrÄfling daran zu verhungern, schickte ihn Dr. Hulbert splitternackt hinaus auf den Altstadter Ring - und das Amt auf der sogenannten "Fischbanka" sah sich genÃtigt, einen Anzug beizustellen. Sollte eine unterstandslose Dirne aus der Stadt gewiesen werden, so heiratete sie schnell einen Strolch, der bezirkszustÄndig war, und wurde dadurch ansÄssig.
          Hundert solcher Auswege wuñte Dr. Hulbert, und seinem Rate gegenØber stand die Polizei machtlos da. - Was diese Ausgestoñenen der menschlichen Gesellschaft "verdienten", Øbergaben sie getreulich auf Heller und Kreuzer der gemeinsamen Kassa, aus der der nÃtige Lebensunterhalt bestritten wurde. Niemals lieñ sich auch nur einer die geringste Unehrlichkeit zuschulden kommen. Mag sein, dañ angesichts dieser eisernen Disziplin der Name "das Bataillon" entstand.
          PØnktlich am ersten Dezember, wo sich der Tag des UnglØcks jÄhrte, das den alten Mann betroffen hatte, fand jedesmal nachts beim "Loisitschek" eine seltsame Feier statt. Kopf an Kopf gedrÄngt standen sie hier: Bettler, Vagabunden, ZuhÄlter und Dirnen, Trunkenbolde und Lumpensammler, und eine lautlose Stille herrschte wie beim Gottesdienst. - Und dann erzÄhlte ihnen Dr. Hulbert dort von der Ecke aus, wo jetzt die beiden Musikanten sitzen, gerade unter dem KrÃnungsbilde Seiner MajestÄt des Kaisers, seine Lebensgeschichte: - wie er sich emporgerungen, den Doktortitel erworben und spÄter Rektor magnificus geworden war. Wenn er zu der Stelle kam, wo er mit dem Busch Rosen in der Hand ins Zimmer seiner jungen Frau trat, - zur Feier ihres Geburtstages und zugleich zum GedÄchtnis jener Stunde, da er dereinst um sie anhalten gekommen und sie seine liebe Braut geworden war, - da versagte ihm jedesmal die Stimme, und weinend sank er am Tisch zusammen. Dann geschah es wohl zuweilen, dañ irgendein liederliches Frauenzimmer ihm verschÄmt und heimlich, damit es keiner sehen sollte, eine halbwelke Blume in die Hand legte.
          Von den ZuhÃrern rØhrte sich dann noch lange Zeit keiner. Zum Weinen sind diese Menschen zu hart, aber an ihren Kleidern blickten sie herunter und drehten unsicher die Finger.
          Eines Morgens fand man Dr. Hulbert tot auf einer Bank unten an der Moldau. Er wird, denke ich, erfroren sein.
          Sein LeichenbegÄngnis sehe ich noch heute vor mir. Das "Bataillon" hatte sich fast zerfleischt, um alles so prunkvoll wie mÃglich zu gestalten.
          Voran ging der Pedell der UniversitÄt in vollem Ornat: in den HÄnden das purpurne Kissenpolster mit der gØldenen Kette darauf und hinter dem Leichenwagen in unabsehbarer Reihe - - das "Bataillon" barfuñ, schmutzstarrend, zerlumpt und zerfetzt. Einer von ihnen hatte sein Letztes verkauft und ging daher: Leib, Beine und Arme mit Lagen aus altem Zeitungspapier umwickelt und umbunden.
          So erwiesen sie ihm die letzte Ehre.
          Auf seinem Grabe, drauñen im Friedhof, steht ein weiñer Stein, darein sind drei Figuren gemeiñelt: Der Heiland gekreuzigt zwischen zwei RÄubern. Von unbekannter Hand gestiftet. Man munkelt, Dr. Hulberts Frau habe das Denkmal errichtet. - - -
          Im Testament des toten Rechtsgelehrten aber war ein Legat vorgesehen, danach bekommt jeder vom "Bataillon" mittags "beim Loisitschek" umsonst eine Suppe; zu diesem Zwecke hÄngen hier am Tisch die LÃffel an den Ketten, und die ausgehÃhlten Mulden in der Tischplatte sind die Teller. Um 12 Uhr kommt die Kellnerin und spritzt mit einer groñen, blechernen Spritze die BrØhe hinein und, wenn sich einer nicht ausweisen kann als "vom Bataillon", so zieht sie die Suppe mit der Spritze wieder zurØck.
          Von diesem Tisch aus machte die Gepflogenheit als Witz die Runde durch die ganze Welt."
          0x01 graphic

          Der Eindruck eines Tumultes im Lokal weckte mich aus meiner Lethargie. Die letzten SÄtze, die Zwakh gesprochen, wehten Øber mein Bewuñtsein hinweg. Ich sah noch, wie er seine HÄnde bewegte, um das Vor- und ZurØckschieben eines Spritzenkolbens klarzumachen, dann jagten die Bilder, die sich rings um uns abrollten, so rasch und automatenhaft und dennoch mit so gespenstischer Deutlichkeit an meinem Auge vorØber, dañ ich in Momenten ganz mich selbst vergañ und mir wie ein Rad vorkam in einem lebendigen Uhrwerk.
          Das Zimmer war ein einziges MenschengewØhl geworden. Oben auf der Estrade: dutzende Herren in schwarzen FrÄcken. Weiñe Manschetten, blitzende Ringe. Eine Dragoneruniform mit RittmeisterschnØren. Im Hintergrund ein Damenhut mit lachsfarbigen Strauñenfedern.
          Durch die StÄbe des GelÄnders stierte das verzerrte Gesicht Loisas hinauf. Ich sah: er konnte sich kaum aufrecht halten. Auch Jaromir war da und schaute unverwandt hinauf, mit dem RØcken dicht, ganz dicht, an der Seitenwand, als presse ihn eine unsichtbare Hand dagegen.
          Die Gestalten hielten plÃtzlich im Tanzen inne: der Wirt muñte ihnen etwas zugerufen haben, was sie erschreckt hatte. Die Musik spielte noch, aber leise; sie traute sich nicht mehr recht. Sie zitterte; man fØhlte es deutlich. Und doch lag der Ausdruck hÄmischer wilder Freude in dem Gesicht des Wirtes.
          - - - - In der EingangstØr steht mit einem Mal der PolizeikommissÄr in Uniform. Er hatte die Arme ausgebreitet, um niemand hinauszulassen. Hinter ihm ein Kriminalschutzmann.
          "Wird also doch hier getanzt? Trotz Verbotes? Ich sperre die Spelunke. Sie kommen mit, Wirt! Und was hier ist, marsch auf die Wachstube!"
          Es klingt wie Kommandos.
          Der VierschrÃtige gibt keine Antwort, aber das hÄmische Grinsen bleibt in seinen ZØgen.
          Bloñ starrer ist es geworden.
          Die Harmonika hat sich verschluckt und pfeift nur noch.
          Auch die Harfe zieht den Schwanz ein.
          Die Gesichter sind plÃtzlich alle im Profil zu sehen: sie glotzen erwartungsvoll hinauf auf die Estrade.
          Und da kommt eine vornehme schwarze Gestalt gelassen die paar Stufen herab und geht langsam auf den KommissÄr zu.
          Die Augen des Kriminalschutzmannes hÄngen gebannt an den heranschlendernden schwarzen Lackschuhen.
          Der Kavalier ist einen Schritt vor dem Polizeibeamten stehen geblieben und lÄñt den Blick gelangweilt ihm von Kopf bis zu den FØñen und wieder zurØck schweifen.
          Die andern jungen Adligen oben auf der Estrade haben sich Øber das GelÄnder gebeugt und verbeiñen das Lachen hinter ihren grauseidenen TaschentØchern.
          Der Dragonerrittmeister klemmt ein GoldstØck ins Auge und spuckt einem MÄdchen, das unter ihm lehnt, seinen Zigarettenstummel ins Haar.
          Der PolizeikommissÄr hat sich verfÄrbt und starrt in der Verlegenheit immerwÄhrend auf die Perle in der Hemdbrust des Aristokraten.
          Er kann den gleichgØltigen, glanzlosen Blick dieses glattrasierten, unbeweglichen Gesichtes mit der Hakennase nicht ertragen.
          Er bringt ihn aus der Ruhe. Schmettert ihn nieder.
          Die Totenstille im Lokal wird immer quÄlender.
          "So sehen die Ritterstatuen aus, die mit gefalteten HÄnden auf den SteinsÄrgen liegen in den gotischen Kirchen", flØstert der Maler Vrieslander mit einem Blick auf den Kavalier.
          Da bricht der Aristokrat endlich das Schweigen: "äh - Hm." - - - er kopiert die Stimme des Wirtes: "JÄ, jÄ, das sin mir GÄstÄh - da schaut man." Ein schallendes Gejohle explodiert im Lokal, dañ die GlÄser klirren; die Strolche halten sich den Bauch vor Lachen. Eine Flasche fliegt an die Wand und zerschellt. Der vierschrÃtige Wirt meckert uns erlÄuternd und ehrfurchtsvoll zu: "Seine Durchlaucht Exzellenz FØrst Ferri AthenstÄdt."
          Der FØrst hat dem Beamten eine Visitkarte hingehalten. Der ärmste nimmt sie, salutiert wiederholt und schlÄgt die Hacken zusammen.
          Es wird von neuem still, die Menge lauscht atemlos, was weiter geschehen wird.
          Der Kavalier spricht wieder:
          "Die Damen und Herren, die Sie hier versammelt sehen, - Äh - sind meine lieben GÄste." Seine Durchlaucht deutet mit einer nachlÄssigen Armbewegung auf das Gesindel, "wØnschen Sie, Herr KommissÄr, - Äh - vielleicht vorgestellt zu werden?"
          Der KommissÄr verneint mit erzwungenem LÄcheln, stottert verlegen etwas von "leidiger PflichterfØllung" und rafft sich schlieñlich zu den Worten auf: "Ich sehe ja, dañ es hier anstÄndig zugeht."
          Das bringt Leben in den Dragonerrittmeister: er eilt in den Hintergrund auf den Damenhut mit der Strauñenfeder zu und zerrt im nÄchsten Augenblick unter dem Jubel der jungen Adligen - Rosina am Arm herunter in den Saal.
          Sie schwankt vor Trunkenheit und hÄlt die Augen geschlossen. Der groñe, kostbare Hut sitzt ihr schief, und sie hat nichts an als lange rosa StrØmpfe und - einen Herrenfrack auf dem bloñen KÃrper.
          Ein Zeichen: Die Musik fallt ein wie rasend - - - "Rititit - Rititit" - - - und schwemmt den gurgelnden Schrei fort, den der taubstumme Jaromir, als er Rosina gesehen, an der Wand drØben ausgestoñen hat. - -
          Wir wollen gehen.
          Zwakh ruft nach der Kellnerin.
          Der allgemeine LÄrm verschlingt seine Worte.
          Die Szenen vor mir werden phantastisch wie ein Opiumrausch.
          Der Rittmeister hÄlt die halbnackte Rosina im Arm und dreht sich langsam mit ihr im Takt.
          Die Menge hat respektvoll Platz gemacht.
          Dann murmelt es von den BÄnken: "Der Loisitschek, der Loisitschek", die HÄlse werden lang und zu dem tanzenden Paar gesellt sich ein zweites noch seltsameres. Ein weibisch aussehender Bursche in rosa Trikots, mit langem blondem Haar bis zu den Schultern, Lippen und Wangen geschminkt wie eine Dirne und die Augen niedergeschlagen in koketter Verwirrung, - hÄngt schmachtend an der Brust des FØrsten AthenstÄdt.
          Ein sØñlicher Walzer quillt aus der Harfe.
          Wilder Ekel vor dem Leben schnØrt mir die Kehle zusammen.
          Mein Blick sucht voll Angst die Ture: der KommissÄr steht dort abgewendet, um nichts zu sehen, und flØstert hastig mit dem Kriminalschutzmann, der etwas einsteckt. Es klirrt wie Handschellen.
          Die beiden spÄhen hinØber auf den blatternarbigen Loisa, der einen Augenblick sich zu verstecken sucht und dann gelÄhmt - das Gesicht kalkweiñ und verzerrt vor Entsetzen - stehen bleibt.
          Ein Bild zuckt in der Erinnerung vor mir auf und erlischt sofort: Das Bild, wie "Prokop lauscht, wie ich es vor einer Stunde gesehen, - Øber das Kanalgitter gebeugt - und ein Todesschrei gellt aus der Erde empor."
          0x01 graphic

          Ich will rufen und kann nicht. Kalte Finger greifen mir in den Mund und biegen mir die Zunge nach unten gegen die VorderzÄhne, dañ es wie ein Klumpen meinen Gaumen erfØllt und ich kein Wort hervorbringen kann.
          Ich kann die Finger nicht sehen, weiñ, dañ sie unsichtbar sind, und doch empfinde ich sie wie etwas KÃrperliches.
          Und klar steht es in meinem Bewuñtsein: sie gehÃren zu der gespenstischen Hand, die mir in meinem Zimmer in der Hahnpañgasse das Buch "Ibbur" gegeben hat.
          "Wasser, Wasser!" schreit Zwakh neben mir. Sie halten mir den Kopf und leuchten mir mit einer Kerze in die Pupillen.
          "In seine Wohnung schaffen, Arzt holen - der Archivar Hillel kennt sich aus in solchen Dingen - - zu ihm bringen!" beraten sie murmelnd.
          Dann liege ich starr wie eine Leiche auf einer Bahre und Prokop und Vrieslander tragen mich hinaus.

    Wach


          Zwakh war vor uns die Treppen hinaufgelaufen, und ich hÃrte, wie Mirjam, die Tochter des Archivars Hillel, ihn Ängstlich ausfragte und er sie zu beruhigen trachtete.
          Ich gab mir keine MØhe hinzuhorchen, was sie miteinander sprachen, und erriet mehr, als ich es in Worten verstand, dañ Zwakh erzÄhlte, mir sei ein Unfall zugestoñen und sie kÄmen bitten, mir die erste Hilfe zu leisten und mich wieder zu Bewuñtsein zu bringen.
          Noch immer konnte ich kein Glied rØhren, und die unsichtbaren Finger hielten meine Zunge; aber mein Denken war fest und sicher und das GefØhl des Grauens hatte von mir abgelassen. Ich wuñte genau, wo ich war und was mit mir geschah, und empfand es nicht einmal als absonderlich, dañ man mich wie einen Toten hinauftrug, samt der Bahre im Zimmer Schemajah Hillels niedersetzte und - allein lieñ.
          Eine ruhige, natØrliche Zufriedenheit, wie man sie beim Heimkommen nach einer langen Wanderung genieñt, erfØllte mich.
          Es war finster in der Stube, und mit verschwimmenden Umrissen hoben sich die Fensterrahmen in Kreuzesformen von dem mattleuchtenden Dunst ab, der von der Gasse heraufschimmerte.
          Alles kam mir selbstverstÄndlich vor und ich wunderte mich weder darØber, dañ Hillel mit einem jØdischen siebenflammigen Sabbatleuchter eintrat, noch, dañ er mir gelassen "guten Abend" wØnschte wie jemandem, dessen Kommen er erwartet hatte.
          Was ich die ganze Zeit, die ich im Hause wohnte, nie als etwas Besonderes bemerkt hatte, - trotzdem wir einander oft drei- bis viermal in der Woche auf den Stiegen begegnet waren, - fiel mir plÃtzlich stark an ihm auf, wie er so hin und her ging, einige GegenstÄnde auf der Kommode zurechtrØckte und schlieñlich mit dem Leuchter einen zweiten, gleichfalls siebenflammigen anzØndete.
          NÄmlich: sein Ebenmañ an Leib und Gliedern und der schmale, feine Schnitt des Gesichtes mit dem edlen Stirnaufbau.
          Er konnte, wie ich jetzt beim Schein der Kerzen sah, nicht Älter sein als ich: hÃchstens 45 Jahre zÄhlen.
          "Du bist um einige Minuten frØher gekommen", - begann er nach einer Weile - "als anzunehmen war, sonst hÄtte ich die Lichter schon vorher angezØndet." - Er deutete auf die beiden Leuchter, trat an die Bahre und richtete seine dunklen, tiefliegenden Augen, wie es schien, auf jemand, der mir zu HÄupten stand oder kniete, den ich aber nicht zu sehen vermochte. Dabei bewegte er seine Lippen und sprach lautlos einen Satz.
          Sofort lieñen die unsichtbaren Finger meine Zunge los und der Starrkrampf wich von mir. Ich richtete mich auf und blickte hinter mich: Niemand auñer Schemajah Hillel und mir war im Zimmer.
          Sein "Du" und die Bemerkung, dañ er mich erwartet habe, hatten also mir gegolten!?
          Viel befremdender als diese beiden UmstÄnde an sich wirkte es auf mich, dañ ich nicht imstande war, auch nur die geringste Verwunderung darØber zu empfinden.
          Hillel erriet offenbar meine Gedanken, denn er lÄchelte freundlich, wobei er mir von der Bahre aufstehen half und mit der Hand auf einen Sessel wies, und sagte:
          "Es ist auch nichts Wunderbares dabei. Schreckhaft wirken nur die gespenstischen Dinge - die Kischuph - auf den Menschen; das Leben kratzt und brennt wie ein hÄrener Mantel, aber die Sonnenstrahlen der geistigen Welt sind mild und erwÄrmend."
          Ich schwieg, da mir nichts einfiel, was ich ihm hÄtte erwidern sollen. Er schien auch keine Gegenrede erwartet zu haben, setzte sich mir gegenØber und fuhr gelassen fort: "Auch ein silberner Spiegel, hÄtte er Empfindung, litte nur Schmerzen, wenn er poliert wird. Glatt und glÄnzend geworden, gibt er alle Bilder wieder, die auf ihn fallen, ohne Leid und Erregung."
          "Wohl dem Menschen", setzte er leise hinzu, "der von sich sagen kann: Ich bin geschliffen." - Einen Augenblick versank er in Nachdenken, und ich hÃrte ihn einen hebrÄischen Satz murmeln: "LischuosÉcho Kiwisi Adoschem." Dann drang seine Stimme wieder klar an mein Ohr:
          "Du bist zu mir gekommen in tiefem Schlaf und ich habe dich wach gemacht. Im Psalm David heiñt es:
          "Da sprach ich in mir selbst: jetzt fange ich an: Die Rechte Gottes ist es, welche diese VerÄnderung gemacht hat."
          Wenn die Menschen aufstehen von ihren LagerstÄtten, so wÄhnen sie, sie hÄtten den Schlaf abgeschØttelt, und wissen nicht, dañ sie ihren Sinnen zum Opfer fallen und die Beute eines neuen viel tieferen Schlafes werden, als der war, dem sie soeben entronnen sind. Es gibt nur ein wahres Wachsein und das ist das, dem Du dich jetzt nÄherst. Sprich den Menschen davon und sie werden sagen, Du seist krank, denn sie kÃnnen dich nicht verstehen. Darum ist es zwecklos und grausam, ihnen davon zu reden.
          Sie fahren dahin wie ein Strom -
          Und sind wie ein Schlaf,
          Gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird -
          Das des Abends abgehauen wird und verdorret."
          0x01 graphic

          "Wer war der Fremde, der mich in meiner Kammer aufgesucht hat und mir das Buch "Ibbur" gab? Habe ich ihn im Wachen oder im Traum gesehen?", wollte ich fragen, doch Hillel antwortete mir, noch ehe ich den Gedanken in Worte fassen konnte:
          "Nimm an, der Mann, der zu Dir kam und den Du den Golem nennst, bedeute die Erweckung des Toten durch das innerste Geistesleben. Jedes Ding auf Erden ist nichts als ein ewiges Symbol in Staub gekleidet!
          Wie denkst Du mit dem Auge? Jede Form, die Du siehst, denkst Du mit dem Auge. Alles, was zur Form geronnen ist, war vorher ein Gespenst."
          Ich fØhlte, wie Begriffe, die bisher in meinem Hirn verankert gewesen, sich losrissen und gleich Schiffen ohne Steuer hinaustrieben in ein uferloses Meer.
          Ruhevoll fuhr Hillel fort:
          "Wer aufgeweckt worden ist, kann nicht mehr sterben; Schlaf und Tod sind dasselbe."
          "- - kann nicht mehr sterben?" - Ein dumpfer Schmerz ergriff mich.
          "Zwei Pfade laufen nebeneinander hin: der Weg des Lebens und der Weg des Todes. Du hast das Buch "Ibbur" genommen und darin gelesen. Deine Seele ist schwanger geworden vom Geist des Lebens", hÃrte ich ihn reden.
          "Hillel, Hillel, lañ mich den Weg gehen, den alle Menschen gehen: den des Sterbens!", schrie alles wild in mir auf.
          Schemajah Hillels Gesicht wurde starr vor Ernst.
          "Die Menschen gehen keinen Weg, weder den des Lebens, noch den des Todes. Sie treiben daher wie Spreu im Sturm. Im Talmud steht: "Ehe Gott die Welt schuf, hielt er den Wesen einen Spiegel vor; darin sahen sie die geistigen Leiden des Daseins und die Wonnen, die darauf folgten. Da nahmen die einen die Leiden auf sich. Die anderen aber weigerten sich, und diese strich Gott aus dem Buche der Lebenden." Du aber gehst einen Weg und hast ihn aus freiem Willen beschritten, - wenn Du es jetzt auch selbst nicht mehr weiñt: Du bist berufen von dir selbst. GrÄm' dich nicht: allmÄhlich, wenn das Wissen kommt, kommt auch die Erinnerung. Wissen und Erinnerung sind dasselbe."
          Der freundliche, fast liebenswØrdige Ton, in den Hillels Rede ausgeklungen war, gab mir meine Ruhe wieder, und ich fØhlte mich geborgen wie ein krankes Kind, das seinen Vater bei sich weiñ.
          Ich blickte auf und sah, dañ mit einemmal viele Gestalten im Zimmer waren und uns im Kreis umstanden: einige in weiñen SterbegewÄndern, wie sie die alten Rabbiner trugen, andere mit dreieckigem Hut und Silberschnallen an den Schuhen - aber Hillel fuhr mir mit der Hand Øber die Augen, und die Stube war wieder leer.
          Dann geleitete er mich hinaus zur Treppe und gab mir eine brennende Kerze mit, damit ich mir hinaufleuchten kÃnne in mein Zimmer.
          0x01 graphic

          Ich legte mich zu Bett und wollte schlafen, aber der Schlummer kam nicht, und ich geriet stattdessen in einen sonderbaren Zustand, der weder TrÄumen war, noch Wachen, noch Schlafen.
          Das Licht hatte ich ausgelÃscht, aber trotzdem war alles in der Stube so deutlich, dañ ich jede einzelne Form genau unterscheiden konnte. Dabei fØhlte ich mich vollkommen behaglich und frei von der gewissen qualvollen Unruhe, die einen foltert, wenn man sich in Ähnlicher Verfassung befindet.
          Nie vorher in meinem Leben wÄre ich imstande gewesen, so scharf und prÄzis zu denken wie eben jetzt. Der Rhythmus der Gesundheit durchstrÃmte meine Nerven und ordnete meine Gedanken in Reih' und Glied wie eine Armee, die nur auf meine Befehle wartete.
          Ich brauchte bloñ zu rufen, und sie traten vor mich und erfØllten, was ich wØnschte.
          Eine Gemme, die ich in den letzten Wochen aus Aventurinstein zu schneiden versucht hatte, - ohne damit zurechtzukommen, da sich die vielen zerstreuten Flimmer in dem Mineral niemals mit den GesichtszØgen decken wollten, die ich mir vorgestellt, - fiel mir ein, und im Nu sah ich die LÃsung vor mir und wuñte genau, wie ich den Stichel zu fØhren hatte, um der Struktur der Masse gerecht zu werden.
          Ehedem Sklave einer Horde phantastischer EindrØcke und Traumgesichter, von denen ich oft nicht gewuñt: waren es Ideen oder GefØhle, sah ich mich jetzt plÃtzlich als Herr und KÃnig im eigenen Reich.
          Rechenexempel, die ich frØher nur mit ächzen und auf dem Papier hÄtte bewÄltigen kÃnnen, fØgten sich mir mit einem Mal im Kopf spielend zum Resultat. Alles mit Hilfe einer neuen, in mir erwachten FÄhigkeit, das zu sehen und festzuhalten, was ich gerade brauchte: Ziffern, Formen, GegenstÄnde oder Farben. Und wenn es sich um Fragen handelte, die durch derlei Werkzeuge nicht zu lÃsen waren: - philosophische Probleme und Ähnliches -, so trat an Stelle des inneren Sehens das GehÃr, wobei die Stimme Schemajah Hillels die Rolle des Sprechers Øbernahm.
          Erkenntnisse seltsamster Art wurden mir zuteil.
          Was ich tausendmal im Leben achtlos als bloñes Wort an meinem Ohr hatte vorØbergehen lassen, stand wertgetrÄnkt bis in die tiefste Faser vor mir; was ich "auswendig" gelernt, "erfañte" ich mit einem Schlag als mein "Eigen"tum. Der Wortbildung Geheimnisse, die ich nie geahnt, lagen nackt vor mir.
          Die "hohen" Ideale der Menschheit, die vordem mit kommerzienrÄtlich biederer Miene, die Pathosbrust mit Orden bekleckst, mich von oben herab behandelt hatten, - demØtig nahmen sie jetzt die Maske von der Fratze und entschuldigten sich: sie seien selber ja nur Bettler, aber immerhin KrØcken fØr - einen noch frecheren Schwindel.
          TrÄumte ich nicht vielleicht doch? Hatte ich etwa gar nicht mit Hillel gesprochen?
          Ich griff nach dem Sessel neben meinem Bett.
          Richtig: dort lag die Kerze, die mir Schemajah mitgegeben hatte; und selig wie ein kleiner Junge in der Christfestnacht, der sich Øberzeugt hat, dañ der wundervolle Hampelmann wirklich und leibhaftig vorhanden ist, wØhlte ich mich wieder in die Kissen.
          Und wie ein SpØrhund drang ich weiter vor in das Dickicht der geistigen RÄtsel, die mich rings umgaben.
          Zuerst versuchte ich zu dem Punkt in meinem Leben zurØckzugelangen, bis zu dem meine Erinnerung reichte. Nur von dort aus - glaubte ich - kÃnnte es mir mÃglich sein, jenen Teil meines Daseins zu Øberblicken, der fØr mich, durch eine seltsame FØgung des Schicksals in Finsternis gehØllt lag.
          Aber wie sehr ich mich auch bemØhte, ich kam nicht weiter, als dañ ich mich wie einst in dem dØsteren Hofe unseres Hauses stehen sah und durch den Torbogen den TrÃdlerladen des Aaron Wassertrum unterschied - als ob ich ein Jahrhundert lang als Gemmenschneider in diesem Hause gewohnt hÄtte, immer gleich alt und ohne jemals ein Kind gewesen zu sein!
          Schon wollte ich es als hoffnungslos aufgeben, weiter zu schØrfen in den SchÄchten der Vergangenheit, da begriff ich plÃtzlich mit leuchtender Klarheit, dañ in meiner Erinnerung wohl die breite Heerstrañe der Geschehnisse mit dem gewissen Torbogen endete, nicht aber eine Menge winzig schmaler Fuñsteige, die wohl bisher den Hauptpfad stÄndig begleitet hatten, von mir jedoch nicht beachtet worden waren. "Woher", schrie es mir fast in die Ohren, "hast du denn die Kenntnisse, dank derer du jetzt dein Leben fristest? Wer hat dich Gemmenschneiden gelehrt - und Gravieren und all das andere? Lesen, schreiben, sprechen - und essen - und gehen, atmen, denken und fØhlen?"
          Sofort griff ich den Rat meines Innern auf. Systematisch ging ich mein Leben zurØck.
          Ich zwang mich in verkehrter aber ununterbrochener Reihenfolge zu Øberlegen: was ist soeben geschehen, was war der Ausgangspunkt dazu, was lag vor diesem und so weiter?
          Wieder war ich bei dem gewissen Torbogen angelangt - - jetzt! Jetzt! Nur ein kleiner Sprung ins Leere und der Abgrund, der mich von dem Vergessen trennte, muñte Øberflogen sein - da trat ein Bild vor mich, das ich auf der RØckwanderung meiner Gedanken Øbersehen hatte: Schemajah Hillel fuhr mir mit der Hand Øber die Augen - genau wie vorhin unten in seinem Zimmer.
          Und weggewischt war alles. Sogar der Wunsch, weiter zu forschen.
          Nur eins stand fest als bleibender Gewinn: die Erkenntnis: die Reihe der Begebenheiten im Leben ist eine Sackgasse, so breit und gangbar sie auch zu sein scheint. Die schmalen, verborgenen Steige sind's, die in die verlorene Heimat zurØckfØhren: das, was mit feiner, kaum sichtbarer Schrift in unserem KÃrper eingraviert ist, und nicht die scheuñliche Narbe, die die Raspel des Äuñeren Lebens hinterlañt, - birgt die LÃsung der letzten Geheimnisse.
          So, wie ich zurØckfinden kÃnnte in die Tage meiner jugend, wenn ich in der Fibel das Alphabet in verkehrter Folge vornÄhme von Z bis A, um dort anzulangen, wo ich in der Schule zu lernen begonnen, - so, begriff ich, muñte ich auch wandern kÃnnen in die andere ferne Heimat, die jenseits allen Denkens liegt.
          Eine Weltkugel an Arbeit wÄlzte sich auf meine Schultern. Auch Herkules trug eine Zeitlang das GewÃlbe des Himmels auf seinem Haupte, fiel mir ein, und versteckte Bedeutung schimmerte mir aus der Sage entgegen. Und wie Herkules wieder loskam durch eine List, indem er den Riesen Atlas bat: "Lañ mich nur einen Bausch von Stricken um den Kopf binden, damit mir die entsetzliche Last nicht das Gehirn zersprengt", so gÄbe es vielleicht einen dunklen Weg - dÄmmerte mir - von dieser Klippe weg.
          Ein tiefer Argwohn, der FØhrerschaft meiner Gedanken weiter blind zu vertrauen, beschlich mich plÃtzlich. Ich legte mich gerade und verschloñ mit den Fingern Augen und Ohren, um nicht abgelenkt zu werden durch die Sinne. Um jeden Gedanken zu tÃten.
          Doch mein Wille zerschellte an dem ehernen Gesetz: Ich konnte immer nur einen Gedanken durch einen anderen vertreiben, und starb der eine, schon mÄstete sich der nÄchste an seinem Fleische. Ich flØchtete in den brausenden Strom meines Blutes, aber die Gedanken folgten mir auf dem Fuñ; ich verbarg mich im HÄmmerwerk meines Herzens: nur eine kleine Weile, und sie hatten mich entdeckt.
          Abermals kam mir da Hillels freundliche Stimme zu Hilfe und sagte: "Bleib auf deinem Weg und wanke nicht! Der SchlØssel zur Kunst des Vergessens gehÃrt unseren BrØdern, die den Pfad des Todes wandeln; du aber bist geschwÄngert vom Geiste des - Lebens."
          Das Buch Ibbur erschien vor mir, und zwei Buchstaben flammten darin auf: der eine, der das erzene Weib bedeutete, mit dem Pulsschlag, mÄchtig, gleich einem Erdbeben, - der andere in unendlicher Ferne: der Hermaphrodit auf dem Thron von Perlmutter, auf dem Haupte die Krone aus rotem Holz.
          Dann fuhr Schemajah Hillel ein drittes Mal mit der Hand Øber meine Augen, und ich schlummerte ein.

    Schnee


          "Mein lieber und verehrter Meister Pernath!
          Ich schreibe Ihnen diesen Brief in fliegender Eile und hÃchster Angst. Bitte, vernichten Sie ihn sofort, nachdem Sie ihn gelesen haben, - oder besser noch, bringen Sie ihn mir samt Kuvert mit. - Ich hÄtte keine Ruhe sonst.
          Sagen Sie keiner Menschenseele, dañ ich Ihnen geschrieben habe. Auch nicht, wohin Sie heute gehen werden!
          Ihr ehrliches gutes Gesicht hat mir - "neulich" - (Sie werden durch diese kurze Anspielung auf ein Ereignis, dessen Zeuge Sie waren, erraten, wer Ihnen diesen Brief schreibt, denn ich fØrchte mich, meinen Namen darunter zu setzen) - so viel Vertrauen eingeflÃñt, und weiter, dañ Ihr lieber, seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat, - alles das gibt mir den Mut, mich an Sie, als vielleicht den einzigen Menschen, der noch helfen kann, zu wenden.
          Ich flehe Sie an, kommen Sie heute, abends um 5 Uhr, in die Domkirche auf dem Hradschin."
          Eine Ihnen bekannte Dame.
          0x01 graphic

          Wohl eine Viertelstunde lang sañ ich da und hielt den Brief in der Hand. Die seltsame, weihevolle Stimmung, die mich von gestern nacht her umfangen gehalten, war mit einem Schlag gewichen, - weggeweht von dem frischen Windhauch eines neuen irdischen Tages. Ein junges Schicksal kam lÄchelnd und verheiñungsvoll - ein FrØhlingskind - auf mich zu. Ein Menschenherz suchte Hilfe bei mir. - Bei mir! Wie sah meine Stube plÃtzlich so anders aus! Der wurmstichige, geschnitzte Schrank blickte so zufrieden drein, und die vier Sessel kamen mir vor wie alte Leute, die um den Tisch herumsitzen und behaglich kichernd Tarock spielen.
          Meine Stunden hatten einen Inhalt bekommen, einen Inhalt voll Reichtum und Glanz.
          So sollte der morsche Baum noch FrØchte tragen?
          Ich fØhlte, wie mich eine lebendige Kraft durchrieselte, die bisher schlafen gelegen in mir - verborgen gewesen in den Tiefen meiner Seele, verschØttet von dem GerÃll, das der Alltag hÄuft, wie eine Quelle losbricht aus dem Eis, wenn der Winter zerbricht.
          Und ich wuñte so gewiñ, wie ich den Brief in der Hand hielt, dañ ich wØrde helfen kÃnnen, um was es auch ginge. Der Jubel in meinem Herzen gab mir die Sicherheit.
          Wieder und wieder las ich die Stelle: "und weiter, dañ Ihr lieber seliger Vater mich als Kind unterrichtet hat - - -"; - mir stand der Atem still. Klang das nicht wie Verheiñung: "Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein?" Die Hand, die sich mir hinstreckte, Hilfe suchend, hielt mir das Geschenk entgegen: die RØckerinnerung, nach der ich dØrstete, - wØrde mir das Geheimnis offenbaren, den Vorhang heben helfen, der sich hinter meiner Vergangenheit geschlossen hatte!
          "Ihr lieber seliger Vater" - -, wie fremdartig die Worte klangen, als ich sie mir vorsagte! - Vater! - Einen Augenblick sah ich das mØde Gesicht eines alten Mannes mit weiñem Haar in dem Lehnstuhl neben meiner Truhe auftauchen - fremd, ganz fremd und doch so schauerlich bekannt; - - dann kamen meine Augen wieder zu sich, und die Hammerlaute meines Herzens schlugen die greifbare Stunde der Gegenwart.
          Erschreckt fuhr ich auf: hatte ich die Zeit vertrÄumt? Ich blickte auf die Uhr: Gott sei Lob, erst halb fØnf.
          Ich ging in meine Schlafkammer nebenan, holte Hut und Mantel und schritt die Treppen hinab. Was kØmmerte mich heute das Geraune der dunklen Winkel, die bÃsartigen, engherzigen, verdrossenen Bedenken, die immer von ihnen aufstiegen: "Wir lassen dich nicht, - du bist unser, - wir wollen nicht, dañ du dich freust - das wÄre noch schÃner, Freude hier im Haus!"
          Der feine, vergiftete Staub, der sich sonst aus allen diesen GÄngen und Ecken her um mich gelegt mit wØrgenden HÄnden: heute wich er vor dem lebendigen Hauch meines Mundes. Einen Augenblick blieb ich stehen an Hillels TØr.
          Sollte ich eintreten?
          Eine heimliche Scheu hielt mich ab zu klopfen. Mir war so ganz anders heute, - so, als dØrfe ich gar nicht hinein zu ihm. Und schon trieb mich die Hand des Lebens vorwÄrts, die Stiegen hinab. - -
          Die Gasse lag weiñ im Schnee.
          Ich glaube, dañ viele Leute mich gegrØñt haben; ich erinnere mich nicht, ob ich ihnen gedankt. Immer wieder fØhlte ich an die Brust, ob ich den Brief auch bei mir trØge:
          Es ging eine WÄrme von der Stelle aus. - -
          0x01 graphic

          Ich wanderte durch die Bogen der gequaderten LaubengÄnge auf dem AltstÄdter Ring und an dem Erzbrunnen vorbei, dessen barockes Gitter voll Eiszapfen hing, hinØber Øber die steinerne BrØcke mit ihren Heiligenstatuen und dem Standbild des Johannes von Nepomuk.
          Unten schÄumte der Fluñ voll Hañ gegen die Fundamente.
          Halb im Traum fiel mein Blick auf den gehÃhlten Sandstein der heiligen Luitgard mit "den Qualen der Verdammten" darin: dicht lag der Schnee auf den Lidern der BØñenden und den Ketten an ihren betend erhobenen HÄnden.
          Torbogen nahmen mich auf und entlieñen mich, PalÄste zogen langsam an mir vorØber, mit geschnitzten, hochmØtigen Portalen, darinnen LÃwenkÃpfe in bronzene Ringe bissen.
          Auch hier Øberall Schnee, Schnee. Weich, weiñ wie das Fell eines riesigen EisbÄren.
          Hohe, stolze Fenster, die Simse beglitzert und vereist, schauten teilnahmslos zu den Wolken empor.
          Ich wunderte mich, wie der Himmel so voll ziehender VÃgel war.
          Als ich die unzÄhligen Granitstufen emporstieg zum Hradschin, jede so breit, wie wohl vier Menschenleiber lang sind, versank Schritt um Schritt die Stadt mit ihren DÄchern und Giebeln vor meinem Sinn. - - -
          0x01 graphic

          Schon schlich die DÄmmerung die HÄuserreihen entlang, da trat ich auf den einsamen Platz, aus dessen Mitte der Dom aufragt zum Thron der Engel.
          Fuñstapfen - die RÄnder mit Krusten aus Eis - fØhrten hin zum Nebentor.
          Von irgendwo aus einer fernen Wohnung klangen leise, verlorene TÃne eines Harmoniums in die Abendstille hinaus. Wie TrÄnentropfen der Schwermut fielen sie in die Verlassenheit.
          Ich hÃrte hinter mir das Seufzen des Schlagpolsters, wie die KirchentØre mich aufnahm, dann stand ich im Dunkel, und der goldene Altar blinkte in starrer Ruhe herØber zu mir durch den grØnen und blauen Schimmer sterbenden Lichtes, das durch die farbigen Fenster auf die BetstØhle niedersank. Funken sprØhten aus roten, glÄsernen Ampeln.
          Welker Duft von Wachs und Weihrauch.
          Ich lehnte mich in eine Bank. Mein Blut ward seltsam still in diesem Reich der Regungslosigkeit.
          Ein Leben ohne Herzschlag erfØllte den Raum - ein heimliches, geduldiges Warten.
          Die silbernen Reliquienschreine lagen im ewigen Schlaf.
          Da! - Aus weiter, weiter Ferne drang das GerÄusch von Pferdehufen gedÄmpft, kaum merklich an mein Ohr, wollte nÄher kommen und verstummte.
          Ein matter Schall, wie wenn ein Wagenschlag zufÄllt. - - -
          0x01 graphic

          Das Rauschen eines seidenen Kleides war auf mich zugekommen, und eine zarte, schmale Damenhand hatte leicht meinen Arm berØhrt.
          "Bitte, bitte, gehen wir doch dort neben den Pfeiler; es widerstrebt mir, hier in den BetstØhlen von den Dingen zu sprechen, die ich Ihnen sagen muñ."
          Die weihevollen Bilder ringsum zerrannen zu nØchterner Klarheit. Der Tag hatte mich plÃtzlich angefañt.
          "Ich weiñ gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, Meister Pernath, dañ Sie mir zuliebe bei dem schlechten Wetter den langen Weg hier herauf gemacht haben."
          Ich stotterte ein paar banale Worte.
          "- - Aber ich wuñte keinen andern Ort, wo ich sicherer vor Nachforschung und Gefahr bin, als diesen. Hierher, in den Dom, ist uns gewiñ niemand nachgegangen."
          Ich zog den Brief hervor und reichte ihn der Dame.
          Sie war fast ganz vermummt in einen kostbaren Pelz, aber schon am Klang ihrer Stimme hatte ich sie wiedererkannt als dieselbe, die damals voll Entsetzen vor Wassertrum in mein Zimmer in der Hahnpañgasse flØchtete. Ich war auch nicht erstaunt darØber, denn ich hatte niemand anderen erwartet.
          Meine Augen hingen an ihrem Gesicht, das in der DÄmmerung der Mauernische wohl noch blasser schien, als es in Wirklichkeit sein mochte. Ihre SchÃnheit benahm mir fast den Atem, und ich stand wie gebannt. Am liebsten wÄre ich vor ihr niedergefallen und hÄtte ihre FØñe gekØñt, dañ sie es war, der ich helfen sollte, dañ sie mich dazu erwÄhlt hatte.
          0x01 graphic

          "Vergessen Sie, ich bitte Sie von Herzen darum, - wenigstens solange wir hier sind - die Situation, in der Sie mich damals gesehen haben", sprach sie gepreñt weiter, "ich weiñ auch gar nicht, wie Sie Øber solche Dinge denken - -"
          "Ich bin ein alter Mann geworden, aber kein einziges Mal in meinem Leben war ich so vermessen, dañ ich mich Richter gedØnkt hÄtte Øber meine Mitmenschen", war das einzige, was ich hervorbrachte.
          "Ich danke Ihnen, Meister Pernath", sagte sie warm und schlicht. "Und jetzt hÃren Sie mich geduldig an, ob Sie mir in meiner Verzweiflung nicht helfen oder wenigstens einen Rat geben kÃnnen." - Ich fØhlte, wie eine wilde Angst sie packte, und hÃrte ihre Stimme zittern. - "Damals - - im Atelier - - - damals brach die schreckliche Gewiñheit Øber mich herein, dañ jener grauenhafte Oger mir mit Vorbedacht nachgespØrt hat. - Schon durch Monate war mir aufgefallen, dañ, wohin ich auch immer ging, - ob allein, oder mit meinem Gatten, oder mit - - - mit - mit Dr. Savioli, - stets das entsetzliche Verbrechergesicht dieses TrÃdlers irgendwo in der NÄhe auftauchte. Im Schlaf und im Wachen verfolgten mich seine schielenden Augen. Noch macht sich ja kein Zeichen bemerkbar, was er vorhat, aber um so qualvoller drosselt mich nachts die Angst: wann wirft er mir die Schlinge um den Hals!
          Anfangs wollte mich Dr. Savioli damit beruhigen, was denn so ein armseliger TrÃdler wie dieser Aaron Wassertrum Øberhaupt vermÃchte - schlimmsten Falles kÃnnte es sich nur um eine geringfØgige Erpressung oder dergleichen handeln, aber jedesmal wurden seine Lippen weiñ, wenn der Name Wassertrum fiel. Ich ahne: Dr. Savioli hÄlt mir etwas geheim, um mich zu beruhigen, - irgend etwas Furchtbares, was ihn oder mich das Leben kosten kann.
          Und dann erfuhr ich, was er mir sorgsam verheimlichen wollte: dañ ihn der TrÃdler mehrere Male des Nachts in seiner Wohnung besucht hat! - Ich weiñ es, ich spØre es in jeder Faser meines KÃrpers: es geht etwas vor, das sich langsam um uns zusammenzieht wie die Ringe einer Schlange. - Was hat dieser MÃrder dort zu suchen? Warum kann Dr. Savioli ihn nicht abschØtteln? Nein, nein, ich sehe das nicht lÄnger mit an; ich muñ etwas tun. Irgend etwas, ehe es mich in den Wahnsinn treibt."
          Ich wollte ihr ein paar Worte des Trostes entgegnen, aber sie lieñ mich nicht zu Ende sprechen.
          "Und in den letzten Tagen nahm der Alp, der mich zu erwØrgen droht, immer greifbarere Formen an. Dr. Savioli ist plÃtzlich erkrankt, - ich kann mich nicht mehr mit ihm verstÄndigen - darf ihn nicht besuchen, wenn ich nicht stØndlich gewÄrtigen soll, dañ meine Liebe zu ihm entdeckt wird -; er liegt in Delirien, und das einzige, was ich erkunden konnte, ist, dañ er sich im Fieber von einem Scheusal verfolgt wÄhnt, dessen Lippen von einer Hasenscharte gespalten sind: - Aaron Wassertrum!
          Ich weiñ, wie mutig Dr. Savioli ist; um so entsetzlicher - kÃnnen Sie sich das vorstellen? - wirkt es auf mich, ihn jetzt gelÄhmt vor einer Gefahr, die ich selbst nur wie die dunkle NÄhe eines grauenhaften WØrgengels empfinde, zusammengebrochen zu sehen.
          Sie werden sagen, ich sei feige, und warum ich mich denn nicht offen zu Dr. Savioli bekenne, alles von mir wØrfe, wenn ich ihn doch so liebe -: alles, Reichtum, Ehre, Ruf und so weiter, aber -" sie schrie es fÃrmlich heraus, dañ es widerhallte von den Chorgalerien, - "ich kann nicht! - Ich hab' doch mein Kind, mein liebes, blondes, kleines MÄdel! Ich kann doch mein Kind nicht hergeben! - Glauben Sie denn, mein Mann lieñe es mir?! Da, da, nehmen Sie das, Meister Pernath" - sie riñ im Wahnwitz ein TÄschchen auf, das vollgestopft war mit PerlenschnØren und Edelsteinen - "und bringen Sie es dem Verbrecher; - ich weiñ, er ist habsØchtig - er soll sich alles holen, was ich besitze, aber mein Kind soll er mir lassen. - Nicht wahr, er wird schweigen? - So reden Sie doch um Jesu Christi willen, sagen Sie nur ein Wort, dañ Sie mir helfen wollen!"
          Es gelang mir mit grÃñter MØhe, die Rasende wenigstens so weit zu beruhigen, dañ sie sich auf eine Bank niederlieñ.
          Ich sprach zu ihr, wie es mir der Augenblick eingab. Wirre, zusammenhanglose SÄtze.
          Gedanken jagten dabei in meinem Hirn, so dañ ich selbst kaum verstand, was mein Mund redete, - Ideen phantastischer Art, die zusammenbrachen, kaum dañ sie geboren waren.
          Geistesabwesend haftete mein Blick auf einer bemalten MÃnchsstatue in der Wandnische. Ich redete und redete. AllmÄhlich verwandelten sich die ZØge der Statue, die Kutte wurde ein fadenscheiniger øberzieher mit hochgeklapptem Kragen, und ein jugendliches Gesicht mit abgezehrten Wangen und hektischen Flecken wuchs daraus empor.
          Ehe ich die Vision verstehen konnte, war der MÃnch wieder da. Meine Pulse schlugen zu laut.
          Die unglØckliche Frau hatte sich Øber meine Hand gebeugt und weinte still.
          Ich gab ihr von der Kraft, die in mich eingezogen war in der Stunde, als ich den Brief gelesen hatte, und mich jetzt abermals ØbermÄchtig erfØllte, und ich sah, wie sie langsam daran genas.
          "Ich will Ihnen sagen, warum ich mich gerade an Sie gewendet habe, Meister Pernath", fing sie nach langem Schweigen leise wieder an. "Es waren ein paar Worte, die Sie mir einmal gesagt haben - und die ich nie vergessen konnte die vielen Jahre hindurch - -"
          Vor vielen Jahren? Mir gerann das Blut.
          "- - Sie nahmen Abschied von mir - ich weiñ nicht mehr, weshalb und wieso, ich war ja noch ein Kind, - und Sie sagten so freundlich und doch so traurig:
          'Es wird wohl nie die Zeit kommen, aber gedenken Sie meiner, wenn Sie je im Leben nicht aus noch ein wissen. Vielleicht gibt mir Gott der Herr, dañ ich es dann sein darf, der Ihnen hilft.' - Ich habe mich damals abgewendet und rasch meinen Ball in den Springbrunnen fallen lassen, damit Sie meine TrÄnen nicht sehen sollten. Und dann wollte ich Ihnen das rote Korallenherz schenken, das ich an einem Seidenband um den Hals trug, aber ich schÄmte mich, weil das gar so lÄcherlich gewesen wÄre." - - -
          Erinnerung!
          - Die Finger des Starrkrampfes tasteten nach meiner Kehle. Ein Schimmer wie aus einem vergessenen, fernen Land der Sehnsucht trat vor mich - unvermittelt und schreckhaft: Ein kleines MÄdchen in weiñem Kleid und ringsum die dunkle Wiese eines Schloñparks, von alten Ulmen umsÄumt. Deutlich sah ich es wieder vor mir. - -
          0x01 graphic

          Ich muñte mich verfÄrbt haben; ich merkte es an der Hast, mit der sie fortfuhr: "Ich weiñ ja, dañ Ihre Worte damals nur der Stimmung des Abschieds entsprangen, aber sie waren mir oft ein Trost und - und ich danke Ihnen dafØr."
          Mit aller Kraft biñ ich die ZÄhne zusammen und jagte den heulenden Schmerz, der mich zerfetzte, in die Brust zurØck.
          Ich verstand: Eine gnÄdige Hand war es gewesen, die die Riegel vor meiner Erinnerung zugeschoben hatte. Klar stand jetzt in meinem Bewuñtsein geschrieben, was ein kurzer Schimmer aus alten Tagen herØbergetragen: Eine Liebe, die fØr mein Herz zu stark gewesen, hatte fØr Jahre mein Denken zernagt, und die Nacht des Irrsinns war damals der Balsam fØr meinen wunden Geist geworden.
          AllmÄhlich senkte sich die Ruhe des Erstorbenseins Øber mich und kØhlte die TrÄnen hinter meinen Augenlidern. Der Hall von Glocken zog ernst und stolz durch den Dom, und ich konnte freudig lÄchelnd der in die Augen sehen, die gekommen war, Hilfe bei mir zu suchen.
          0x01 graphic

          Wieder hÃrte ich das dumpfe Fallen des Wagenschlags und das Trappen der Hufe. - - -
          0x01 graphic

          Durch nachtblauglitzernden Schnee ging ich hinab in die Stadt.
          Die Laternen staunten mich an mit zwinkernden Augen, und aus geschichteten Bergen von TannenbÄumen raunte es von Flitter und silbernen NØssen und vom kommenden Christfest.
          Auf dem Rathausplatz an der MariensÄule murmelten bei Kerzenglanz die alten Bettelweiber mit den grauen KopftØchern der Muttergottes ihren Rosenkranz.
          Vor dem dunklen Eingang zur Judenstadt hockten die Buden des Weihnachtsmarktes. Mitten darin, mit rotem Tuch bespannt, leuchtete grell, von schwelenden Fackeln beschienen, die offene BØhne eines Marionettentheaters.
          Zwakhs Policcinell in Purpur und Violett, die Peitsche in der Hand und daran an der Schnur einen TotenschÄdel, ritt klappernd auf hÃlzernem Schimmel Øber die Bretter.
          In Reihen fest aneinander gedrÄngt starrten die Kleinen - die PelzmØtzen tief Øber die Ohren gezogen - mit offenem Munde hinauf und lauschten gebannt den Versen des Prager Dichters Oskar Wiener, die mein Freund Zwakh da drinnen im Kasten sprach:
          "Ganz vorne schritt ein Hampelmann,
          Der Kerl war mager wie ein Dichter
          Und hatte bunte Lappen an
          Und torkelte und schnitt Gesichter." - - -
          0x01 graphic

          Ich bog in die Gasse ein, die schwarz und winklig auf den Platz mØndete. Dicht, Kopf an Kopf, stand lautlos eine Menschenmenge da in der Finsternis vor einem Anschlagzettel.
          Ein Mann hatte ein Streichholz angezØndet, und ich konnte einige Zeilen bruchstØckweise lesen. Mit dumpfen Sinnen nahm mein Bewuñtsein ein paar Worte auf:
          Vermiñt!
          1000 fl Belohnung
          älterer Herr... schwarz gekleidet...
          ......... Signalement:
          ... fleischiges, glattrasiertes Gesicht......
          ...... Haarfarbe: weiñ.........
          .. Polizeidirektion... Zimmer Nr....
          Wunschlos, teilnahmslos, ein lebender Leichnam, ging ich langsam hinein in die lichtlosen HÄuserreihen.
          Eine Handvoll winziger Sterne glitzerte auf dem schmalen, dunklen Himmelsweg Øber den Giebeln.
          Friedvoll schweiften meine Gedanken zurØck in den Dom, und die Ruhe meiner Seele wurde noch beseligender und tiefer, da drang vom Platz herØber, schneidend klar - als stØnde sie dicht an meinem Ohr - die Stimme des Marionettenspielers durch die Winterluft:
          "Wo ist das Herz aus rotem Stein?
          Es hing an einem Seidenbande
          Und funkelte im FrØhrotschein." - - -

    Spuk


          Bis tief in die Nacht hatte ich ruhelos mein Zimmer durchmessen und mir das Gehirn zermartert, wie ich "ihr" Hilfe bringen kÃnnte.
          Oft war ich nahe daran gewesen, hinunter zu Schemajah Hillel zu gehen, ihm zu erzÄhlen, was mir anvertraut worden, und ihn um Rat zu bitten. Aber jedesmal verwarf ich den Entschluñ.
          Er stand im Geist so riesengroñ vor mir, dañ es eine Entweihung schien, ihn mit Dingen, die das Äuñere Leben betrafen, zu behelligen, dann wieder kamen Momente, wo mich brennende Zweifel befielen, ob ich in Wirklichkeit alles das erlebt hÄtte, was nur eine kurze Spanne Zeit zurØcklag und doch so seltsam verblañt schien, verglichen mit den lebenstrotzenden Erlebnissen des verflossenen Tages.
          Hatte ich nicht doch getrÄumt? Durfte ich - ein Mensch, dem das UnerhÃrte geschehen war, dañ er seine Vergangenheit vergessen hatte, - auch nur eine Sekunde lang als Gewiñheit annehmen, wofØr als einziger Zeuge bloñ meine Erinnerung die Hand aufhob?
          Mein Blick fiel auf die Kerze Hillels, die immer noch auf dem Sessel lag. Gott sei Dank, wenigstens das eine stand fest: ich war mit ihm in persÃnlicher BerØhrung gewesen!
          Sollte ich nicht ohne Besinnen hinunterlaufen zu ihm, seine Knie umfassen und wie Mensch zu Mensch ihm klagen, dañ ein unsÄgliches Weh an meinem Herzen frañ?
          Schon hielt ich die Klinke in der Hand, da lieñ ich wieder los; ich sah voraus, was kommen wØrde: Hillel wØrde mir mild Øber die Augen fahren und - - - nein, nein, nur das nicht! Ich hatte kein Recht, Linderung zu begehren. "Sie" vertraute auf mich und meine Hilfe, und wenn die Gefahr, in der sie sich fØhlte, mir in Momenten auch klein und nichtig erscheinen mochte, - sie empfand sie sicherlich als riesengroñ!
          Hillel um Rat zu bitten, blieb morgen Zeit - ich zwang mich, kalt und nØchtern zu denken; - ihn jetzt - mitten in der Nacht zu stÃren? - es ging nicht an. So wØrde nur ein VerrØckter handeln.
          Ich wollte die Lampe anzØnden; dann lieñ ich es wieder sein: der Abglanz des Mondlichts fiel von den DÄchern gegenØber herein in mein Zimmer und gab mehr Helle, als ich brauchte. Und ich fØrchtete, die Nacht kÃnnte noch langsamer vergehen, wenn ich Licht machte.
          Es lag so viel Hoffnungslosigkeit in dem Gedanken, die Lampe anzuzØnden, nur um den Tag zu erwarten, - eine leise Angst sagte mir, der Morgen rØcke dadurch in unerlebbare Ferne.
          Ich trat ans Fenster: Wie ein gespenstischer, in der Luft schwebender Friedhof lagen die Reihen verschnÃrkelter Giebel dort oben - Leichensteine mit verwitterten Jahreszahlen, getØrmt Øber die dunklen ModergrØfte, diese "WohnstÄtten", darein sich das Gewimmel der Lebenden HÃhlen und GÄnge genagt.
          Lange stand ich so und starrte hinauf, bis ich mich leise, ganz leise zu wundern begann, warum ich denn nicht aufschrÄke, wo doch ein GerÄusch von verhaltenen Schritten durch die Mauern neben mir deutlich an mein Ohr drang.
          Ich horchte hin: Kein Zweifel, wieder ging da ein Mensch. Das kurze ächzen der Dielen verriet, wie seine Sohle zÃgernd schlich.
          Mit einem Schlage war ich ganz bei mir. Ich wurde fÃrmlich kleiner, so preñte sich alles in mir zusammen unter dem Druck des Willens, zu hÃren. Jedes Zeitempfinden gerann zu Gegenwart.
          Noch ein rasches Knistern, das vor sich selbst erschrak und hastig abbrach. Dann Totenstille. Jene lauernde, grauenhafte Stille, die ihr eigener VerrÄter ist und Minuten ins Ungeheuerliche wachsen macht.
          Regungslos stand ich, das Ohr an die Wand gedrØckt, das drohende GefØhl in der Kehle, dañ drØben einer stand, genauso wie ich und dasselbe tat.
          Ich lauschte und lauschte:
          Nichts.
          Der Atelierraum nebenan schien wie abgestorben.
          Lautlos - auf den Zehenspitzen - stahl ich mich an den Sessel bei meinem Bett, nahm Hillels Kerze und zØndete sie an.
          Dann Øberlegte ich: Die eiserne SpeichertØre drauñen auf dem Gang, die zum Atelier Saviolis fØhrte, ging nur von drØben aufzuklinken.
          Aufs Geratewohl ergriff ich ein hakenfÃrmiges StØck Draht, das unter meinen Graviersticheln auf dem Tische lag: derlei SchlÃsser springen leicht auf. Schon beim ersten Druck auf die Riegelfeder!
          Und was wØrde dann geschehen?
          Nur Aaron Wassertrum konnte es sein, der da nebenan spionierte, - vielleicht in KÄsten wØhlte, um neue Waffen und Beweise in die Hand zu bekommen, legte ich mir zurecht.
          Ob es viel nØtzen wØrde, wenn ich dazwischen trat?
          Ich besann mich nicht lang: handeln, nicht denken! Nur dies furchtbare Warten auf den Morgen zerfetzen!
          Und schon stand ich vor der eisernen BodentØre, drØckte dagegen, schob vorsichtig den Haken ins Schloñ und horchte. Richtig: Ein schleifendes GerÄuch drinnen im Atelier, wie wenn jemand eine Schublade aufzieht.
          Im nÄchsten Augenblick schnellte der Riegel zurØck.
          Ich konnte das Zimmer Øberblicken und sah, obwohl es fast finster war und meine Kerze mich nur blendete, wie ein Mann in langem schwarzem Mantel entsetzt vor einem Schreibtisch aufsprang, - eine Sekunde lang unschlØssig, wohin sich wenden, - eine Bewegung machte, als wolle er auf mich losstØrzen, sich dann den Hut vom Kopf riñ und hastig damit sein Gesicht bedeckte.
          "Was suchen Sie hier!" wollte ich rufen, doch der Mann kam mir zuvor:
          "Pernath! Sie sind's? Gotteswillen! Das Licht weg!" Die Stimme kam mir bekannt vor, war aber keinesfalls die des TrÃdlers Wassertrum.
          Automatisch blies ich die Kerze aus.
          Das Zimmer lag halbdunkel da - nur von dem schimmrigen Dunst, der aus der Fensternische hereindrang, matt erhellt - genau wie meines, und ich muñte meine Augen aufs Äuñerste anstrengen, ehe ich in dem abgezehrten, hektischen Gesicht, das plÃtzlich Øber dem Mantel auftauchte, die ZØge des Studenten Charousek erkennen konnte.
          "Der MÃnch!" drÄngte es sich mir auf die Zunge und ich verstand mit einem Mal die Vision, die ich gestern im Dom gehabt! Charousek! Das war der Mann, an den ich mich wenden sollte! - Und ich hÃrte seine Worte wieder, die er damals im Regen unter dem Torbogen gesagt hatte: "Aaron Wassertrum wird es schon erfahren, dañ man mit vergifteten, unsichtbaren Nadeln durch Mauern stechen kann. Genau an dem Tage, an dem er Dr. Savioli an den Hals will."
          Hatte ich an Charousek einen Bundesgenossen? Wuñte er ebenfalls, was sich zugetragen? Sein Hiersein zu so ungewÃhnlicher Stunde lieñ fast darauf schlieñen, aber ich scheute mich, die direkte Frage an ihn zu richten.
          Er war ans Fenster geeilt und spÄhte hinter dem Vorhang hinunter auf die Gasse.
          Ich erriet: er fØrchtete, Wassertrum kÃnne den Lichtschein meiner Kerze wahrgenommen haben.
          "Sie denken gewiñ, ich sei ein Dieb, dañ ich nachts hier in einer fremden Wohnung herumsuche, Meister Pernath," fing er nach langem Schweigen mit unsicherer Stimme an, "aber ich schwÃre Ihnen - -"
          Ich fiel ihm sofort in die Rede und beruhigte ihn.
          Und um ihm zu zeigen, dañ ich keinerlei Miñtrauen gegen ihn hegte, in ihm vielmehr einen Bundesgenossen sah, erzÄhlte ich ihm mit kleinen EinschrÄnkungen, die ich fØr nÃtig hielt, welche Bewandtnis es mit dem Atelier habe, und dañ ich fØrchte, eine Frau, die mir nahestehe, sei in Gefahr, den erpresserischen GelØsten des TrÃdlers in irgendwelcher Art zum Opfer zu fallen.
          Aus der hÃflichen Weise, mit der er mir zuhÃrte, ohne mich mit Fragen zu unterbrechen, entnahm ich, dañ er das meiste bereits wuñte, wenn auch vielleicht nicht in Einzelheiten.
          "Es stimmt schon", sagte er grØbelnd, als ich zu Ende gekommen war. "Habe ich mich also doch nicht geirrt! Der Kerl will Savioli an die Gurgel fahren, das ist klar, aber offenbar hat er noch nicht genug Material beisammen. Weshalb wØrde er sich sonst noch hier immerwÄhrend herumdrØcken! Ich ging nÄmlich gestern, sagen wir mal: 'zufÄllig' durch die Hahnpañgasse," erklarte er, als er meine fragende Miene bemerkte, "da fiel mir auf, dañ Wassertrum erst lange - scheinbar unbefangen - vor dem Tor unten auf und ab schlenderte, dann aber, als er sich unbeobachtet glaubte, rasch ins Haus bog. Ich ging ihm sofort nach und tat so, als wollte ich Sie besuchen, das heiñt, ich klopfte bei Ihnen an, und dabei Øberraschte ich ihn, wie er drauñen an der eisernen BodentØr mit einem SchlØssel herumhantierte. NatØrlich gab er es augenblicklich auf, als ich kam, und klopfte ebenfalls als Vorwand bei Ihnen an. Sie schienen Øbrigens nicht zu Hause gewesen zu sein, denn es Ãffnete niemand.
          Als ich mich dann vorsichtig in der Judenstadt erkundigte, erfuhr ich, dañ jemand, der nach den Schilderungen nur Dr. Savioli sein konnte, hier heimlich ein Absteigequartier besÄñe. Da Dr. Savioli schwerkrank liegt, reimte ich mir das Øbrige zurecht.
          Sehen Sie: und das da habe ich aus den Schubladen zusammengesucht, um Wassertrum fØr alle FÄlle zuvorzukommen", schloñ Charousek und deutete auf ein Paket Briefe auf dem Schreibtisch; "es ist alles, was ich an SchriftstØcken finden konnte. Hoffentlich ist sonst nichts mehr vorhanden. Wenigstens habe ich in sÄmtlichen Truhen und SchrÄnken gestÃbert, so gut das in der Finsternis ging."
          Meine Augen durchforschten bei seiner Rede das Zimmer und blieben unwillkØrlich auf einer FalltØre am Boden haften. Ich entsann mich dabei dunkel, dañ Zwakh mir irgendwann erzÄhlt hatte, ein geheimer Zugang fØhre von unten herauf ins Atelier.
          Es war eine viereckige Platte mit einem Ring daran als Griff.
          "Wo sollen wir die Briefe aufheben?", fing Charousek wieder an. "Sie, Herr Pernath, und ich sind wohl die einzigen im ganzen Getto, die Wassertrum harmlos vorkommen, - warum gerade ich, das - hat - seine - besonderen - GrØnde", - (ich sah, dañ sich seine ZØge in wildem Hañ verzerrten, wie er so den letzten Satz fÃrmlich zerbiñ -) "und Sie halt er fØr - -" Charousek erstickte das Wort "verrØckt" mit einem raschen, erkØnstelten Husten, aber ich erriet, was er hatte sagen wollen. Es tat mir nicht weh; das GefØhl, "ihr" helfen zu kÃnnen, machte mich so glØckselig, dañ jede Empfindlichkeit ausgelÃscht war.
          Wir kamen schlieñlich Øberein, das Paket bei mir zu verstecken, und gingen hinØber in meine Kammer.
          0x01 graphic

          Charousek war lÄngst fort, aber immer noch konnte ich mich nicht entschlieñen, zu Bette zu gehen. Eine gewisse innere Unzufriedenheit nagte an mir und hielt mich davon ab. Irgend etwas sollte ich noch tun, fØhlte ich, aber was? was?
          Einen Plan fØr den Studenten entwerfen, was weiter zu geschehen hÄtte?
          Das allein konnte es nicht sein. Charousek lieñ den TrÃdler sowieso nicht aus den Augen, darØber bestand kein Zweifel. Ich schauderte, wenn ich an den Hañ dachte, der aus seinen Worten geweht hatte.
          Was ihm Wassertrum wohl angetan haben mochte?
          Die seltsame innere Unruhe in mir wuchs und brachte mich fast zur Verzweiflung. Ein Unsichtbares, Jenseitiges rief nach mir, und ich verstand nicht.
          Ich kam mir vor wie ein Gaul, der dressiert wird, das Reiñen am ZØgel spØrt und nicht weiñ, welches KunststØck er machen soll, den Willen seines Herrn nicht erfañt.
          Hinuntergehen zu Schemajah Hillel?
          Jede Faser in mir verneinte.
          Die Vision des MÃnchs in der Domkirche, auf dessen Schultern gestern der Kopf Charouseks aufgetaucht war als Antwort auf eine stumme Bitte um Rat, gab mir Fingerzeig genug, von nun an dumpfe GefØhle nicht ohne weiteres zu verachten. Geheime KrÄfte keimten in mir auf seit geraumer Zeit, das war gewiñ: ich empfand es zu ØbermÄchtig, als dañ ich auch nur den Versuch gemacht hÄtte, es wegzuleugnen.
          Buchstaben zu empfinden, sie nicht nur mit den Augen in BØchern zu lesen, - einen Dolmetsch in mir selbst aufzustellen, der mir Øbersetzt, was die Instinkte ohne Worte raunen, darin muñ der SchlØssel liegen, sich mit dem eigenen Innern durch klare Sprache zu verstÄndigen, begriff ich.
          "Sie haben Augen und sehen nicht; sie haben Ohren und hÃren nicht", fiel mir eine Bibelstelle wie eine ErklÄrung dazu ein.
          "SchlØssel, SchlØssel, SchlØssel", wiederholten mechanisch meine Lippen, derweilen mir der Geist jene sonderbaren Ideen vorgaukelte, bemerkte ich plÃtzlich.
          "SchlØssel, SchlØssel - -?" Mein Blick fiel auf den krummen Draht in meiner Hand, der mir vorhin zum ãffnen der SpeichertØre gedient hatte, und eine heiñe Neugier, wohin wohl die viereckige FalltØr aus dem Atelier fØhren kÃnnte, peitschte mich auf.
          Und ohne zu Øberlegen, ging ich nochmals hinØber in Saviolis Atelier und zog an dem Griffring der FalltØre, bis es mir schlieñlich gelang, die Platte zu heben.
          Zuerst nichts als Dunkelheit.
          Dann sah ich: Schmale, steile Stufen liefen hinab in tiefste Finsternis.
          Ich stieg hinunter.
          Eine Zeitlang tastete ich mich mit den HÄnden die Mauern entlang, aber es wollte kein Ende nehmen: Nischen, feucht von Schimmel und Moder, - Windungen, Ecken und Winkel, - GÄnge geradeaus, nach links und nach rechts, Reste einer alten HolztØre, Wegteilungen und dann wieder Stufen, Stufen, Stufen hinauf und hinab.
          Matter, erstickender Geruch nach Schwamm und Erde Øberall.
          Und noch immer kein Lichtstrahl. -
          Wenn ich nur Hillels Kerze mitgenommen hÄtte!
          Endlich flacher, ebener Weg.
          Aus dem Knirschen unter meinen FØñen schloñ ich, dañ ich auf trockenem Sand dahinschritt.
          Es konnte nur einer jener zahllosen GÄnge sein, die scheinbar ohne Zweck und Ziel unter dem Getto hinfØhren bis zum Fluñ.
          Ich wunderte mich nicht: die halbe Stadt stand doch seit unvordenklichen Zeiten auf solchen unterirdischen LÄuften, und die Bewohner Prags hatten von jeher triftigen Grund, das Tageslicht zu scheuen.
          Das Fehlen jeglichen GerÄuschs zu meinen HÄupten sagte mir, dañ ich mich immer noch in der Gegend des Judenviertels, das nachts wie ausgestorben ist, befinden muñte, obwohl ich schon eine Ewigkeit gewandert war. Belebtere Strañen oder PlÄtze Øber mir hÄtten sich durch fernes Wagenrasseln verraten.
          Eine Sekunde lang wØrgte mich die Furcht: was, wenn ich im Kreise herumging!? In ein Loch stØrzte, mich verletzte, ein Bein brach und nicht mehr weiter gehen konnte?!
          Was geschah dann mit ihren Briefen in meiner Kammer? Sie muñten unfehlbar Wassertrum in die HÄnde fallen.
          Der Gedanke an Schemajah Hillel, mit dem ich vag den Begriff eines Helfers und FØhrers verknØpfte, beruhigte mich unwillkØrlich.
          Vorsichtshalber ging ich aber doch langsamer und tastenden Schrittes und hielt den Arm in die HÃhe, um nicht unversehens mit dem Kopf anzurennen, falls der Gang niedriger wØrde.
          Von Zeit zu Zeit, dann immer Ãfter stieñ ich oben mit der Hand an, und endlich senkte sich das Gestein so tief herab, dañ ich mich bØcken muñte, um durchzukommen.
          PÃtzlich fuhr ich mit dem erhobenen Arm in einen leeren Raum.
          Ich blieb stehen und starrte hinauf.
          Nach und nach schien es mir, als falle von der Decke ein leiser, kaum merklicher Schimmer von Licht.
          MØndete hier ein Schacht, vielleicht aus irgendeinem Keller herunter?
          Ich richtete mich auf und tastete mit beiden HÄnden in KopfeshÃhe um mich herum: die ãffnung war genau viereckig und ausgemauert.
          AllmÄhlich konnte ich darin als Abschluñ die schattenhaften Umrisse eines wagerechten Kreuzes unterscheiden, und endlich gelang es mir, seine StÄbe zu erfassen, mich daran emporzuziehen und hindurchzuzwÄngen.
          Ich stand jetzt auf dem Kreuz und orientierte mich.
          Offenbar endeten hier die øberbleibsel einer eisernen Wendeltreppe, wenn mich das GefØhl meiner Finger nicht tÄuschte?
          Lang, unsagbar lang muñte ich tappen, bis ich die zweite Stufe finden konnte, dann klomm ich empor.
          Es waren im ganzen acht Stufen. Eine jede fast in MannshÃhe Øber der andern.
          Sonderbar: die Treppe stieñ oben gegen eine Art horizontalen GetÄfels, das aus regelmÄñigen, sich schneidenden Linien den Lichtschein herabschimmern lieñ, den ich schon weiter unten im Gang bemerkt hatte!
          Ich duckte mich, so tief ich konnte, um aus etwas weiterer Entfernung besser unterscheiden zu kÃnnen, wie die Linien verliefen, und sah zu meinem Erstaunen, dañ sie genau die Form eines Sechsecks, wie man es auf den Synagogen findet, bildeten.
          Was mochte das nur sein?
          PlÃtzlich kam ich dahinter: es war eine FalltØr, die an den Kanten Licht durchlieñ! Eine FalltØr aus Holz in Gestalt eines Sternes.
          Ich stemmte mich mit den Schultern gegen die Platte, drØckte sie aufwÄrts und stand im nÄchsten Moment in einem Gemach, das von grellem Mondschein erfØllt war.
          Es war ziemlich klein, vollstÄndig leer bis auf einen Haufen Gerumpel in der Ecke und hatte nur ein einziges, stark vergittertes Fenster.
          Eine TØre oder sonst einen Zugang mit Ausnahme dessen, den ich soeben benØtzt, vermochte ich nicht zu entdecken, so genau ich auch die Mauern immer wieder von neuem absuchte.
          Die GitterstÄbe des Fensters standen zu eng, als dañ ich den Kopf hÄtte durchstecken kÃnnen, so viel aber sah ich:
          Das Zimmer befand sich ungefÄhr in der HÃhe eines dritten Stockwerks, denn die HÄuser gegenØber hatten nur zwei Etagen und lagen wesentlich tiefer.
          Das eine Ufer der Strañe unten war fØr mich noch knapp sichtbar, aber infolge des blendenden Mondlichts, das mir voll ins Gesicht schien, in tiefe Schlagschatten getaucht, die es mir unmÃglich machten, Einzelheiten zu unterscheiden.
          Zum Judenviertel muñte die Gasse unbedingt gehÃren, denn die Fenster drØben waren sÄmtlich vermauert oder aus Simsen im Bau angedeutet, und nur im Getto kehren die HÄuser einander so seltsam den RØcken.
          Vergebens quÄlte ich mich ab herauszubringen was das wohl fØr ein sonderbares Bauwerk sein mochte, in dem ich mich befand.
          Sollte es vielleicht ein aufgelassenes SeitentØrmchen der griechischen Kirche sein? Oder gehÃrte es irgendwie zur Altneusynagoge?
          Die Umgebung stimmte nicht.
          Wieder sah ich mich im Zimmer um: nichts, was mir auch nur den kleinsten Aufschluñ gegeben hÄtte. - Die WÄnde und die Decke waren kahl, Bewurf und Kalk lÄngst abgefallen und weder NagellÃcher, noch NÄgel, die verraten hÄtten, dañ der Raum einst bewohnt gewesen.
          Der Boden lag fuñhoch bedeckt mit Staub, als hÄtte ihn seit Jahrzehnten kein lebendes Wesen betreten.
          Das GerØmpel in der Ecke zu durchsuchen, ekelte ich mich. Es lag in tiefer Finsternis, und ich konnte nicht unterscheiden, woraus es bestand.
          Dem Äuñeren Eindruck nach schienen es Lumpen zu einem KnÄuel geballt.
          Oder waren es ein paar alte, schwarze Handkoffer?
          Ich tastete mit dem Fuñ hin, und es gelang mir, mit dem Absatz einen Teil davon in die NÄhe des Lichtstreifens zu ziehen, den der Mond quer Øbers Zimmer warf. Es schien wie ein breites, dunkles Band, das sich da langsam aufrollte.
          Ein blitzender Punkt wie ein Auge!
          Ein Metallknopf vielleicht?
          AllmÄhlich wurde mir klar: ein ärmel von sonderbarem, altmodischem Schnitt hing da aus dem BØndel heraus.
          Und eine kleine weiñe Schachtel, oder dergleichen lag darunter, lockerte sich unter meinem Fuñ und zerfiel in eine Menge fleckiger Schichten.
          Ich gab ihr einen leichten Stoñ: Ein Blatt flog ins Helle.
          Ein Bild?
          Ich bØckte mich: ein Pagad!
          Was mir eine weiñe Schachtel geschienen, war ein Tarockspiel.
          Ich hob es auf.
          Konnte es etwas LÄcherlicheres geben: Ein Kartenspiel hier an diesem gespenstischen Ort!
          MerkwØrdig, dañ ich mich zum LÄcheln zwingen muñte. Ein leises GefØhl von Grauen beschlich mich.
          Ich suchte nach einer banalen ErklÄrung, wie die Karten wohl hierhergekommen sein kÃnnten, und zÄhlte dabei mechanisch das Spiel. Es war vollstÄndig: 78 StØck. Aber schon wÄhrend des ZÄhlens fiel mir etwas auf: Die BlÄtter waren wie aus Eis.
          Eine lÄhmende KÄlte ging von ihnen aus, und wie ich das Paket geschlossen in der Hand hielt, konnte ich es kaum mehr loslassen: so erstarrt waren meine Finger. Wieder haschte ich nach einer nØchternen ErklÄrung:
          Mein dØnner Anzug, die lange Wanderung ohne Mantel und Hut in den unterirdischen GÄngen, die grimmige Winternacht, die SteinwÄnde, der entsetzliche Frost, der mit dem Mondlicht durchs Fenster hereinfloñ: - sonderbar genug, dañ ich erst jetzt anfing zu frieren. Die Erregung, in der ich mich die ganze Zeit befunden, muñte mich darØber hinweggetÄuscht haben. -
          Ein Schauer nach dem andern jagte mir Øber die Haut. Schicht um Schicht drangen sie tiefer, immer tiefer in meinen KÃrper ein.
          Ich fØhlte mein Skelett zu Eis werden und wurde mir jedes einzelnen Knochens bewuñt wie kalter Metallstangen, an denen mir das Fleisch festfror.
          Kein Umherlaufen half, kein Stampfen mit den FØñen und nicht das Schlagen mit den Armen. Ich biñ die ZÄhne zusammen, um ihr Klappern nicht zu hÃren.
          Das ist der Tod, sagte ich mir, der dir die kalten HÄnde auf den Scheitel legt.
          Und ich wehrte mich wie ein Rasender gegen den betÄubenden Schlaf des Erfrierens, der, wollig und erstickend, mich wie mit einem Mantel einhØllen kam.
          Die Briefe, in meiner Kammer - ihre Briefe! brØllte es in mir auf: man wird sie finden, wenn ich hier sterbe. Und sie hofft auf mich! Hat ihre Rettung in meine HÄnde gelegt! - Hilfe! - Hilfe! Hilfe! -
          Und ich schrie durch das Fenstergitter hinunter auf die Ãde Gasse, dañ es widerhallte: Hilfe, Hilfe, Hilfe!
          Warf mich zu Boden und sprang wieder auf. Ich durfte nicht sterben, durfte nicht! ihretwegen, nur ihretwegen! Und wenn ich Funken aus meinen Knochen schlagen sollte, um mich zu erwÄrmen.
          Da fiel mein Blick auf die Lumpen in der Ecke, und ich stØrzte darauf zu und zog sie mit schlotternden HÄnden Øber meine Kleider.
          Es war ein zerschlissener Anzug aus dickem, dunklem Tuch von uraltmodischem, seltsamem Schnitt.
          Ein Geruch nach Moder ging von ihm aus.
          Dann kauerte ich mich in dem gegenØberliegenden Mauerwinkel zusammen und spØrte meine Haut langsam, langsam wÄrmer werden. Nur das schauerliche GefØhl des eigenen, eisigen Gerippes in mir wollte nicht weichen. Regungslos sañ ich da und lieñ meine Augen wandern: die Karte, die ich zuerst gesehen, - der Pagad, - lag noch immer inmitten des Zimmers in dem Lichtstreifen.
          Unverwandt muñte ich sie anstarren.
          Sie schien, soweit ich auf die Entfernung hin erkennen konnte, in Wasserfarben ungeschickt von Kinderhand gemalt, und stellte den hebrÄischen Buchstaben Aleph dar, in Form eines Mannes, altfrÄnkisch gekleidet, den grauen Spitzbart kurz geschnitten und den linken Arm erhoben, wÄhrend der andere abwÄrts deutete.
          Hatte das Gesicht des Mannes nicht eine seltsame ähnlichkeit mit meinem, dÄmmerte mir ein Verdacht auf? - Der Bart - er pañte so gar nicht zu einem Pagad, - - ich kroch auf die Karte zu und warf sie in die Ecke zu dem Rest des GerØmpels, um den quÄlenden Anblick los zu sein.
          Dort lag sie jetzt und schimmerte - ein grauweiñer, unbestimmter Fleck - zu mir herØber aus dem Dunkel.
          Mit Gewalt zwang ich mich zu Øberlegen, was ich zu beginnen hÄtte, um wieder in meine Wohnung zu kommen:
          Den Morgen abwarten! Unten die VorØbergehenden vom Fenster aus anrufen, damit sie mir von auñen mit einer Leiter Kerzen oder eine Laterne heraufbrÄchten! - Ohne Licht die endlosen, sich ewig kreuzenden GÄnge zurØckzufinden, wØrde mir nie gelingen, empfand ich als beklemmende Gewiñheit. - Oder, falls das Fenster zu hoch lÄge, dañ sich jemand vom Dach mit einem Strick - -? Gott im Himmel, wie ein Blitzstrahl durchfuhr es mich: jetzt wuñte ich, wo ich war: Ein Zimmer ohne Zugang - nur mit einem vergitterten Fenster - das altertØmliche Haus in der Altschulgasse, das jeder mied! - schon einmal vor vielen Jahren hatte sich ein Mensch an einem Strick vom Dach herabgelassen, um durchs Fenster zu schauen, und der Strick war gerissen und - Ja: ich war in dem Haus, in dem der gespenstische Golem jedesmal verschwand!
          Ein tiefes Grauen, gegen das ich mich vergeblich wehrte, das ich nicht einmal mehr durch die Erinnerung an die Briefe niederkÄmpfen konnte, lÄhmte jedes Weiterdenken und mein Herz fing an, sich zu krampfen.
          Hastig sagte ich mir vor mit steifen Lippen, es sei nur der Wind, der da so eisig aus der Ecke herØberwehte, sagte es mir vor, schneller und schneller, mit pfeifendem Atem - es half nicht mehr: dort drØben der weiñliche Fleck - die Karte - sie quoll auf zu blasigem Klumpen, tastete sich hin zum Rande des Mondstreifens und kroch wieder zurØck in die Finsternis. - Tropfende Laute - halb gedacht, geahnt, halb wirklich - im Raum und doch auñerhalb um mich herum und doch anderswo, - tief im eigenen Herzen und wieder mitten im Zimmer - erwachten: GerÄusche, wie wenn ein Zirkel fÄllt und mit der Spitze im Holz stecken bleibt!
          Immer wieder: Der weiñliche Fleck - - - der weiñliche Fleck - -! Eine Karte, eine erbÄrmliche, dumme, alberne Spielkarte ist es, schrie ich mir ins Hirn hinein - - - umsonst - - jetzt hat er sich dennoch - dennoch Gestalt erzwungen - der Pagad - und hockt in der Ecke und stiert herØber zu mir mit meinem eigenen Gesicht.
          0x01 graphic

          Stunden und Stunden kauerte ich da - unbeweglich - in meinem Winkel, ein frosterstarrtes Gerippe in fremden, modrigen Kleidern! - Und er drØben: ich selbst.
          Stumm und regungslos.
          So starrten wir uns in die Augen, - einer das grÄñliche Spiegelbild des andern. - - -
          Ob er es auch sieht, wie sich die Mondstrahlen mit schneckenhafter TrÄgheit Øber den Boden hinsaugen und wie Zeiger eines unsichtbaren Uhrwerks in der Unendlichkeit die Wand emporkriechen und fahler und fahler werden? -
          Ich bannte ihn fest mit meinem Blick und es half ihm nichts, dañ er sich auflÃsen wollte in dem MorgendÄmmerschein, der ihm vom Fenster her zu Hilfe kam.
          Ich hielt ihn fest.
          Schritt vor Schritt habe ich mit ihm gerungen um mein Leben - um das Leben, das mein ist, weil es nicht mehr mir gehÃrt. - -
          Und wie er kleiner und kleiner wurde und sich bei Tagesgrauen wieder in sein Kartenblatt verkroch, da stand ich auf, ging hinØber zu ihm und steckte ihn in die Tasche - den Pagad.
          0x01 graphic

          Immer noch war die Gasse unten Ãd und menschenleer.
          Ich durchstÃberte die Zimmerecke, die jetzt im stumpfen Morgenlichte lag: Scherben, dort eine rostige Pfanne, morsche Fetzen, ein Flaschenhals. Tote Dinge und doch so merkwØrdig bekannt.
          Und auch die Mauern - wie die Risse und SprØnge dann deutlich wurden! - wo hatte ich sie nur gesehen?
          Ich nahm das KartenpÄckchen zur Hand - es dÄmmerte mir auf: hatte ich die nicht einst selbst bemalt? Als Kind? Vor langer, langer Zeit?
          Es war ein uraltes Tarockspiel. Mit hebrÄischen Zeichen. - Nummer 12 muñ der "Gehenkte" sein, Øberkam's mich wie halbe Erinnerung. - Mit dem Kopf abwÄrts? Die Arme auf dem RØcken? - Ich blÄtterte nach: Da! Da war er.
          Dann wieder, halb Traum, halb Gewiñheit, tauchte ein Bild vor mir auf: Ein geschwÄrztes Schulhaus, bucklig, schief, ein mØrrisches HexengebÄude, die linke Schulter hochgezogen, die andere mit einem Nebenhaus verwachsen. - - - Wir sind mehrere halbwØchsige Jungen - ein verlassener Keller ist irgendwo - - -
          Dann sah ich an meinem KÃrper herab und wurde wieder irre: Der altmodische Anzug war mir vÃllig fremd.
          Der LÄrm eines holpernden Karrens schreckte mich auf, doch als ich hinabblickte: Keine Menschenseele. Nur ein Fleischerhund stand versonnen an einem Eckstein.
          Da! Endlich! Stimmen! menschliche Stimmen!
          Zwei alte Weiber kamen langsam die Strañe dahergetrottet, und ich zwÄngte den Kopf halb durch das Gitter und rief sie an.
          Mit offenem Mund glotzten sie in die HÃhe und berieten sich. Aber als sie mich sahen, stieñen sie ein gellendes Geschrei aus und liefen davon.
          Sie haben mich fØr den Golem gehalten, begriff ich.
          Und ich erwartete, dañ ein Zusammenlauf von Menschen entstehen wØrde, denen ich mich verstÄndlich machen kÃnnte, aber wohl eine Stunde verging, und nur hie und da spÄhte unten vorsichtig ein blasses Gesicht herauf zu mir, um sofort in Todesschreck wieder zurØckzufahren.
          Sollte ich warten, bis vielleicht nach Stunden oder gar erst morgen Polizisten kamen - die Staatsfalotten, wie Zwakh sie zu nennen pflegte?
          Nein, lieber wollte ich einen Versuch machen, die unterirdischen GÄnge ein StØck weit auf ihre Richtung hin zu untersuchen.
          Vielleicht fiel jetzt bei Tag durch Ritzen im Gestein eine Spur von Licht hinab?
          Ich kletterte die Leiter hinunter, setzte den Weg, den ich gestern gekommen war, fort - Øber ganze Halden zerbrochener Ziegelsteine und durch versunkene Keller - erklomm eine Treppenruine und stand plÃtzlich - - im Hausflur des schwarzen Schulhauses, das ich vorhin wie im Traum gesehen.
          Sofort stØrzte eine Flutwelle von Erinnerungen auf mich ein: BÄnke, bespritzt mit Tinte von oben bis unten, Rechenhefte, plÄrrender Gesang, ein Junge, der MaikÄfer in der Klasse loslÄñt, LesebØcher mit zerquetschten Butterbroten darin und der Geruch nach Orangenschalen. Jetzt wuñte ich mit Gewiñheit: Ich war einst als Knabe hier gewesen. - Aber ich lieñ mir keine Zeit nachzudenken und eilte heim.
          Der erste Mensch, der mir in der Salnitergasse begegnete, war ein verwachsener alter Jude mit weiñen SchlÄfenlocken. Kaum hatte er mich erblickt, bedeckte er sein Gesicht mit den HÄnden und heulte laut hebrÄische Gebete herunter.
          Auf den LÄrm hin muñten wahrscheinlich viele Leute aus ihren HÃhlen gestØrzt sein, denn es brach ein unbeschreibliches Gezeter hinter mir los. Ich drehte mich um und sah ein wimmelndes Heer totenblasser, entsetzenverzerrter Gesichter sich mir nachwÄlzen.
          Erstaunt blickte ich an mir herunter und verstand: - ich trug noch immer die seltsam mittelalterlichen Kleider von nachts her Øber meinem Anzug, und die Leute glaubten, den "Golem" vor sich zu haben.
          Rasch lief ich um die Ecke hinter ein Haustor und riñ mir die modrigen Fetzen vom Leibe.
          Gleich darauf raste die Menge mit geschwungenen StÃcken und geifernden MÄulern schreiend an mir vorØber.

    Licht


          Einigemal im Lauf des Tages hatte ich an Hillels TØre geklopft; - es lieñ mir keine Ruhe: ich muñte ihn sprechen und fragen, was alle diese seltsamen Erlebnisse bedeuteten; aber immer hieñ es, er sei noch nicht zu Hause.
          Sowie er heimkÄme vom jØdischen Rathaus, wollte mich seine Tochter sofort verstÄndigen. -
          Ein sonderbares MÄdchen Øbrigens, diese Mirjam!
          Ein Typus, wie ich ihn noch nie gesehen.
          Eine SchÃnheit, so fremdartig, dañ man sie im ersten Moment gar nicht fassen kann, - eine SchÃnheit, die einen stumm macht, wenn man sie ansieht, und ein unerklÄrliches GefØhl, so etwas, wie leise Mutlosigkeit in einem erweckt.
          Nach Proportionsgesetzen, die seit Jahrtausenden verlorengegangen sein mØssen, ist dieses Gesicht geformt, grØbelte ich mir zurecht, wie ich es so im Geiste wieder vor mir sah.
          Und ich dachte nach, welchen Edelstein ich wÄhlen mØñte, um es als Gemme festzuhalten und dabei den kØnstlerischen Ausdruck richtig zu wahren: Schon an dem rein äuñerlichen; dem blauschwarzen Glanz des Haares und der Augen, der alles Øbertraf, worauf ich auch riet, scheiterte es. - Wie erst die unirdische Schmalheit des Gesichtes sinn- und visionsgemÄñ in eine Kamee bannen, ohne sich in die stumpfsinnige ähnlichkeitsmacherei der kanonischen "Kunst"richtung festzurennen!
          Nur durch ein Mosaik lieñ es sich lÃsen, erkannte ich klar, aber was fØr Material wÄhlen? Ein Menschenleben gehÃrte dazu, das passende zusammen zu finden. - -
          Wo nur Hillel blieb!
          Ich sehnte mich nach ihm wie nach einem lieben, alten Freunde.
          MerkwØrdig, wie er mir in den wenigen Tagen - und ich hatte ihn doch, genaugenommen, nur ein einziges Mal im Leben gesprochen, - ins Herz gewachsen war.
          Ja, richtig: die Briefe - ihre Briefe - wollte ich doch besser verstecken. Zu meiner Beruhigung, falls ich wieder einmal lÄnger von zu Hause fort sein sollte.
          Ich nahm sie aus der Truhe: - in der Kassette wØrden sie sicherer aufbewahrt sein.
          Eine Photographie glitt zwischen den Briefen heraus. Ich wollte nicht hinschauen, aber es war zu spÄt.
          Den Brokatstoff um die bloñen Schultern gelegt - so wie ich 'sie' das erste Mal gesehen, als sie in mein Zimmer flØchtete aus Saviolis Atelier - blickte sie mir in die Augen.
          Ein wahnsinniger Schmerz bohrte sich in mich ein. Ich las die Widmung unter dem Bilde, ohne die Worte zu erfassen, und den Namen:
          Deine Angelina.
          0x01 graphic

          Angelina!!!
          Wie ich den Namen aussprach, zerriñ der Vorhang, der meine Jugendjahre vor mir verbarg, von oben bis unten.
          Vor Jammer glaubte ich zusammenbrechen zu mØssen. Ich krallte die Finger in die Luft und winselte, - biñ mich in die Hand: - - nur wieder blind sein, Gott im Himmel, - den Scheintot weiterleben, wie bisher, flehte ich.
          Das Weh stieg mir in den Mund. - Quoll. - Schmeckte seltsam sØñ, - wie Blut. - -
          Angelina!!
          0x01 graphic

          Der Name kreiste in meinen Adern und wurde - zu unertrÄglicher gespenstischer Liebkosung.
          Mit einem gewaltsamen Ruck riñ ich mich zusammen und zwang mich - mit knirschenden ZÄhnen - das Bild anzustarren, bis ich langsam Herr darØber wurde!
          Herr darØber!
          Wie heute nacht Øber das Kartenblatt.
          0x01 graphic

          Endlich: Schritte! MÄnnertritte.
          Er kam!
          Voll Jubel eilte ich zur TØr und riñ sie auf.
          Schemajah Hillel stand Strauñen und hinter ihm - ich machte mir leise VorwØrfe, dañ ich es als EnttÄuschung empfand - mit roten BÄckchen und runden Kinderaugen: der alte Zwakh.
          "Wie ich zu meiner Freude sehe, sind Sie wohlauf, Meister Pernath", fing Hillel an.
          Ein kaltes "Sie"?
          Frost. Schneidender, ertÃtender Frost lag plÃtzlich im Zimmer.
          BetÄubt, mit halbem Ohr, hÃrte ich hin, was Zwakh, atemlos vor Aufregung, auf mich losplapperte:
          "Wissen Sie schon, der Golem geht wieder um? Neulich erst sprachen wir davon, wissen Sie noch, Pernath? Die ganze Judenstadt ist auf. Vrieslander hat ihn selbst gesehen, den Golem. Und wieder hat es, wie immer, mit einem Mord begonnen" - Ich horchte erstaunt auf: Ein Mord?
          Zwakh schØttelte mich: "Ja, wissen Sie denn von gar nichts, Pernath? Unten hÄngt doch groñmÄchtig ein Polizeiaufruf an den Ecken: den dicken Zottmann, den 'Freimaurer' - na, ich meine doch den Lebensversicherungsdirektor Zottmann, - soll man ermordet haben. Der Loisa - hier im Haus - ist bereits verhaftet. Und die rote Rosina: spurlos verschwunden. - Der Golem - der Golem - es ist ja haarstrÄubend."
          Ich gab keine Antwort und suchte in Hillels Augen: warum blickte er mich so unverwandt an?
          Ein verhaltenes LÄcheln zuckte plÃtzlich um seine Mundwinkel.
          Ich verstand. Es galt mir.
          Am liebsten wÄre ich ihm um den Hals gefallen vor jauchzender Freude.
          Auñer mir in meinem EntzØcken, lief ich planlos im Zimmer umher. Was zuerst bringen? GlÄser? Eine Flasche Burgunder? (Ich hatte doch nur eine.) Zigarren? - Endlich fand ich Worte: "Aber warum setzt ihr euch denn nicht?!" - Rasch schob ich meinen beiden Freunden Sessel unter. - - -
          Zwakh fing an, sich zu Ärgern: "Warum lÄcheln Sie denn immerwÄhrend, Hillel? Glauben Sie vielleicht nicht, dañ der Golem spukt? Mir scheint. Sie glauben Øberhaupt nicht an den Golem?"
          "Ich wØrde nicht an ihn glauben, selbst wenn ich ihn hier im Zimmer vor mir sÄhe", antwortete Hillel gelassen mit einem Blick auf mich. - Ich verstand den Doppelsinn, der aus seinen Worten klang.
          Zwakh hielt erstaunt im Trinken inne: "Das Zeugnis von Hunderten von Menschen gilt Ihnen nichts, Hillel? - Aber warten Sie nur, Hillel, denken Sie an meine Worte: Mord auf Mord wird es jetzt in der Judenstadt geben! Ich kenne das. Der Golem zieht eine unheimliche Gefolgschaft hinter sich her."
          "Die HÄufung gleichartiger Ereignisse ist nichts Wunderbares", erwiderte Hillel. Er sprach im Gehen, trat ans Fenster und blickte durch die Scheiben hinab auf den TrÃdlerladen - "Wenn der Tauwind weht, rØhrt sich's in den Wurzeln. In den sØñen wie, in den giftigen."
          Zwakh zwinkerte mir lustig zu und deutete mit dem Kopf nach Hillel.
          "Wenn der Rabbi nur reden wollte, der kÃnnte uns Dinge erzÄhlen, dañ einem die Haare zu Berge stØnden", warf er halblaut hin.
          Schemajah drehte sich um.
          "Ich bin nicht 'Rabbi', wenn ich auch den Titel tragen darf. Ich bin nur ein armseliger Archivar im jØdischen Rathaus und fØhre die Register Øber die Lebendigen und die Toten."
          Eine verborgene Bedeutung lag in seiner Rede, fØhlte ich. Auch der Marionettenspieler schien es unterbewuñt zu empfinden, - er wurde still, und eine Zeitlang sprach keiner von uns ein Wort.
          "HÃren Sie mal, Rabbi -, verzeihen Sie: 'Herr Hillel', wollte ich sagen", - fing Zwakh nach einer Weile wieder an, und seine Stimme klang auffallend ernst, "ich wollte Sie schon lange etwas fragen. Sie brauchen mir ja nicht drauf zu antworten, wenn Sie nicht mÃgen, oder nicht dØrfen - - -"
          Schemajah trat an den Tisch und spielte mit dem Weinglas - er trank nicht; vielleicht verbot es ihm das jØdische Ritual.
          "Fragen Sie ruhig, Herr Zwakh."
          "- - Wissen Sie etwas Øber die jØdische Geheimlehre, die Kabbala, Hillel?"
          "Nur wenig."
          "Ich habe gehÃrt, es soll ein Dokument geben, aus dem man die Kabbala lernen kann: den 'Sohar' - -"
          "Ja, den Sohar - das Buch des Glanzes."
          "Sehen Sie, da hat man's", schimpfte Zwakh los. "Ist es nicht eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, dañ eine Schrift, die angeblich die SchlØssel zum VerstÄndnis der Bibel und zur GlØckseligkeit enthÄlt -"
          Hillel unterbrach ihn: "- nur einige SchlØssel."
          "Gut, immerhin einige! - also, dañ diese Schrift infolge ihres hohen Wertes und ihrer Seltenheit wieder nur den Reichen zugÄnglich ist? In einem einzigen Exemplar, das noch dazu im Londoner Museum steckt, wie ich mir habe erzÄhlen lassen? Und Øberdies chaldÄisch, aramÄisch, hebrÄisch - oder was weiñ ich wie - geschrieben? - Habe ich zum Beispiel je im Leben Gelegenheit gehabt, diese Sprachen zu lernen oder nach London zu kommen?"
          "Haben Sie denn alle Ihre WØnsche so heiñ auf dieses Ziel gerichtet?" fragte Hillel mit leisem Spott.
          "Offen gestanden - nein", gab Zwakh einigermañen verwirrt zu.
          "Dann sollten Sie sich nicht beklagen", sagte Hillel trocken, "wer nicht nach dem Geist schreit mit allen Atomen seines Leibes, - wie ein Erstickender nach Luft, - der kann die Geheimnisse Gottes nicht schauen."
          "Es sollte trotzdem ein Buch geben, in dem sÄmtliche SchlØssel zu den RÄtseln der anderen Welt stehen, nicht nur einige", schoñ es mir durch den Kopf, und meine Hand spielte automatisch mit dem Pagad, den ich immer noch in der Tasche trug, aber ehe ich die Frage in Worte kleiden konnte, hatte Zwakh sie bereits ausgesprochen.
          Hillel lÄchelte wieder sphinxhaft: "Jede Frage, die ein Mensch tun kann, ist im selben Augenblick beantwortet, in dem er sie geistig gestellt hat."
          "Verstehen Sie, was er damit meint?", wandte sich Zwakh an mich.
          Ich gab keine Antwort und hielt den Atem an, um kein Wort von Hillels Rede zu verlieren.
          Schemajah fuhr fort:
          "Das ganze Leben ist nichts anderes als formgewordene Fragen, die den Keim der Antwort in sich tragen - und Antworten, die schwanger gehen mit Fragen. Wer irgend etwas anderes drin sieht, ist ein Narr."
          Zwakh schlug mit der Faust auf den Tisch:
          "Jawohl: Fragen, die jedesmal anders lauten, und Antworten, die jeder anders versteht."
          "Gerade darauf kommt es an", sagte Hillel freundlich. "Alle Menschen Øber einen LÃffel zu - kurieren, ist lediglich Vorrecht der ärzte. Der Fragende erhÄlt die Antwort, die ihm not tut: sonst ginge nicht die Kreatur den Weg ihrer Sehnsucht. Glauben Sie denn, unsere jØdischen Schriften sind bloñ aus WillkØr nur in Konsonanten geschrieben? - Jeder hat sich selbst die geheimen Vokale dazu zu finden, die ihm den nur fØr ihn allein bestimmten Sinn erschlieñen, - soll nicht das lebendige Wort zum toten Dogma erstarren."
          Der Marionettenspieler wehrte heftig ab:
          "Das sind Worte, Rabbi, Worte! Pagad Ultimo will ich heiñen, wenn ich daraus klug werde."
          Pagad!! - Das Wort schlug in mich ein wie der Blitz. Ich fiel vor Entsetzen beinahe vom Stuhl.
          Hillel wich meinen Augen aus.
          "Pagad ultimo? Wer weiñ, ob Sie nicht wirklich so heiñen, Herr Zwakh!" - schlug Hillels Rede wie aus weiter Ferne an mein Ohr. "Man soll seiner Sache niemals allzu sicher sein. - øbrigens, da wir gerade von Karten sprechen: Herr Zwakh, spielen Sie Tarock?"
          "Tarock? NatØrlich. Von Kindheit an."
          "Dann wundert's mich, wieso Sie nach einem Buche fragen kÃnnen, in dem die ganze Kabbala steht, wo Sie es doch selbst Tausende Male in der Hand gehabt haben."
          "Ich? In der Hand gehabt? Ich?" - Zwakh griff sich an den Kopf.
          "Jawohl, Sie! Ist es Ihnen niemals aufgefallen, dañ das Tarockspiel 22 TrØmpfe hat, - genausoviel, wie das hebrÄische Alphabet Buchstaben? Zeigen unsere bÃhmischen Karten nicht zum øberfluñ noch Bilder dazu, die offenkundig Symbole sind: Der Narr, der Tod, der Teufel, das Letzte Gericht? - Wie laut, lieber Freund, wollen Sie eigentlich, dañ Ihnen das Leben die Antworten in die Ohren schreien soll? - - Was Sie allerdings nicht zu wissen brauchen, ist, dañ 'Tarok' oder 'Tarot' soviel bedeutet wie die jØdische 'Tora' = das Gesetz, oder das altÄgyptische 'Tarut' = 'die Befragte', und in der uralten Zendsprache das Wort: 'tarisk' = 'ich verlange die Antwort'. - Aber die Gelehrten sollten es wissen, bevor sie die Behauptung aufstellen, das Tarock stamme aus der Zeit Karls des Sechsten. - Und so, wie der Pagad die erste Karte im Spiel ist, so ist der Mensch die erste Figur in seinem eignen Bilderbuch, sein eigner DoppelgÄnger: - - der hebrÄische Buchstabe Aleph, der, nach der Form des Menschen gebaut, mit der einen Hand zum Himmel zeigt und mit der andern abwÄrts: das heiñt also: 'So wie es oben ist, ist es auch unten; so wie es unten ist, ist es auch oben.' - Darum sagte ich vorhin: Wer weiñ, ob Sie wirklich Zwakh heiñen und nicht: 'Pagad' - berufen Sie's nicht," - Hillel blickte mich dabei unverwandt an, und ich ahnte, wie sich unter seinen Worten ein Abgrund immer neuer Bedeutung auftat - "berufen Sie's nicht, Herr Zwakh! Man kann da in finstere GÄnge geraten, aus denen noch keiner zurØckfand, der nicht - einen Talisman bei sich trug. Die øberlieferung erzÄhlt, dañ einmal drei MÄnner hinabgestiegen seien ins Reich der Dunkelheit, der eine wurde wahnsinnig, der zweite blind, nur der dritte, Rabbi ben Akiba, kam heil wieder heim und sagte, er sei sich selbst begegnet. Schon so mancher, werden Sie sagen, ist sich selbst begegnet, z. B. Goethe, gewÃhnlich auf einer BrØcke, oder sonst einem Steig, der von einem Ufer eines Flusses zum andern fØhrt, - hat sich selbst ins Auge geblickt und ist nicht wahnsinnig geworden. Aber dann war's eben nur eine Spiegelung des eigenen Bewuñtseins und nicht der wahre DoppelgÄnger: nicht das, was man 'den Hauch der Knochen', den 'Habal Garmin' nennt, von dem es heiñt: Wie er in die Grube fuhr, unverweslich, im Gebein, so wird er auferstehn am Tage des Letzten Gerichts." - Hillels Blick bohrte sich immer tiefer in meine Augen - "Unsere GroñmØtter sagen von ihm: 'er wohnt hoch Øber der Erde in einem Zimmer ohne TØre, nur mit einem Fenster, von dem aus eine VerstÄndigung mit den Menschen unmÃglich ist. Wer ihn zu bannen und zu - - verfeinern versteht, der wird gut Freund mit sich selbst." - - - Was schlieñlich das Tarock betrifft, so wissen Sie so gut wie ich: FØr jeden Spieler liegen die Karten anders, wer aber die TrØmpfe richtig verwendet, der gewinnt die Partie - - -. Aber kommen Sie jetzt, Herr Zwakh! Gehen wir, Sie trinken sonst Meister Pernaths ganzen Wein aus, und es bleibt nichts mehr Øbrig fØr ihn selbst."

    Not


          Eine Flockenschlacht tobte vor meinem Fenster. Regimenterweise jagten die Schneesterne - winzige Soldaten in weiñen, zottigen MÄntelchen - hintereinander her an den Scheiben vorØber - minutenlang - immer in derselben Richtung, wie auf gemeinsamer Flucht vor einem ganz besonders bÃsartigen Gegner. Dann hatten sie das Davonlaufen mit einemmal dick satt, schienen aus rÄtselhaften GrØnden einen Wutanfall zu bekommen und sausten wieder zurØck, bis ihnen von oben und unten neue feindliche Armeen in die Flanken fielen und alles in ein heilloses Gewirbel auflÃsten.
          Monate schien mir zurØckzuliegen, was ich an Seltsamem erst vor kurzem erlebt hatte, und wÄren nicht tÄglich einigemal immer neue krause GerØchte Øber den Golem zu mir gedrungen, die alles wieder frisch aufleben lieñen, ich glaube, ich hÄtte mich in Augenblicken des Zweifels verdÄchtigen kÃnnen, das Opfer eines seelischen DÄmmerzustandes gewesen zu sein.
          Aus den bunten Arabesken, die die Ereignisse um mich gewoben, stach in schreienden Farben hervor, was mir Zwakh Øber den noch immer unaufgeklÄrten Mord an dem sogenannten "Freimaurer" erzÄhlt hatte.
          Den blatternarbigen Loisa damit in Zusammenhang zu bringen, wollte mir nicht recht einleuchten, obwohl ich einen dunklen Verdacht nicht abschØtteln konnte, - fast unmittelbar darauf, als Prokop in jener Nacht aus dem Kanalgitter ein unheimliches GerÄusch gehÃrt zu haben geglaubt, hatten wir den Burschen beim "Loisitschek" gesehen. Allerdings lag kein Anlañ vor, den Schrei unter der Erde, der Øberdies geradesogut eine SinnestÄuschung gewesen sein konnte, als Hilferuf eines Menschen zu deuten. - - -
          Das SchneegestÃber vor meinen Augen blendete mich und ich fing an, alles in tanzenden Streifen zu sehen. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Gemme vor mir. Das Wachsmodell, das ich von Mirjams Gesicht entworfen hatte, muñte sich vortrefflich auf den blÄulich leuchtenden Mondstein da Øbertragen lassen. - Ich freute mich: es war ein angenehmer Zufall, dañ sich etwas so Geeignetes unter meinem Mineralienvorrat gefunden hatte. Die tiefschwarze Matrix von Hornblende gab dem Stein gerade das richtige Licht und die Konturen pañten so genau, als habe ihn die Natur eigens geschaffen, ein bleibendes Abbild von Mirjams feinem Profil zu werden.
          Anfangs war meine Absicht gewesen, eine Kamee daraus zu schneiden, die den Ägyptischen Gott Osiris darstellen sollte, und die Vision des Hermaphroditen aus dem Buche Ibbur, die ich mir jederzeit mit auffallender Deutlichkeit ins GedÄchtnis zurØckrufen konnte, regte mich kØnstlerisch stark an, aber allmÄhlich entdeckte ich nach den ersten Schnitten eine solche ähnlichkeit mit der Tochter Schemajah Hillels, dañ ich meinen Plan umstieñ. - - -
          - Das Buch Ibbur! -
          ErschØttert legte ich den Stahlgriffel weg. Unfañbar, was in der kurzen Spanne Zeit in mein Leben getreten war!
          Wie jemand, der sich plÃtzlich in eine unabsehbare SandwØste versetzt sieht, wurde ich mir mit einem Schlage der tiefen, riesengroñen Einsamkeit bewuñt, die mich von meinen Nebenmenschen trennte.
          Konnte ich je mit einem Freund - Hillel ausgenommen - davon reden, was ich erlebt?
          Wohl war mir in den stillen Stunden der verflossenen NÄchte die Erinnerung wiedergekehrt, dañ mich all meine Jugendjahre - von frØher Kindheit angefangen - ein unsagbarer Durst nach dem Wunderbaren, dem jenseits aller Sterblichkeit Liegenden, bis zur Todespein gefoltert hatte, aber die ErfØllung meiner Sehnsucht war wie ein Gewittersturm gekommen und erdrØckte den Jubelaufschrei meiner Seele mit ihrer Wucht.
          Ich zitterte vor dem Augenblick, wo ich zu mir selbst kommen und das Geschehene in seiner vollen markverbrennenden Lebendigkeit als Gegenwart empfinden muñte.
          Nur jetzt sollte es noch nicht kommen! Erst den Genuñ auskosten: Unaussprechliches an Glanz auf sich zukommen zu sehen!
          Ich hatte es doch in meiner Macht! Brauchte nur hinØber zu gehen in mein Schlafzimmer und die Kassette aufzusperren, in der das Buch Ibbur, das Geschenk der Unsichtbaren, lag!
          Wie lang war's her, da hatte es meine Hand berØhrt, als ich Angelinas Briefe dazuschloñ!
          0x01 graphic

          Dumpfes DrÃhnen drauñen, wie von Zeit zu Zeit der Wind die angehÄuften Schneemassen von den DÄchern hinab vor die HÄuser warf, gefolgt von Pausen tiefer Stille, da die Flockendecke auf dem Pflaster jeden Laut verschlang.
          Ich wollte weiterarbeiten, - da plÃtzlich stahlscharfe HufschlÄge unten die Gasse entlang, dañ man's fÃrmlich Funken sprØhen sah.
          Das Fenster zu Ãffnen und hinauszuschauen, war unmÃglich: Muskeln aus Eis verbanden seine RÄnder mit dem Mauerwerk, und die Scheiben waren bis zur HÄlfte weiñ verweht. Ich sah nur, dañ Charousek scheinbar ganz friedlich neben dem TrÃdler Wassertrum stand - sie muñten soeben ein GesprÄch mitsammen gefØhrt haben - sah, wie die VerblØffung, die sich in ihrer beider Mienen malte, wuchs und sie sprachlos offenbar den Wagen, der meinen Blicken entzogen war, anstarrten.
          Angelinas Gatte ist es, fuhr es mir durch den Kopf. - Sie selbst konnte es nicht sein! Mit ihrer Equipage hier bei mir vorzufahren - in der Hahnpañgasse! - vor aller Leute Augen! Es wÄre hellichter Wahnsinn gewesen. - Aber was sollte ich zu ihrem Gatten sagen, wenn er's wÄre und mich auf den Kopf zu fragte?
          Leugnen, natØrlich leugnen.
          Hastig legte ich mir die MÃglichkeiten zurecht: es kann nur ihr Gatte sein. Er hat einen anonymen Brief bekommen, - von Wassertrum - dañ sie hier gewesen sei zu einem Rendezvous, und sie hat eine Ausrede gebraucht: wahrscheinlich, dañ sie eine Gemme oder sonst etwas bei mir bestellt habe. - - - Da! wØtendes Klopfen an meiner TØr und - Angelina stand vor mir.
          Sie konnte kein Wort hervorbringen, aber der Ausdruck ihres Gesichtes verriet mir alles: sie brauchte sich nicht mehr zu verstecken. Das Lied war aus.
          Dennoch lehnte sich irgend etwas in mir auf gegen diese Annahme. Ich brachte es nicht fertig, zu glauben, dañ das GefØhl, ihr helfen zu kÃnnen, mich belogen haben sollte.
          Ich fØhrte sie in meinen Lehnstuhl. Streichelte ihr stumm das Haar; und sie verbarg, todmØde wie ein Kind, ihren Kopf an meiner Brust.
          Wir hÃrten das Knistern der brennenden Scheite im Ofen und sahen, wie der rote Schein Øber die Dielen huschte, aufflammte und erlosch - aufflammte und erlosch - aufflammte und erlosch - - -
          "Wo ist das Herz aus rotem Stein - - -" klang es in meinem Innern. Ich fuhr auf: Wo bin ich! Wie lang sitzt sie schon hier?
          Und ich forschte sie aus, - vorsichtig, leise, ganz leise, dañ sie nicht aufwache und ich mit der Sonde die schmerzende Wunde nicht berØhre.
          BruchstØckweise erfuhr ich, was ich zu wissen brauchte, und setzte es mir zusammen wie ein Mosaik:
          "Ihr Gatte weiñ - -?"
          "Nein, noch nicht; er ist verreist."
          Also um Dr. Saviolis Leben drehte sich's; - Charousek hatte es richtig erraten. Und weil's um Saviolis Leben ging, und nicht mehr um ihres, war sie hier. Sie denkt nicht mehr daran, irgend etwas zu verbergen, begriff ich.
          Wassertrum war abermals bei Dr. Savioli gewesen. Hatte sich mit Drohungen und Gewalt den Weg erzwungen bis zu seinem Krankenlager.
          Und weiter! Weiter! Was wollte er von ihm?
          Was er wollte? Sie hatte es halb erraten, halb erfahren: er wollte, dañ - - dañ - er wollte, dañ sich Dr. Savioli - - ein Leid antue.
          Sie kenne jetzt auch die GrØnde von Wassertrums wildem besinnungslosem Hañ: "Dr. Savioli habe einst seinen Sohn, den Augenarzt Wassory, in den Tod getrieben."
          Sofort schlug ein Gedanke in mich ein wie der Blitz: hinunterlaufen, dem TrÃdler alles verraten: dañ Charousek den Schlag gefØhrt hatte - aus dem Hinterhalt - und nicht Savioli, der nur das Werkzeug war - - -. "Verrat! Verrat!" heulte es mir ins Hirn, "du willst also den armen schwindsØchtigen Charousek, der dir helfen wollte und ihr, der Rachsucht dieses Halunken preisgeben?" - Und es zerriñ mich in blutende HÄlften. - Dann sprach ein Gedanke eiskalt und gelassen die Losung aus: "Narr! Du hast es doch in der Hand! Brauchst ja nur die Feile dort auf dem Tisch zu nehmen, hinunter zu laufen und sie dem TrÃdler durch die Gurgel zu jagen, dañ die Spitze hinten zum Genick herausschaut."
          Mein Herz jauchzte einen Dankesschrei zu Gott.
          0x01 graphic

          Ich forschte weiter:
          "Und Dr. Savioli?"
          Kein Zweifel, dañ er Hand an sich legen wird, wenn sie ihn nicht rettete. Die Krankenschwestern lieñen ihn nicht aus den Augen, hatten ihn mit Morphium betÄubt, aber vielleicht erwacht er plÃtzlich - vielleicht gerade jetzt - und - und - nein, nein, sie mØsse fort, dØrfe keine Sekunde Zeit mehr versÄumen, - sie wolle ihrem Gatten schreiben, ihm alles eingestehen, - solle er ihr das Kind nehmen, aber Savioli sei gerettet, denn sie hÄtte Wassertrum damit die einzige Waffe aus der Hand geschlagen, die er besÄñe und mit der er drohe.
          Sie wolle das Geheimnis selbst enthØllen, ehe er es verraten kÃnne.
          "Das werden Sie nicht tun, Angelina!" schrie ich und dachte an die Feile und die Stimme versagte mir in jubelnder Freude Øber meine Macht.
          Angelina wollte sich losreiñen: ich hielt sie fest.
          "Nur noch eins: øberlegen Sie, wird Ihr Gatte denn dem TrÃdler so ohne weiteres glauben?"
          "Aber Wassertrum hat doch Beweise, offenbar meine Briefe, vielleicht auch ein Bild von mir, - alles, was im Schreibtisch nebenan im Atelier versteckt war."
          Briefe? Bild? Schreibtisch? - ich wuñte nicht mehr, was ich tat: ich riñ Angelina an meine Brust und kØñte sie. Auf den Mund, auf die Stirn, auf die Augen.
          Ihr blondes Haar lag wie ein goldner Schleier vor meinem Gesicht.
          Dann hielt ich sie an ihren schmalen HÄnden und erzÄhlte ihr mit fliegenden Worten, dañ der Todfeind Wassertrums - ein armer bÃhmischer Student - die Briefe und alles in Sicherheit gebracht hÄtte und sie in meinem Besitz seien und fest verwahrt.
          Und sie fiel mir um den Hals und lachte und weinte in einem Atem. KØñte mich. Rannte zur TØr. Kehrte wieder um und kØñte mich wieder.
          Dann war sie verschwunden.
          Ich stand wie betÄubt und fØhlte noch immer den Atem ihres Mundes an meinem Gesicht.
          Ich hÃrte wie die WagenrÄder Øber das Pflaster donnerten und den rasenden Galopp der Hufe. Eine Minute spÄter war alles still. Wie ein Grab.
          Auch in mir.
          0x01 graphic

          PlÃtzlich knarrte die TØr leise hinter mir, und Charousek stand im Zimmer:
          "Verzeihen Sie, Herr Pernath, ich habe lange geklopft, aber Sie schienen es nicht zu hÃren."
          Ich nickte nur stumm.
          "Hoffentlich nehmen Sie nicht an, dañ ich mich mit Wassertrum versÃhnt habe, weil Sie mich vorhin mit ihm sprechen sahen?" - Charouseks hohnisches LÄcheln sagte mir, dañ er nur einen grimmigen Spañ machte. - "Sie mØssen nÄmlich wissen: Das Gluck ist mir hold; die Kanaille da unten fÄngt an, mich in ihr Herz zu schlieñen, Meister Pernath. - - Es ist eine seltsame Sache, das mit der Stimme des Blutes", setzte er leise - halb fØr sich - hinzu.
          Ich verstand nicht, was er damit meinen konnte, und nahm an, ich hÄtte etwas ØberhÃrt. Die ausgestandene Erregung zitterte noch zu stark in mir.
          "Er wollte mir einen Mantel schenken", fuhr Charousek laut fort. "Ich habe natØrlich dankend abgelehnt. Mich brennt schon meine eigene Haut genug. - Und dann hat er mir Geld aufgedrÄngt."
          "Sie haben es angenommen?!", wollte es mir herausfahren, aber ich hielt noch rasch meine Zunge im Zaum.
          Die Wangen des Studenten bekamen kreisrunde rote Flecken:
          "Das Geld habe ich selbstverstÄndlich angenommen."
          Mir wurde ganz wirr im Kopf!
          "- an - genommen?", stammelte ich.
          "Ich hÄtte nie gedacht, dañ man auf Erden eine so reine Freude empfinden kann!" - Charousek hielt einen Augenblick inne und schnitt eine Fratze. - "Ist es nicht ein erhebendes GefØhl, im Haushalt der Natur 'MØtterchens Vorsehung' Ãkonomischen Finger allenthalben in Weisheit und Umsicht walten zu sehen!?" - Er sprach wie ein Pastor und klimperte dabei mit dem Geld in seiner Tasche, - "wahrlich, als hehre Pflicht empfinde ich es, den Schatz, mir anvertraut von milder Hand, auf Heller und Pfennig dereinst dem edelsten aller Zwecke zuzufØhren."
          War er betrunken? Oder wahnsinnig?
          Charousek Änderte plÃtzlich den Ton:
          "Es liegt eine satanische Komik darin, dañ Wassertrum sich die - Arznei selber bezahlt. Finden Sie nicht?"
          Eine Ahnung dÄmmerte mir auf, was sich hinter Charouseks Rede verbarg, und mir graute vor seinen fiebernden Augen.
          "øbrigens lassen wir das jetzt, Meister Pernath. Erledigen wir erst die laufenden GeschÄfte. Vorhin, die Dame, das war 'sie' doch? Was ist ihr denn eingefallen, hier Ãffentlich vorzufahren?"
          Ich erzÄhlte Charousek, was geschehen war.
          "Wassertrum hat bestimmt keine Beweise in den HÄnden", unterbrach er mich freudig, "sonst hÄtte er nicht heute morgen abermals das Atelier durchsucht. - MerkwØrdig, dañ Sie ihn nicht gehÃrt haben!? Eine volle Stunde lang war er drØben."
          Ich staunte, woher er alles so genau wissen kÃnne, und sagte es ihm.
          "Darf ich?" - als ErklÄrung nahm er sich eine Zigarette vom Tisch, zØndete sie an und erlÄuterte: "Sehen Sie, wenn Sie jetzt die TØr Ãffnen, bringt die Zugluft, die vom Stiegenhaus hereinweht, den Tabakrauch aus der Richtung. Es ist das vielleicht das einzige Naturgesetz, das Herr Wassertrum genau kennt, und fØr alle FÄlle hat er in der Strañenmauer des Ateliers - das Haus gehÃrt ihm, wie Sie wissen - eine kleine, versteckte, offene Nische anbringen lassen: eine Art Ventilation, und darin ein rotes FÄhnchen. Wenn nun jemand das Zimmer betritt oder verlÄñt, das heiñt: die ZugtØr Ãffnet, so merkt es Wassertrum unten an dem heftigen Flattern des FÄhnchens. Allerdings weiñ ich es ebenfalls," setzte Charousek trocken hinzu, "wenn's mir drum zu tun ist, und kann es von dem Kellerloch vis-Á-vis, in dem zu hausen ein gnÄdiges Schicksal mir huldreichst gestattet, genau beobachten. - Der niedliche Scherz mit der Ventilation ist zwar ein Patent des wØrdigen Patriarchen, aber auch mir seit Jahren gelÄufig."
          "Was fØr einen Øbermenschlichen Hañ Sie gegen ihn haben mØssen, dañ Sie so jeden seiner Schritte belauern. Und noch dazu seit langem, wie Sie sagen!" warf ich ein.
          "Hañ?" Charousek lÄchelte krampfhaft. "Hañ? - Hañ ist kein Ausdruck. Das Wort, das meine GefØhle gegen ihn bezeichnen kÃnnte, muñ erst geschaffen werden. - Ich hasse, genaugenommen, auch gar nicht ihn. Ich hasse sein Blut. Verstehen Sie das? Ich wittere wie ein wildes Tier, wenn auch nur ein Tropfen von seinem Blut in den Adern eines Menschen flieñt, - und" - er biñ die ZÄhne zusammen - "das kommt 'zuweilen' vor hier im Getto." UnfÄhig weiter zu sprechen vor Aufregung lief er ans Fenster und starrte hinaus. - Ich hÃrte wie er sein Keuchen unterdrØckte. Wir schwiegen beide eine Weile.
          "Hallo, was ist denn das?" fuhr er plÃtzlich auf und winkte mir hastig: "Rasch, rasch! Haben Sie nicht einen Operngucker oder so etwas?"
          Wir spÄhten vorsichtig hinter den VorhÄngen hinunter:
          Der taubstumme Jaromir stand vor dem Eingang des TrÃdlerladens und bot, soviel wir aus seiner Zeichensprache erraten konnten, Wassertrum einen kleinen blitzenden Gegenstand, den er in der Hand halb verbarg, zum Kauf an. Wassertrum fuhr danach wie ein Geier und zog sich damit in seine HÃhle zurØck.
          Gleich darauf stØrzte er wieder hervor - totenblañ - und packte Jaromir an der Brust: Es entspann sich ein heftiges Ringen. - Mit einem Mal lieñ Wassertrum los und schien zu Øberlegen. Nagte wØtend an seiner gespaltenen Oberlippe. Warf einen grØbelnden Blick zu uns herauf und zog dann Jaromir am Arm friedlich in seinen Laden.
          Wir warteten wohl eine Viertelstunde lang: sie schienen nicht fertig werden zu kÃnnen mit ihrem Handel.
          Endlich kam der Taubstumme mit befriedigter Miene wieder heraus und ging seines Weges.
          "Was halten Sie davon?", fragte ich. "Es scheint nichts Wichtiges zu sein? Vermutlich hat der arme Bursche irgendeinen erbettelten Gegenstand versilbert."
          Der Student gab keine Antwort und setzte sich schweigend wieder an den Tisch.
          Offenbar legte auch er dem Geschehnis keine Bedeutung bei, denn er fuhr nach einer Pause da fort, wo er stehen geblieben war:
          "Ja. Also ich sagte, ich hasse sein Blut. - Unterbrechen Sie mich, Meister Pernath, wenn ich wieder heftig werde. Ich will kalt bleiben. Ich darf meine besten Empfindungen nicht so vergeuden. Es packt mich sonst nachher wie ErnØchterung. Ein Mensch mit SchamgefØhl soll in kØhlen Worten reden, nicht mit Pathos wie eine Prostituierte oder - oder ein Dichter. - Seit die Welt steht, wÄr's niemand eingefallen, vor Leid die 'HÄnde zu ringen', wenn nicht die Schauspieler diese Geste als besonders 'plastisch' ausgetØftelt hÄtten."
          Ich begriff, dañ er mit Absicht blind drauflos redete, um innerlich Ruhe zu bekommen.
          Es wollte ihm nicht recht gelingen. NervÃs lief er im Zimmer auf und ab, fañte alle mÃglichen GegenstÄnde an und stellte sie zerstreut zurØck an ihren Platz.
          Dann war er mit einem Ruck wieder mitten in seinem Thema:
          "Aus den kleinsten unwillkØrlichen Bewegungen eines Menschen verrÄt sich mir dieses Blut. Ich kenne Kinder, die 'ihm' Ähnlich sehen und als seine gelten, aber doch sind sie nicht vom selben Stamme - man kann mich nicht tÄuschen. Jahrelang erfuhr ich nicht, dañ Dr. Wassory sein Sohn ist, aber ich habe es - ich mÃchte sagen - gerochen.
          Schon als kleiner Junge, als ich noch nicht ahnen konnte, in welchen Beziehungen Wassertrum zu mir steht," - sein Blick ruhte eine Sekunde forschend auf mir, - "besañ ich diese Gabe. Man hat mich mit FØñen getreten, mich geschlagen, dañ es wohl keine Stelle an meinem KÃrper gibt, die nicht wØñte, was rasender Schmerz ist, - hat mich hungern und dursten lassen, bis ich halb wahnsinnig wurde und schimmlige Erde gefressen habe, aber niemals konnte ich diejenigen hassen, die mich peinigten. Ich konnte einfach nicht. Es war kein Platz mehr in mir fØr Hañ. - Verstehen Sie? Und doch war mein ganzes Wesen getrÄnkt damit.
          Nie hat mir Wassertrum auch nur das geringste angetan - ich will damit sagen, dañ er mich jemals weder geschlagen oder beworfen, noch auch irgendwie beschimpft hat, wenn ich mich als Gassenjunge unten herumtrieb: ich weiñ das genau, - und doch richtete sich alles, was an Rachsucht und Wut in mir kochte, gegen ihn. Nur gegen ihn!
          MerkwØrdig ist, dañ ich ihm trotzdem nie als Kind einen Schabernack gespielt habe. Wenn's die andern taten, zog ich mich sofort zurØck. Aber stundenlang konnte ich im Torweg stehen und, hinter der HaustØr versteckt, durch die Angelritzen sein Gesicht unverwandt anstieren, bis mir vor unerklÄrlichem HañgefØhl schwarz vor den Augen wurde.
          Damals, glaube ich, habe ich den Grundstein zu dem Hellsehen gelegt, das sofort in mir aufwacht, wenn ich mit Wesen, ja sogar mit Dingen in BerØhrung komme, die in Verbindung mit ihm stehen. Ich muñ wohl jede seiner Bewegungen: seine Art, den Rock zu tragen und wie er Sachen anfañt, hustet und trinkt, und all das Tausenderlei damals unbewuñt auswendig gelernt haben, bis sich's mir in die Seele frañ, dañ ich Øberall die Spuren davon auf den ersten Blick mit unfehlbarer Sicherheit als seine ErbstØcke erkennen kann.
          SpÄter wurde das manchmal fast zur Manie: ich warf harmlose GegenstÄnde von mir, bloñ weil mich der Gedanke quÄlte, seine Hand kÃnne sie berØhrt haben, - andere wieder waren mir ans Herz gewachsen; ich liebte sie wie Freunde, die ihm BÃses wØnschten."
          Charousek schwieg einen Moment. Ich sah, wie er geistesabwesend ins Leere blickte. Seine Finger streichelten mechanisch die Feile auf dem Tisch.
          "Als dann ein paar mitleidige Lehrer fØr mich gesammelt hatten und ich Philosophie und Medizin studierte - auch nebenbei selbst denken lernte -, da kam mir langsam die Erkenntnis, was Hañ ist:
          Wir kÃnnen nur etwas so tief hassen, wie ich es tue, was ein Teil von uns selbst ist.
          Und wie ich spÄter dahinter kam, - nach und nach alles erfuhr: was meine Mutter war - und - und noch sein muñ, wenn - wenn sie noch lebt, - und dañ mein eigener Leib" - er wendete sich ab, damit ich sein Gesicht nicht sehen sollte, - "voll ist von seinem eklen Blut - nun ja, Pernath, - warum sollen Sie's nicht wissen: er ist mein Vater! - da wurde mir klar, wo die Wurzel lag. - - - Zuweilen kommt's mir sogar wie ein geheimnisvoller Zusammenhang vor, dañ ich schwindsØchtig bin und Blut spucken muñ: mein KÃrper wehrt sich gegen alles, was von 'ihm' ist, und stÃñt es mit Abscheu von sich.
          Oft hat mich mein Hañ bis in den Traum begleitet und zu trÃsten gesucht mit Geschichten von allen nur erdenklichen Foltern, die ich 'ihm' zufØgen durfte, aber immer verscheuchte ich sie selber, weil sie den faden Beigeschmack des - Unbefriedigtseins in mir hinterlieñen.
          Wenn ich Øber mich selbst nachdenke und mich wundern muñ, dañ es so gar niemanden und nichts auf der Welt gibt, was ich zu hassen, - ja nicht einmal als antipathisch zu empfinden imstande wÄre, auñer 'ihn' und seinen Stamm, - beschleicht mich oft das widerliche GefØhl: ich kÃnnte das sein, was man einen 'guten Menschen' nennt. Aber zum GlØck ist es nicht so. - Ich sagte Ihnen schon: es ist kein Platz mehr in mir.
          Und glauben Sie nur ja nicht, dañ ein trauriges Schicksal mich verbittert hat: (Was er meiner Mutter angetan hat, erfuhr ich Øberdies erst in spÄteren Jahren) - ich habe einen Freudentag erlebt, der weit in den Schatten stellt, was sonst einem Sterblichen vergÃnnt ist. Ich weiñ nicht, ob Sie kennen, was innere, echte, heiñe FrÃmmigkeit ist, - ich hatte es bis dahin auch nicht gekannt - als ich aber an jenem Tage, an dem Wassory sich selbst ausgerottet hat, am Laden unten stand und sah, wie 'er' die Nachricht bekam, - sie 'stumpfsinnig', wie ein Laie, der die echte BØhne des Lebens nicht kennt, hÄtte glauben mØssen, - hinnahm, wohl eine Stunde lang teilnahmslos stehen blieb, seine blutrote Hasenscharte nur ein ganz klein biñchen hÃher Øber die ZÄhne gezogen als sonst und den Blick so gewiñ - - so - so - so eigenartig nach innen gekehrt, - - - - da fØhlte ich den Weihrauchduft von den Schwingen des Erzengels. - - Kennen Sie das Gnadenbild der schwarzen Muttergottes in der Teinkirche? Dort warf ich mich nieder und die Finsternis des Paradieses hØllte meine Seele ein." -
          - - - Wie ich Charousek so dastehen sah, die groñen, trÄumerischen Augen voll TrÄnen, da fielen mir Hillels Worte ein von der Unbegreiflichkeit des dunklen Pfades, den die BrØder des Todes gehen.
          Charousek fuhr fort:
          "Die Äuñeren Umstande, die meinen Hañ 'rechtfertigen' oder in den Gehirnen der amtlich besoldeten Richter begreiflich erscheinen lassen kÃnnten, werden Sie vielleicht gar nicht interessieren: - Tatsachen sehen sich an wie Meilensteine und sind doch nur leere Eierschalen. Sie sind das aufdringliche Knallen der Champagnerpfropfen an den Tafeln der Protzen, das nur der Schwachsinnige fØr das Wesentliche eines Gelages hÄlt. - Wassertrum hat meine Mutter mit all den infernalischen Mitteln, die seinesgleichen Gewohnheit sind, gezwungen, ihm zu Willen zu sein, - wenn es nicht noch viel schlimmer war. Und dann - - nun ja - und dann hat er sie an - ein Freudenhaus verkauft, - - - so etwas ist nicht schwer, wenn man PolizeirÄte zu GeschÄftsfreunden hat, - aber nicht etwa, weil er ihrer ØberdrØssig gewesen wÄre, o nein! Ich kenne die Schlupfwinkel seines Herzens: an dem Tage hat er sie verkauft, wo er sich voll Schrecken bewuñt wurde, wie heiñ er sie in Wirklichkeit liebte. So einer wie er handelt da scheinbar widersinnig, aber immer gleich. Das Hamsterhafte in seinem Wesen quietscht auf, sowie jemand kommt und kauft ihm irgend etwas ab aus seiner TrÃdlerbude gegen noch so teures Geld: er empfindet nur den Zwang des 'HergebenmØssens'. Er mÃchte den Begriff 'haben' am liebsten in sich hineinfressen und kÃnnte er sich Øberhaupt ein Ideal ausdenken, so wÄr's das, sich dereinst in den abstrakten Begriff 'Besitz' aufzulÃsen. - -
          Und da ist es damals riesengroñ in ihm gewachsen bis zu einem Berg von Angst: "seiner selbst nicht mehr sicher" zu sein, - nicht: etwas an Liebe geben zu wollen, sondern geben zu mØssen: die Gegenwart eines Unsichtbaren in sich zu ahnen, das seinen Willen oder das, von dem er mÃchte, dañ es sein Wille sein sollte, heimlich in Fesseln schlug. - So war der Anfang. Was dann folgte, geschah automatisch. Wie der Hecht mechanisch zubeiñen muñ, - ob er will oder nicht - wenn ein blitzender Gegenstand zu rechter Zeit vorØberschwimmt.
          Das Verschachern meiner Mutter ergab sich fØr Wassertrum als natØrliche Folge. Es befriedigte den Rest der in ihm schlummernden Eigenschaften: die Gier nach Gold und die perverse Wonne an der Selbstqual. - - - Verzeihen Sie, Meister Pernath," - Charouseks Stimme klang plÃtzlich so hart und nØchtern, dañ ich erschrak, - "verzeihen Sie, dañ ich so furchtbar gescheit daherrede, aber wenn man an der UniversitÄt ist, kommt einem eine Menge vertrottelter BØcher unter die HÄnde; unwillkØrlich verfÄllt man dann in eine teppenhafte Ausdrucksweise." -
          Ich zwang mich ihm zu Gefallen zu einem LÄcheln; innerlich verstand ich gar wohl, dañ er mit dem Weinen kÄmpfte.
          Irgendwie muñ ich ihm helfen, Øberlegte ich, wenigstens seine bitterste Not zu lindern versuchen, soweit das in meiner Macht steht. Ich nahm unauffÄllig die Hundertguldennote, die ich noch zu Hause hatte, aus der Kommodenschublade und steckte sie in die Tasche.
          "Wenn Sie spÄter einmal in eine bessere Umgebung kommen und Ihren Beruf als Arzt ausØben, wird Frieden bei Ihnen einziehen, Herr Charousek"; sagte ich, um dem GesprÄch eine versÃhnliche Richtung zu geben, - "machen Sie bald Ihr Doktorat?"
          "DemnÄchst. Ich bin es meinen WohltÄtern schuldig. Zweck hat's ja keinen, denn meine Tage sind gezÄhlt."
          Ich wollte den Øblichen Einwand machen, dañ er doch wohl zu schwarz sehe, aber erwehrte lÄchelnd ab:
          "Es ist das beste so. Es muñ Øberdies kein VergnØgen sein, den HeilkomÃdianten zu mimen und sich zu guterletzt noch als diplomierter Brunnenvergifter einen Adelstitel zuzuziehen. - - Andererseits", setzte er mit seinem galligen Humor hinzu, "wird mir leider jedes weitere segensreiche Wirken hier im Diesseits-Getto ein fØr allemal abgeschnitten sein." Er griff nach seinem Hut. "Jetzt will ich aber nicht langer stÃren. Oder wÄre noch etwas zu besprechen in der Angelegenheit Savioli? Ich denke nicht. Lassen Sie mich jedenfalls wissen, wenn Sie etwas Neues erfahren. Am besten, Sie hÄngen einen Spiegel hier ans Fenster, als Zeichen, dañ ich Sie besuchen soll. Zu mir in den Keller dØrfen Sie auf keinen Fall kommen: Wassertrum wurde sofort Verdacht schÃpfen, dañ wir zusammenhalten. - Ich bin Øbrigens sehr neugierig, was er jetzt tun wird, wo er gesehen hat, dañ die Dame zu Ihnen gekommen ist. Sagen Sie ganz einfach, sie hÄtte Ihnen ein SchmuckstØck zu reparieren gebracht, und wenn er zudringlich wird, spielen Sie eben den Rabiaten."
          Es wollte sich keine passende Gelegenheit ergeben, Charousek die Banknote aufzudrÄngen; ich nahm daher das Modellierwachs wieder vom Fensterbrett und sagte: "Kommen Sie, ich begleite Sie ein StØck die Treppen hinunter. - Hillel erwartet mich", log ich.
          Er stutzte:
          "Sie sind mit ihm befreundet?"
          "Ein wenig. Kennen Sie ihn? - - Oder miñtrauen Sie ihm", - ich muñte unwillkØrlich lÄcheln - "vielleicht auch?"
          "Da sei Gott vor!"
          "Warum sagen Sie das so ernst?"
          Charousek zÃgerte und dachte nach:
          "Ich weiñ selbst nicht warum. Es muñ etwas Unbewuñtes sein: so oft ich ihm auf der Strañe begegne, mÃchte ich am liebsten vom Pflaster heruntertreten und das Knie beugen wie vor einem Priester, der die Hostie trÄgt. - Sehen Sie, Meister Pernath, da haben Sie einen Menschen, der in jedem Atom das Gegenteil von Wassertrum ist. Er gilt z. B. bei den Christen hier im Viertel, die, wie immer, so auch in diesem Fall falsch informiert sind, als Geizhals und heimlicher MillionÄr und ist doch unsagbar arm."
          Ich fuhr entsetzt auf: "arm?"
          "Ja, womÃglich noch armer als ich. Das Wort 'nehmen' kennt er, glaub' ich, Øberhaupt nur aus BØchern; aber wenn er am Ersten des Monats aus dem 'Rathaus' kommt, dann laufen die jØdischen Bettler vor ihm davon, weil sie wissen, er wØrde dem nÄchsten besten von ihnen seinen ganzen kÄrglichen Gehalt in die Hand drØcken und ein paar Tage spÄter - samt seiner Tochter selber verhungern. - Wenn's wahr ist, was eine uralte talmudische Legende behauptet: dañ von den zwÃlf jØdischen StÄmmen zehn verflucht sind und zwei hellig, so verkÃrpert er die zwei heiligen und Wassertrum alle zehn andern zusammen. - Haben Sie noch nie bemerkt, wie Wassertrum sÄmtliche Farben spielt, wenn Hillel an ihm vorØber geht? Interessant, sag' ich Ihnen! Sehen Sie, solches Blut kann sich gar nicht vermischen; da kamen die Kinder tot zur Welt. Vorausgesetzt, dañ die MØtter nicht schon frØher vor Entsetzen stØrben. - Hillel ist Øbrigens der einzige, an den sich Wassertrum nicht herantraut; - er weicht ihm aus wie dem Feuer. Vermutlich, weil Hillel das Unbegreifliche, das vollkommen UnentrÄtselbare, fØr ihn bedeutet. Vielleicht wittert er in ihm auch den Kabballsten."
          Wir gingen bereits die Stiegen hinab.
          "Glauben Sie, dañ es heutzutage noch Kabballsten gibt - dañ Øberhaupt an der Kabbala etwas sein konnte?", fragte ich, gespannt, was er wohl antworten wØrde, aber er schien nicht zugehÃrt zu haben.
          Ich wiederholte meine Frage.
          Hastig lenkte er ab und deutete auf eine TØr des Treppenhauses, die aus Kistendeckeln zusammengenagelt war:
          "Sie haben da neue Mitbewohner bekommen, eine zwar jØdische aber arme Familie: den meschuggenen Musikanten Nephtali Schaffranek mit Tochter, Schwiegersohn und Enkelkindern. Wenn's dunkel wird und er allein ist mit den kleinen MÄdchen, kommt der Rappel Øber ihn: dann bindet er sie an den Daumen zusammen, damit sie ihm nicht davonlaufen, zwÄngt sie in einen alten HØhnerkÄfig und unterweist sie im 'Gesang', wie er es nennt, damit sie spÄter ihren Lebensunterhalt selbst erwerben kÃnnen, - das heiñt, er lehrt sie die verrØcktesten Lieder, die es gibt, deutsche Texte, BruchstØcke, die er irgendwo aufgeschnappt hat und im DÄmmer seines Seelenzustandes fØr - preuñische Schlachthymnen oder dergleichen hÄlt."
          Wirklich tÃnte da eine sonderbare Musik leise auf den Gang heraus. Ein Fiedelbogen kratzte fØrchterlich hoch und immerwÄhrend in ein und demselben Ton die Umrisse eines Gassenhauers, und zwei fadendØnne Kinderstimmen sangen dazu:
          "Frau Pick,
          Frau Hock,
          Frau Kle - pe - tarsch,
          se stehen beirenond
          und schmusen allerhond - -"
          0x01 graphic

          Es war wie Wahnwitz und Komik zugleich, und ich muñte wider Willen hellaut auflachen.
          "Schwiegersohn Schaffranek - seine Frau verkauft auf dem Eiermarkt Gurkensaft glÄschenweise an die Schuljugend - lÄuft den ganzen Tag in den BØros herum", fuhr Charousek grimmig fort, "und erbettelt sich alte Briefmarken. Die sortiert er dann, und wenn er welche darunter findet, die zufÄllig nur am Rande gestempelt sind, so legt er sie aufeinander und schneidet sie durch. Die ungestempelten HÄlften klebt er zusammen und verkauft sie als neu. Anfangs blØhte das GeschÄft und warf manchmal fast einen - Gulden im Tag ab, aber schlieñlich kamen die Prager jØdischen Groñindustriellen dahinter - und machen es jetzt selber. Sie schÃpfen den Rahm ab."
          "WØrden Sie Not lindern, Charousek, wenn Sie ØberflØssiges Geld hÄtten?" fragte ich rasch. - Wir standen vor Hillels TØr und ich klopfte an.
          "Halten Sie mich fØr so gemein, dañ Sie glauben kÃnnen, ich tÄte es nicht?", fragte er verblØfft zurØck.
          Mirjams Schritte kamen nÄher, und ich wartete, bis sie die Klinke niederdrØckte, dann schob ich ihm rasch die Banknote in die Tasche:
          "Nein, Herr Charousek, ich halte Sie nicht dafØr, aber mich mØñten Sie fØr gemein halten, wenn ich's unterlieñe."
          Ehe er etwas erwidern konnte, hatte ich ihm die Hand geschØttelt und die TØr hinter mir zugezogen. WÄhrend mich Mirjam begrØñte, lauschte ich, was er tun wØrde.
          Er blieb eine Weile stehen, dann schluchzte er leise auf und ging langsam mit suchendem Schritt die Treppe hinunter. Wie jemand, der sich am GelÄnder halten muñ. - - -
          0x01 graphic

          Es war das erste Mal, dañ ich Hillels Zimmer besuchte.
          Es sah schmucklos aus wie ein GefÄngnis. Der Boden peinlich sauber und mit weiñem Sand bestreut. Nichts an MÃbeln als zwei StØhle und ein Tisch und eine Kommode. Ein Holzpostament je links und rechts an den WÄnden. - - -
          Mirjam sañ mir gegenØber am Fenster, und ich bossierte an meinem Modellierwachs.
          "Muñ man denn ein Gesicht vor sich haben, um die ähnlichkeit zu treffen?", fragte sie schØchtern und nur, um die Stille zu unterbrechen.
          Wir wichen einander scheu mit den Blicken aus. Sie wuñte nicht, wohin die Augen richten in ihrer Qual und Scham Øber die jammervolle Stube, und mir brannten die Wangen von innerem Vorwurf, dañ ich mich nicht lÄngst darum gekØmmert hatte, wie sie und ihr Vater lebten.
          Aber irgend etwas muñte ich doch antworten!
          "Nicht so sehr, um die ähnlichkeit zu treffen, als um zu vergleichen, ob man innerlich auch richtig gesehen hat", - ich fØhlte, noch wÄhrend ich sprach, wie grundfalsch das alles war, was ich sagte.
          Jahrelang hatte ich den irrigen Grundsatz der Maler, man mØsse die Äuñere Natur studieren, um kØnstlerisch schaffen zu kÃnnen, stumpfsinnig nachgebetet und befolgt; erst, seit Hillel mich in jener Nacht erweckt, war mir das innere Schauen aufgegangen: das wahre SehenkÃnnen hinter geschlossenen Lidern, das sofort erlischt, wenn man die Augen aufschlÄgt, - die Gabe, die sie alle zu haben glauben und die doch unter Millionen keiner wirklich besitzt.
          Wie konnte ich auch nur von der MÃglichkeit sprechen, die unfehlbare Richtschnur der geistigen Vision an den groben Mitteln des Augenscheins nachmessen zu wollen!
          Mirjam schien ähnliches zu denken, nach dem Erstaunen in ihren Mienen zu schlieñen.
          "Sie dØrfen es nicht so wÃrtlich nehmen", entschuldigte ich mich.
          Voll Aufmerksamkeit sah sie zu, wie ich mit dem Griffel die Form vertiefte.
          "Es muñ unendlich schwer sein, alles dann haargenau auf Stein zu Øbertragen?"
          "Das ist nur mechanische Arbeit. So ziemlich wenigstens."

          Pause.

          "Darf ich die Gemme sehen, wenn sie fertig ist?" fragte sie.
          "Sie ist doch fØr Sie bestimmt, Mirjam."
          "Nein, nein; das geht nicht, - - das - das - -", - ich sah, wie ihre HÄnde nervÃs wurden.
          "Nicht einmal diese Kleinigkeit wollen Sie von mir annehmen?", unterbrach ich sie schnell, "ich wollte, ich dØrfte mehr fØr Sie tun."
          Hastig wandte sie das Gesicht ab.
          Was hatte ich da gesagt! Ich muñte sie aufs tiefste verletzt haben. Es hatte geklungen, als wollte ich auf ihre Armut anspielen.
          Konnte ich es noch beschÃnigen? Wurde es dann nicht weit schlimmer?
          Ich nahm einen Anlauf:
          "HÃren Sie mich ruhig an, Mirjam! Ich bitte Sie darum. - Ich schulde Ihrem Vater so unendlich viel, - Sie kÃnnen das gar nicht ermessen - -"
          Sie sah mich unsicher an; verstand offenbar nicht.
          "-ja ja: unendlich viel. Mehr als mein Leben."
          "Weil er Ihnen damals beistand, als Sie ohnmÄchtig waren? Das war doch selbstverstÄndlich."
          Ich fØhlte: sie wuñte nicht, welches Band mich mit ihrem Vater verknØpfte. Vorsichtig sondierte ich, wie weit ich gehen durfte, ohne zu verraten, was er ihr verschwieg.
          "Weit hÃher als Äuñere Hilfe, dachte ich, ist die innere zu stellen. - Ich meine die, die aus dem geistigen Einfluñ eines Menschen auf den andern Øberstrahlt. - Verstehen Sie, was ich damit sagen will, Mirjam? - Man kann jemand auch seelisch heilen, nicht nur kÃrperlich, Mirjam."
          "Und das hat - -?"
          "Ja, das hat Ihr Vater an mir getan!" - ich fañte sie an der Hand, - "begreifen Sie nicht, dañ es mir da ein Herzenswunsch sein muñ, wenn schon nicht ihm, so doch jemand, der ihm so nahesteht, wie Sie, irgendeine Freude zu bereiten? - Haben Sie nur ein ganz klein wenig Vertrauen zu mir! - Gibt's denn gar keinen Wunsch, den ich Ihnen erfØllen kÃnnte?"
          Sie schØttelte den Kopf: "Sie glauben, ich fØhle mich unglØcklich hier?"
          "Gewiñ nicht. Aber vielleicht haben Sie zuweilen Sorgen, die ich Ihnen abnehmen konnte? Sie sind verpflichtet - hÃren Sie! - verpflichtet, mich daran teilnehmen zu lassen! Warum leben Sie denn beide hier in der finstern traurigen Gasse, wenn Sie nicht mØñten? Sie sind noch so jung, Mirjam, und - -"
          "Sie leben doch selbst hier, Herr Pernath", unterbrach sie mich lÄchelnd, "was fesselt Sie an das Haus?"
          Ich stutzte. - Ja. Ja, das war richtig. Warum lebte ich eigentlich hier? Ich konnte es mir nicht erklÄren, was fesselt dich an das Haus? wiederholte ich mir geistesabwesend. Ich konnte keine ErklÄrung finden und vergañ einen Augenblick ganz, wo ich war. - Dann stand ich plÃtzlich entrØckt irgendwo hoch oben - in einem Garten - roch den zauberhaften Duft von blØhenden Holunderdolden, - sah herab auf die Stadt - - -
          "Habe ich eine Wunde berØhrt? Hab' ich Ihnen weh getan?", kam Mirjams Stimme von weit, weit her zu mir.
          Sie hatte sich Øber mich gebeugt und sah mir Ängstlich forschend ins Gesicht.
          Ich muñte wohl lange starr dagesessen haben, dañ sie so besorgt war.
          Eine Weile schwankte es hin und her in mir, dann brach sich's plÃtzlich gewaltsam Bahn, Øberflutete mich, und ich schØttete Mirjam mein ganzes Herz aus.
          Ich erzÄhlte ihr, wie einem lieben, alten Freund, mit dem man sein ganzes Leben beisammen war und vor dem man kein Geheimnis hat, wie's um mich stand und auf welche Weise ich aus einer ErzÄhlung Zwakhs erfahren hatte, dañ ich in frØheren Jahren wahnsinnig gewesen und der Erinnerung an meine Vergangenheit beraubt worden war, - wie in letzter Zeit Bilder in mir wach geworden, die in jenen Tagen wurzeln muñten, immer hÄufiger und hÄufiger, und dañ ich vor dem Moment zitterte, wo mir alles offenbar werden und mich von neuem zerreiñen wØrde.
          Nur, was ich mit ihrem Vater in Zusammenhang bringen muñte: - meine Erlebnisse in den unterirdischen GÄngen und all das Øbrige, verschwieg ich ihr.
          Sie war dicht zu mir gerØckt und hÃrte mit einer tiefen atemlosen Teilnahme zu, die mir unsÄglich wohl tat.
          Endlich hatte ich einen Menschen gefunden, mit dem ich mich aussprechen konnte, wenn mir meine geistige Einsamkeit zu schwer wurde. - Gewiñ wohl: Hillel war ja noch da, aber fØr mich nur wie ein Wesen jenseits der Wolken, das kam und verschwand wie ein Licht, an das ich nicht herankonnte, wenn ich mich sehnte.
          Ich sagte es ihr und sie verstand mich. Auch sie sah ihn so, trotzdem er ihr Vater war.
          Er hing mit unendlicher Liebe an ihr und sie an ihm - "und doch bin ich wie durch eine Glaswand von ihm getrennt," vertraute sie mir an, "die ich nicht durchbrechen kann. Solange ich denke, war es so. - Wenn ich ihn als Kind im Traum an meinem Bette stehen sah, immer trug er das Gewand des Hohenpriesters: die goldene Tafel des Moses mit den 12 Steinen darin auf der Brust, und blaue leuchtende Strahlen gingen von seinen SchlÄfen aus. - Ich glaube, seine Liebe ist von der Art, die Øbers Grab hinausgeht, und zu groñ, als dañ wir sie fassen kÃnnten. - Das hat auch meine Mutter immer gesagt, wenn wir heimlich Øber ihn sprachen." - - Sie schauderte plÃtzlich und zitterte am ganzen Leib. Ich wollte aufspringen, aber sie hielt mich zurØck: "Seien Sie ruhig, es ist nichts. Bloñ eine Erinnerung. Als meine Mutter starb - nur ich weiñ, wie er sie geliebt hat, ich war damals noch ein kleines MÄdchen, - glaubte ich vor Schmerz ersticken zu mØssen, und ich lief zu ihm hin und krallte mich in seinen Rock und wollte aufschreien und konnte doch nicht, weil alles gelÄhmt war in mir - und - und da - - - - mir lauft's wieder eiskalt Øber den RØcken, wenn ich daran denke - sah er mich lÄchelnd an, kØñte mich auf die Stirn und fuhr mir mit der Hand Øber die Augen. - - - - Und von dem Moment an bis heute war jedes Leid, dañ ich meine Mutter verloren hatte, wie ausgetilgt in mir. Nicht eine TrÄne konnte ich vergieñen, als sie begraben wurde; ich sah die Sonne als strahlende Hand Gottes am Himmel stehen und wunderte mich, warum die Menschen weinten. Mein Vater ging hinter dem Sarge her, neben mir, und wenn ich aufblickte, lÄchelte er jedesmal leise und ich fØhlte, wie das Entsetzen durch die Menge fuhr, als sie es sahen."
          "Und sind Sie glØcklich, Mirjam? Ganz glØcklich? Liegt nicht zugleich etwas Furchtbares fØr Sie in dem Gedanken, ein Wesen zum Vater zu haben, das hinausgewachsen ist Øber alles Menschentum?", fragte ich leise.
          Mirjam schØttelte freudig den Kopf:
          "Ich lebe wie in einem seligen Schlaf dahin. - Als Sie mich vorhin fragten, Herr Pernath, ob ich nicht Sorgen hÄtte und warum wir hier wohnten, muñte ich fast lachen. Ist denn die Natur schÃn? Nun ja, die BÄume sind grØn und der Himmel ist blau, aber das alles kann ich mir viel schÃner vorstellen, wenn ich die Augen schlieñe. Muñ ich denn, um sie zu sehen, auf einer Wiese sitzen? - Und das biñchen Not und - und - und Hunger? Das wird tausendfach aufgewogen durch die Hoffnung und das Warten."
          "Das Warten?", fragte ich erstaunt.
          "Das Warten auf ein Wunder. Kennen Sie das nicht? Nein? Da sind Sie aber ein ganz, ganz armer Mensch. - Dañ das so wenige kennen?! Sehen Sie, das ist auch der Grund, weshalb ich nie ausgehe und mit niemand verkehre. Ich hatte wohl frØher ein paar Freundinnen - JØdinnen natØrlich, wie ich -, aber wir redeten immer aneinander vorbei; sie verstanden mich nicht und ich sie nicht. Wenn ich von Wundern sprach, glaubten sie anfangs, ich mache Spañ, und als sie merkten, wie ernst es mir war und dañ ich auch unter Wundern nicht das verstand, was die Deutschen mit ihren Brillen so bezeichnen: das gesetzmÄñige Wachsen des Grases und dergleichen, sondern eher das Gegenteil, - hÄtten sie mich am liebsten fØr verrØckt gehalten, aber dagegen stand ihnen wieder im Wege, dañ ich ziemlich gelenkig bin im Denken, hebrÄisch und aramÄisch gelernt habe, die Targumim und Midraschim lesen kann, und was dergleichen NebensÄchlichkeiten mehr sind. Schlieñlich fanden sie ein Wort, das Øberhaupt nichts mehr ausdrØckt: sie nannten mich 'Øberspannt'.
          Wenn ich ihnen dann klarmachen wollte, dañ das Bedeutsame - das Wesentliche - fØr mich in der Bibel und anderen heiligen Schriften das Wunder und bloñ das Wunder sei und nicht Vorschriften Øber Moral und Ethik, die nur versteckte Wege sein kÃnnen, um zum Wunder zu gelangen, - so wuñten sie nur mit GemeinplÄtzen zu erwidern, denn sie scheuten sich, offen einzugestehen, dañ sie aus den Religionsschriften nur das glaubten, was ebensogut im bØrgerlichen Gesetzbuch stehen kÃnnte. Wenn sie das Wort 'Wunder' nur hÃrten, wurde ihnen schon unbehaglich. Sie verlÃren den Boden unter den FØñen, sagten sie.
          Als ob es etwas Herrlicheres geben kÃnnte, als den Boden unter den FØñen zu verlieren!
          Die Welt ist dazu da, um von uns kaputt gedacht zu werden, hÃrte ich einmal meinen Vater sagen, - dann, dann erst fÄngt das Leben an. - Ich weiñ nicht, was er mit dem 'Leben' meinte, aber ich fØhle zuweilen, dañ ich eines Tages so wie: 'erwachen' werde. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, in welchen Zustand hinein. Und Wunder mØssen dem vorhergehen, denke ich mir immer.
          'Hast du denn schon welche erlebt, dañ du fortwÄhrend darauf wartest?' fragten mich oft meine Freundinnen, und wenn ich verneinte, wurden sie plÃtzlich froh und siegesgewiñ. Sagen Sie, Herr Pernath, kÃnnen Sie solche Herzen verstehen? Dañ ich doch Wunder erlebt habe, wenn auch nur kleine, - winzig kleine -", - Mirjams Augen glÄnzten, - "wollte ich ihnen nicht verraten, - - -"
          Ich hÃrte, wie FreudentrÄnen ihre Stimme fast erstickten.
          "- aber Sie werden mich verstehen: oft, Wochen, ja Monate", - Mirjam wurde ganz leise - "haben wir nur von Wundern gelebt. Wenn gar kein Brot mehr im Hause war, aber auch nicht ein Bissen mehr, dann wuñte ich: jetzt ist die Stunde da! - Und dann sañ ich hier und wartete und wartete, bis ich vor Herzklopfen kaum mehr atmen konnte. Und - und dann, wenn's mich plÃtzlich zog, lief ich hinunter und kreuz und quer durch die Strañen, so rasch ich konnte, um rechtzeitig wieder im Hause zu sein, ehe mein Vater heimkam. Und - und jedesmal fand ich Geld. Einmal mehr, einmal weniger, aber immer soviel, dañ ich das NÃtigste einkaufen konnte. Oft lag ein Gulden mitten auf der Strañe; ich sah ihn von weitem blitzen und die Leute traten darauf, rutschten aus darØber, aber keiner bemerkte ihn. - Das machte mich zuweilen so ØbermØtig, dañ ich gar nicht erst ausging, sondern nebenan in der KØche den Boden durchsuchte wie ein Kind, ob nicht Geld oder Brot vom Himmel gefallen sei."
          - Ein Gedanke schoñ mir durch den Kopf, und ich muñte aus Freude darØber lÄcheln. -
          Sie sah es.
          "Lachen Sie nicht, Herr Pernath", flehte sie. "Glauben Sie mir, ich weiñ, dañ diese Wunder wachsen werden und dañ sie eines Tages -"
          Ich beruhigte sie: "Aber ich lache doch nicht, Mirjam! Was denken Sie denn! Ich bin unendlich glØcklich, dañ Sie nicht sind wie die andern, die hinter jeder Wirkung die gewohnte Ursache suchen und bocken, wenn's - wir rufen in solchen Fallen: Gott sei Dank! - einmal anders kommt."
          Sie streckte mir die Hand hin:
          "Und nicht wahr, Sie werden nie mehr sagen, Herr Pernath, dañ Sie mir - oder uns - helfen wollen? Jetzt, wo Sie wissen, dañ Sie mir die MÃglichkeit, ein Wunder zu erleben, rauben wØrden, wenn Sie es tÄten?"
          Ich versprach es. Aber im Herzen machte ich einen Vorbehalt.
          Da ging die TØr und Hillel trat ein.
          Mirjam umarmte ihn; und er begrØñte mich. Herzlich und voll Freundschaft, aber wieder mit dem kØhlen "Sie".
          Auch schien etwas wie leise MØdigkeit oder Unsicherheit auf ihm zu lasten. - Oder irrte ich mich?
          Vielleicht kam es nur von der DÄmmerung, die in der Stube lag.
          "Sie sind gewiñ hier, mich um Rat zu fragen", fing er an, als Mirjam uns allein gelassen hatte, "in der Sache, die die fremde Dame betrifft - -?"
          Ich wollte ihn verwundert unterbrechen, aber er fiel mir in die Rede:
          "Ich weiñ es von dem Studenten Charousek. Ich sprach ihn auf der Gasse an, weil er mir merkwØrdig verÄndert vorkam. Er hat mir alles erzÄhlt. In der øberfØlle seines Herzens. Auch, dañ - Sie ihm Geld geschenkt haben." Er sah mich durchdringend an und betonte jedes seiner Worte auf hÃchst seltsame Weise, aber ich verstand nicht, was er damit wollte:
          "Gewiñ, es hat dadurch ein paar Tropfen GlØck mehr vom Himmel geregnet - und - und in diesem - Fall hat's vielleicht auch nicht geschadet, aber -," er dachte eine Weile nach, - "aber manchmal schafft man sich und anderen nur Leid damit. Gar so leicht ist das Helfen nicht, wie Sie denken, mein lieber Freund! Da wÄre es sehr, sehr einfach, die Welt zu erlÃsen. - Oder glauben Sie nicht?"
          "Geben Sie denn nicht auch den Armen? Oft alles, was Sie besitzen, Hillel?", fragte ich.
          Er schØttelte lÄchelnd den Kopf: "Mir scheint, Sie sind Øber Nacht ein Talmudist geworden, dañ Sie eine Frage wieder mit einer Frage beantworten. Da ist freilich schwer streiten."
          Er hielt inne, als ob ich darauf antworten sollte, aber wiederum verstand ich nicht, worauf er eigentlich wartete.
          "øbrigens, um zu dem Thema zurØckzukommen", fuhr er in verÄndertem Tone fort, "ich glaube nicht, dañ Ihrem SchØtzling - ich meine die Dame - augenblicklich Gefahr droht. Lassen Sie die Dinge an sich herantreten. Es heiñt zwar: 'der kluge Mann baut vor', aber der KlØgere, scheint mir, wartet ab und ist auf alles gefañt. Vielleicht ergibt sich die Gelegenheit, dañ Aaron Wassertrum mit mir zusammentrifft, aber das muñ dann von ihm ausgehen, - ich tue keinen Schritt, er muñ herØberkommen. Ob zu Ihnen oder zu mir, ist gleichgØltig - und dann will ich mit ihm reden. An ihm wird's sein, sich zu entscheiden, ob er meinen Rat befolgen will oder nicht. Ich wasche meine HÄnde in Unschuld."
          Ich versuchte Ängstlich in seinem Gesicht zu lesen. So kalt und eigentØmlich drohend hatte er noch nie gesprochen. Aber hinter diesem schwarzen, tiefliegenden Auge schlief ein Abgrund.
          "Es ist wie eine Glaswand zwischen ihm und uns", fielen mir Mirjams Worte ein.
          Ich konnte ihm nur wortlos die Hand drØcken und - gehen.
          Er begleitete mich bis vor die TØre und, als ich die Treppe hinaufging und mich noch einmal umdrehte, sah ich, dañ er stehen geblieben war und mir freundlich nachwinkte, aber wie jemand, der noch gern etwas sagen mÃchte und nicht kann.

    Angst


          Ich hatte die Absicht, mir Mantel und Stock zu holen und in die kleine Wirtsstube "Zum alten Ungelt" essen zu gehen, wo allabendlich Zwakh, Vrieslander und Prokop bis spÄt in die Nacht beisammen sañen und einander verrØckte Geschichten erzÄhlten; aber kaum betrat ich mein Zimmer, da fiel der Vorsatz von mir ab, - wie wenn mir HÄnde ein Tuch oder sonst etwas, was ich am Leibe getragen, abgerissen hÄtten.
          Es lag eine Spannung in der Luft, Øber die ich mir keine Rechenschaft geben konnte, die aber trotzdem vorhanden war wie etwas Greifbares und sich im Verlauf weniger Sekunden derart heftig auf mich Øbertrug, dañ ich vor Unruhe anfangs kaum wuñte, was ich zuerst tun sollte: Licht anzØnden, hinter mir abschlieñen, mich niedersetzen oder auf und ab gehen.
          Hatte sich jemand in meiner Abwesenheit eingeschlichen und versteckt? War's die Angst eines Menschen vor dem Gesehenwerden, die mich ansteckte? War Wassertrum vielleicht hier?
          Ich griff hinter die Gardinen, Ãffnete den Schrank, tat einen Blick ins Nebenzimmer: - niemand.
          Auch die Kassette stand unverrØckt an ihrem Platz.
          Ob es nicht am besten war, ich verbrannte die Briefe kurz entschlossen, um ein fØr allemal die Sorge um sie los zu sein?
          Schon suchte ich nach dem SchlØssel in meiner Westentasche - aber muñte es denn jetzt geschehen? Es blieb mir doch Zeit genug bis morgen frØh.
          Erst Licht machen!
          Ich konnte die StreichhÃlzer nicht finden.
          War die TØr abgesperrt? - Ich ging ein paar Schritte zurØck. Blieb wieder stehen.
          Warum mit einemmal die Angst?
          Ich wollte mir VorwØrfe machen, dañ ich feig sei: - die Gedanken blieben stecken. Mitten im Satz.
          Eine wahnwitzige Idee Øberfiel mich plÃtzlich: rasch, rasch auf den Tisch steigen, einen Sessel packen und zu mir hinaufziehen und "dem" den SchÄdel damit von oben herab einschlagen, das da auf dem Boden herumkroch, - - wenn - wenn es in die NÄhe kam.
          "Es ist doch niemand hier," sagte ich mir laut und Ärgerlich vor, "hast du dich denn je im Leben gefØrchtet?"
          Es half nichts. Die Luft, die ich einatmete, wurde dØnn und schneidend wie äther.
          Wenn ich irgendetwas gesehen hÄtte: das GrÄñlichste, was man sich vorstellen kann, - im Nu wÄre die Furcht von mir gewichen.
          Es kam nichts.
          Ich bohrte meine Augen in alle Winkel:
          Nichts.
          øberall lauter wohlbekannte Dinge: MÃbel, Truhen, die Lampe, das Bild, die Wanduhr - leblose, alte, treue Freunde.
          Ich hoffte, sie wØrden sich vor meinen Blicken verÄndern und mir Grund geben, eine SinnestÄuschung als Ursache fØr das wØrgende AngstgefØhl in mir zu finden.
          Auch das nicht. - Sie blieben ihrer Form starr getreu. Viel zu starr fØr das herrschende Halbdunkel, als dañ es natØrlich gewesen wÄre.
          "Sie stehen unter demselben Zwang wie du selbst", fØhlte ich. "Sie trauen sich nicht, auch nur die leiseste Bewegung zu machen."
          Warum tickt die Wanduhr nicht? -
          Das Lauern ringsum trank jeden Laut.
          Ich rØttelte am Tisch und wunderte mich, dañ ich das GerÄusch hÃren konnte.
          Wenn doch wenigstens der Wind ums Haus pfiffe! - Nicht einmal das! Oder das Holz im Ofen aufknallen wollte: - das Feuer war erloschen.
          Und immerwÄhrend dasselbe entsetzliche Lauern in der Luft - pausenlos, lØckenlos, wie das Rinnen von Wasser.
          Dieses vergebliche Auf-dem-Sprung-stehen aller meiner Sinne! Ich verzweifelte daran, es je Øberdauern zu kÃnnen. - Der Raum voll Augen, die ich nicht sehen, - voll von planlos wandernden HÄnden, die ich nicht greifen konnte.
          "Es ist das Entsetzen, das sich aus sich selbst gebiert, die lÄhmende Schrecknis des unfañbaren Nicht-Etwas, das keine Form hat und unserm Denken die Grenzen zerfriñt", begriff ich dumpf.
          Ich stellte mich steif hin und wartete.
          Wartete wohl eine Viertelstunde: vielleicht lieñ "es" sich verleiten und schlich von rØckwÄrts an mich heran - und ich konnte es ertappen?!
          Mit einem Ruck fuhr ich herum: wieder nichts.
          Dasselbe markverzehrende "Nichts", das nicht war und doch das Zimmer mit seinem grausigen Leben erfØllte.
          Wenn ich hinausliefe? Was hinderte mich?
          "Es wØrde mit mir gehen", wuñte ich sofort mit unabweisbarer Sicherheit. Auch, dañ es mir nichts nØtzen kÃnnte, wenn ich Licht machte, sah ich ein, - dennoch suchte ich so lange nach dem Feuerzeug, bis ich es gefunden hatte.
          Aber der Kerzendocht wollte nicht brennen und kam lang aus dem Glimmen nicht heraus: die kleine Flamme konnte nicht leben und nicht sterben, und als sie sich endlich doch ein schwindsØchtiges Dasein erkÄmpft hatte, blieb sie glanzlos wie gelbes, schmutziges Blech. Nein, da war die Dunkelheit noch besser.
          Ich lÃschte wieder aus und warf mich angezogen Øbers Bett. ZÄhlte die SchlÄge meines Herzens: eins, zwei, drei - vier ... bis tausend, und immer von neuem - Stunden, Tage, Wochen, wie mir schien, bis meine Lippen trocken wurden und das Haar sich mir strÄubte: keine Sekunde der Erleichterung.
          Auch nicht eine einzige.
          Ich fing an, mir Worte vorzusagen, wie sie mir gerade auf die Zunge kamen: "Prinz", "Baum", "Kind", "Buch" - und sie krampfhaft zu wiederholen, bis sie plÃtzlich als sinnlose, schreckhafte Laute aus barbarischer Vorzeit nackt mir gegenØberstanden, und ich mit aller Kraft nachdenken muñte, in ihre Bedeutung zurØckzufinden: P-r-i-n-z? - B-u-ch?
          War ich nicht schon wahnsinnig? Oder gestorben? - Ich tastete an mir herum.
          Aufstehen!
          Mich in den Sessel setzen!
          Ich lieñ mich in den Lehnstuhl fallen.
          Wenn doch endlich der Tod kÄme!
          Nur dieses blutlose, furchtbare Lauern nicht mehr fØhlen! "Ich - will - nicht - ich will - nicht!", schrie ich. "HÃrt ihr denn nicht?!"
          Kraftlos fiel ich zurØck.
          Konnte es nicht fassen, dañ ich immer noch lebte.
          UnfÄhig, irgend etwas zu denken oder zu tun, stierte ich geradeaus vor mich hin.
          0x01 graphic

          "Weshalb er mir nur die KÃrner so beharrlich hinreicht?", ebbte ein Gedanke auf mich zu, zog sich zurØck und kam wieder. Zog sich zurØck. Kam wieder.
          Langsam wurde mir endlich klar, dañ ein seltsames Wesen vor mir stand - vielleicht schon, seit ich hier sañ, dagestanden hatte - und mir die Hand hinstreckte:
          Ein graues, breitschultriges GeschÃpf, in der GrÃñe eines gedrungen gewachsenen Menschen, auf einen spiralfÃrmig gedrehten Knotenstock aus weiñem Holz gestØtzt.
          Wo der Kopf hÄtte sitzen mØssen, konnte ich nur einen Nebelballen aus fahlem Dunst unterscheiden.
          Ein trØber Geruch nach Sandelholz und nassem Schiefer ging von der Erscheinung aus.
          Ein GefØhl vollkommenster Wehrlosigkeit raubte mir fast die Besinnung. Was ich die ganze lange Zeit an nervenzernagender Qual mitgemacht, drÄngte sich jetzt zu Todesschrecken zusammen und war in diesem Wesen zur Form geronnen.
          Mein Selbsterhaltungstrieb sagte mir, ich wØrde wahnsinnig werden vor Entsetzen und Furcht, wenn ich das Gesicht des Phantoms sehen kÃnnte, - warnte mich davor, schrie es mir in die Ohren - und doch zog es mich wie ein Magnet, dañ ich den Blick von dem fahlen Nebelballen nicht wenden konnte und darin forschte nach Augen, Nase und Mund.
          Aber so sehr ich mich auch abmØhte: der Dunst blieb unbeweglich. Wohl glØckte es mir, KÃpfe aller Art auf den Rumpf zu setzen, doch jedesmal wuñte ich, dañ sie nur meiner Einbildungskraft entstammten.
          Sie zerrannen auch stets - fast in derselben Sekunde, in der ich sie geschaffen hatte.
          Nur die Form eines Ägyptischen Ibiskopfs blieb noch am lÄngsten bestehen.
          Die Umrisse des Phantoms schleierten schemenhaft in der Dunkelheit, zogen sich kaum merklich zusammen und dehnten sich wieder aus, wie unter langsamen AtemzØgen, die die ganze Gestalt durchliefen, die einzige Bewegung, die zu bemerken war. Statt der FØñe berØhrten Knochenstumpen den Boden, von denen das Fleisch - grau und blutleer - auf Spannenbreite zu wulstigen RÄndern emporgezogen war.
          Regungslos hielt das GeschÃpf mir seine Hand hin.
          Kleine KÃrner lagen dann. Bohnengroñ, von roter Farbe und mit schwarzen Punkten am Rande.
          Was sollte ich damit?!
          Ich fØhlte dumpf: eine ungeheure Verantwortung lag auf mir - eine Verantwortung, die weit hinausging Øber alles Irdische, - wenn ich jetzt nicht das Richtige tat.
          Zwei Waagschalen, jede belastet mit dem Gewicht des halben WeltgebÄudes, schweben irgendwo im Reich der Ursachen, ahnte ich - auf welche von beiden ich ein StÄubchen warf: die sank zu Boden.
          Das war das furchtbare Lauern ringsum!, verstand ich. "Keinen Finger rØhren!", riet mir mein Verstand, - "und wenn der Tod in alle Ewigkeit nicht kommen sollte und mich erlÃsen aus dieser Qual." -
          Auch dann hÄttest du deine Wahl getroffen: du hÄttest die KÃrner abgelehnt, raunte es in mir. Hier gibt's kein ZurØck.
          Hilfesuchend blickte ich um mich, ob mir denn kein Zeichen wurde, was ich tun sollte. Nichts.
          Auch in mir kein Rat, kein Einfall - alles tot, gestorben.
          Das Leben von Myriaden Menschen wiegt leicht wie eine Feder in diesem furchtbaren Augenblick, erkannte ich. - -
          Es muñte bereits tiefe Nacht sein, denn ich konnte die WÄnde meines Zimmers nicht mehr unterscheiden.
          Nebenan im Atelier stampften Schritte; ich hÃrte, dañ jemand SchrÄnke rØckte, Schubladen aufriñ und polternd zu Boden warf, glaubte Wassertrums Stimme zu erkennen, wie er in seinem rÃchelnden Bañ wilde Fluche ausstieñ; ich horchte nicht hin. Es war mir belanglos wie das Rascheln einer Maus. - Ich schloñ die Augen:
          Menschliche Antlitze zogen in langen Reihen an mir vorØber. Die Lider zugedrØckt - starre Totenmasken: - mein eigenes Geschlecht, meine eigenen Vorfahren.
          Immer dieselbe SchÄdelbildung, wie auch der Typus zu wechseln schien, so stand es auf aus seinen GrØften, - mit glattem gescheiteltem Haar, gelocktem und kurz geschnittenem, mit AllongeperØcken und in Ringe gezwÄngten SchÃpfen - durch Jahrhunderte heran, bis die ZØge mir bekannter und bekannter wurden und in ein letztes Gesicht zusammenflossen: - das Gesicht des Golem, mit dem die Kette meiner Ahnen abbrach.
          Dann lÃste die Finsternis mein Zimmer in einen unendlichen leeren Raum auf, in dessen Mitte ich mich auf meinem Lehnstuhl sitzen wuñte, vor mir der graue Schatten wieder mit dem ausgestreckten Arm.
          Und als ich die Augen aufschlug, standen in zwei sich schneidenden Kreisen, die einen Achter bildeten, fremdartige Wesen um uns herum:
          Die des einen Kreises gehØllt in GewÄnder mit violettem Schimmer, die des anderen mit rÃtlich schwarzem. Menschen einer fremden Rasse, von hohem, unnatØrlich schmÄchtigem Wuchs, die Gesichter hinter leuchtenden TØchern verborgen.
          Das Herzbeben in meiner Brust sagte mir, dañ der Zeitpunkt der Entscheidung gekommen war. Meine Finger zuckten nach den KÃrnern: - und da sah ich, wie ein Zittern durch die Gestalten des rÃtlichen Kreises ging. -
          Sollte ich die KÃrner zurØckweisen?: Das Zittern ergriff den blÄulichen Kreis; - ich blickte den Mann ohne Kopf scharf an; er stand da - in derselben Stellung: regungslos wie frØher.
          Sogar sein Atem hatte aufgehÃrt.
          Ich hob den Arm, wuñte noch immer nicht, was ich tun sollte, und - schlug auf die ausgestreckte Hand des Phantoms, dañ die KÃrner Øber den Boden hinrollten.
          Einen Moment, so jÄh wie ein elektrischer Schlag, entglitt mir das Bewuñtsein, und ich glaubte in endlose Tiefen zu stØrzen, - dann stand ich fest auf den FØñen.
          Das graue GeschÃpf war verschwunden. Ebenso die Wesen des rÃtlichen Kreises.
          Die blÄulichen Gestalten hingegen hatten einen Ring um mich gebildet; sie trugen eine Inschrift aus goldnen Hieroglyphen auf der Brust und hielten stumm - es sah aus wie ein Schwur - zwischen Zeigefinger und Daumen die roten KÃrner in die Hohe, die ich dem Phantom ohne Kopf aus der Hand geschlagen hatte.
          Ich hÃrte, wie drauñen Hagelschauer gegen die Fenster tobten und brØllender Donner die Luft zerriñ:
          Ein Wintergewitter in seiner ganzen besinnungslosen Wut raste Øber die Stadt hinweg. Vom Fluñ her drÃhnten durch das Heulen des Sturms in rhythmischen Intervallen die dumpfen KanonenschØsse, die das Brechen der Eisdecke auf der Moldau verkØndeten. Die Stube loderte im Licht der ununterbrochen aufeinanderfolgenden Blitze. Ich fØhlte mich plÃtzlich so schwach, dañ mir die Knie zitterten und ich mich setzen muñte.
          "Sei ruhig," sagte deutlich eine Stimme neben mir, "sei ganz ruhig, es ist heute die Lelschimurim: die Nacht der BeschØtzung." -
          0x01 graphic

          AllmÄhlich lieñ das Unwetter nach, und der betÄubende LÄrm ging Øber in das eintÃnige Trommeln der Schloñen auf die Dacher.
          Die Mattigkeit in meinen Gliedern nahm derart zu, dañ ich nur mehr mit stumpfen Sinnen und halb im Traum wahrnahm, was um mich her vorging:
          Jemand aus dem Kreis sagte die Worte:
          "Den ihr suchet, der ist nicht hier."
          Die andern erwiderten etwas in einer fremden Sprache.
          Hierauf sagte der erste wieder leise einen Satz, dann kam der Name
          "Henoch"
          vor, aber ich verstand das Øbrige nicht: der Wind trug das StÃhnen der berstenden Eisschollen zu laut vom Flusse herØber.
          0x01 graphic

          Dann lÃste sich einer aus dem Kreis, trat vor mich hin, deutete auf die Hieroglyphen auf seiner Brust - sie waren dieselben Buchstaben wie die der Øbrigen - und fragte mich, ob ich sie lesen kÃnne.
          Und als ich - lallend vor MØdigkeit, - verneinte, streckte er die HandflÄche gegen mich aus, und die Schrift erschien leuchtend auf meiner Brust in Lettern, die zuerst lateinisch waren:
          CHABRAT ZEREH AUR BOCHER
          0x01 graphic

          und sich langsam in die mir unbekannten verwandelten. - - - Und ich fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, wie ich ihn seit jener Nacht, in der Hillel mir die Zunge gelÃst, nicht mehr gekannt hatte.

    Trieb


          Wie im Fluge waren mir die Stunden der letzten Tage vergangen. Kaum, dañ ich mir Zeit zu den Mahlzeiten lieñ.
          Ein unwiderstehlicher Drang nach Äuñerer TÄtigkeit hatte mich von frØh bis abends an meinen Arbeitstisch gefesselt.
          Die Gemme war fertig geworden, und Mirjam hatte sich wie ein Kind darØber gefreut.
          Auch der Buchstabe "I" in dem Buche Ibbur war ausgebessert.
          Ich lehnte mich zurØck und lieñ ruhevoll all die kleinen Geschehnisse der heutigen Stunden an mir vorØberziehen:
          Wie das alte Weib, das mich bediente, am Morgen nach dem Ungewitter zu mir ins Zimmer gestØrzt kam mit der Meldung, die steinerne BrØcke sei in der Nacht eingestØrzt. -
          Seltsam: - EingestØrzt! Vielleicht gerade in der Stunde, wo ich die KÃrner - - - nein, nein, nicht daran denken; es kÃnnte einen Anstrich von NØchternheit bekommen, was damals geschehen war, und ich hatte mir vorgenommen, es in meiner Brust begraben sein zu lassen, bis es von selbst wieder erwachte, - nur nicht daran rØhren.
          Wie lange war's her, da ging ich noch Øber die BrØcke, sah die steinernen Statuen - und jetzt lag sie, die BrØcke, die Jahrhunderte gestanden, in TrØmmern.
          Es stimmte mich beinahe wehmØtig, dañ ich nie mehr meinen Fuñ auf sie setzen sollte. Wenn man sie auch wieder aufbaute, war es doch nicht mehr die alte, geheimnisvolle, steinerne BrØcke.
          Stundenlang hatte ich, wÄhrend ich an der Gemme schnitt, darØber nachdenken mØssen, und so selbstverstÄndlich, als hÄtte ich es nie vergessen gehabt, war es lebendig in mir geworden: wie oft ich als Kind und auch in spÄtern Jahren zu dem Bildnis der heiligen Luitgard und all den andern, die jetzt begraben lagen in den tosenden Wassern, aufgeblickt.
          Die vielen, kleinen lieben Dinge, die ich in meiner Jugend mein eigen genannt, hatte ich wieder gesehen im Geiste - und meinen Vater und meine Mutter und die Menge Schulkameraden. Nur an das Haus, wo ich gewohnt, konnte ich mich nicht mehr erinnern.
          Ich wuñte, es wØrde plÃtzlich, eines Tages, wenn ich es am wenigsten erwartete, wieder vor mir stehen; und ich freute mich darauf.
          Die Empfindung, dañ sich mit einemmal alles natØrlich und einfach in mir abwickelte, war so behaglich.
          Als ich vorgestern das Buch Ibbur aus der Kassette geholt hatte, - es war so gar nichts Erstaunliches daran gewesen, dañ es aussah, nun, wie eben ein altes, mit wertvollen Initialen geschmØcktes Pergamentbuch aussieht - schien es mir ganz selbstverstÄndlich.
          Ich konnte nicht begreifen, dañ es jemals gespenstisch auf mich gewirkt hatte!
          Es war in hebrÄischer Sprache geschrieben, vollkommen unverstÄndlich fØr mich.
          Wann wohl der Unbekannte es wieder holen kommen wurde?
          Die Freude am Leben, die wÄhrend der Arbeit heimlich in mich eingezogen war, erwachte von neuem in ihrer ganzen erquickenden Frische und verscheuchte die Nachtgedanken, die mich hinterrØcks wieder Øberfallen wollten.
          Rasch nahm ich Angelinas Bild - ich hatte die Widmung, die darunter stand, abgeschnitten - und kØñte es.
          Es war das alles so tÃricht und widersinnig, aber warum nicht einmal von - GlØck trÄumen, die glitzernde Gegenwart festhalten und sich daran freuen, wie Øber eine Seifenblase?
          Konnte denn nicht vielleicht doch in ErfØllung gehen, was mir da die Sehnsucht meines Herzens vorgaukelte? War es so ganz und gar unmÃglich, dañ ich Øber Nacht ein berØhmter Mann wurde? Ihr ebenbØrtig, wenn auch nicht an Herkunft? Zumindest Dr. Savioli ebenbØrtig? Ich dachte an die Gemme Mirjams: wenn mir noch andere so gelangen wie diese - kein Zweifei, selbst die ersten KØnstler aller Zeiten hatten nie etwas Besseres geschaffen.
          Und nur einen Zufall angenommen: der Gatte Angelinas stØrbe plÃtzlich?
          Mir wurde heiñ und kalt: ein winziger Zufall - und meine Hoffnung, die verwegenste Hoffnung, gewann Gestalt. An einem dØnnen Faden, der stØndlich reiñen konnte, hing das GlØck, das mir dann in den Schoñ fallen mØñte.
          War mir denn nicht schon tausendfach Wunderbareres geschehen? Dinge, von denen die Menschheit gar nicht ahnte, dañ sie Øberhaupt existierten?
          War es kein Wunder, dañ binnen weniger Wochen kØnstlerische FÄhigkeiten in mir erwacht waren, die mich jetzt schon weit Øber den Durchschnitt erhoben?
          Und ich stand doch erst am Anfang des Weges!
          Hatte ich denn kein Anrecht auf GlØck?
          Ist denn Mystik gleichbedeutend mit Wunschlosigkeit?
          Ich ØbertÃnte das: "Ja" in mir: - nur noch eine Stunde trÄumen - eine Minute - ein kurzes Menschendasein!
          Und ich trÄumte mit offenen Augen:
          Die Edelsteine auf dem Tisch wuchsen und wuchsen und umgaben mich von allen Seiten mit farbigen WasserfÄllen. BÄume aus Opal standen in Gruppen beisammen und strahlten die Lichtwellen des Himmels, der blau schillerte wie der FlØgel eines gigantischen Tropenschmetterlings, in FunkensprØhregen Øber unabsehbare Wiesen voll heiñem Sommerduft.
          Mich dØrstete, und ich kØhlte meine Glieder in dem eisigen Gischt der BÄche, die Øber FelsblÃcke rauschten aus schimmerndem Perlmutter.
          SchwØler Hauch strich Øber HÄnge, ØbersÄt mit BlØten und Blumen, und machte mich trunken mit den GerØchen von Jasmin, Hyazinthen, Narzissen, Seidelbast - - -
          UnertrÄglich! UnertrÄglich! Ich verlÃschte das Bild. - Mich dØrstete.
          Das waren die Qualen des Paradieses.
          Ich riñ die Fenster auf und lieñ den Tauwind an meine Stirne wehen.
          Es roch nach kommendem FrØhling - - -
          0x01 graphic

          Mirjam!
          Ich muñte an Mirjam denken.
          Wie sie sich vor Erregung an der Wand hatte halten mØssen, um nicht umzufallen, als sie mir erzÄhlen gekommen, ein Wunder sei geschehen, ein wirkliches Wunder: sie habe ein GoldstØck gefunden in dem Brotlaib, den der BÄcker vom Gang aus durchs Gitter ins KØchenfenster gelegt. - - -
          Ich griff nach meiner BÃrse. - Hoffentlich war es heute nicht schon zu spÄt, und ich kam noch zurecht, ihr wieder einen Dukaten zuzuzaubern!
          TÄglich hatte sie mich besucht, um mir Gesellschaft zu leisten, wie sie es nannte, dabei aber fast nicht gesprochen, so erfØllt war sie von dem "Wunder" gewesen. Bis in die tiefsten Tiefen hatte das Erlebnis sie aufgewØhlt und, wenn ich mir vorstellte, wie sie manchmal plÃtzlich ohne Äuñern Grund - nur unter dem Einfluñ ihrer Erinnerung - totenblañ geworden war bis in die Lippen, schwindelte mir bei dem bloñen Gedanken, ich kÃnnte in meiner Blindheit Dinge angerichtet haben, deren Tragweite bis ins Grenzenlose ging.
          Und wenn ich mir die letzten, dunklen Worte Hillels ins GedÄchtnis rief und in Zusammenhang damit brachte, Øberlief es mich eiskalt.
          Die Reinheit des Motivs war keine Entschuldigung fØr mich, - der Zweck heiligt die Mittel nicht, das sah ich ein.
          Und was, wenn Øberdies das Motiv: "helfen zu wollen" nur scheinbar "rein" war? Hielt sich nicht vielleicht doch eine heimliche LØge dahinter verborgen?: der selbstgefÄllige, unbewuñte Wunsch, in der Rolle des Helfers zu schwelgen?
          Ich fing an, irre an mir selbst zu werden.
          Dañ ich Mirjam viel zu oberflÄchlich beurteilt hatte, war klar.
          Schon als die Tochter Hillels muñte sie anders sein als andere MÄdchen.
          Wie hatte ich nur so vermessen sein kÃnnen, auf solch tÃrichte Weise in ein Innenleben einzugreifen, das vielleicht himmelhoch Øber meinem eigenen stand!
          Schon ihr Gesichtsschnitt, der hundertmal eher in die Zeit der sechsten Ägyptischen Dynastie pañte und selbst fØr diese noch viel zu vergeistigt war, als in die unsrige mit ihren Verstandesmenschentypen, hÄtte mich warnen mØssen.
          "Nur der ganz Dumme miñtraut dem Äuñern Schein", hatte ich irgendwo einmal gelesen. - Wie richtig! Wie richtig!
          Mirjam und ich waren jetzt gute Freunde; sollte ich ihr eingestehen, dañ ich es gewesen war, der die Dukaten Tag fØr Tag ins Brot geschmuggelt hatte?
          Der Schlag kÄme zu plÃtzlich. WØrde sie betÄuben.
          Ich durfte das nicht wagen, muñte behutsamer vorgehen.
          Das "Wunder" irgendwie abschwÄchen? Statt das Geld ins Brot zu stecken, es auf die Treppenstufe zu legen, dañ sie es finden muñte, wenn sie die TØr aufmachte, und so weiter, und so weiter? Etwas Neues, weniger Schroffes wØrde sich schon ausdenken lassen, irgendein Weg, der sie aus dem Wunderbaren allmÄhlich wieder ins AlltÄgliche herØberlenkte, trÃstete ich mich.
          Ja! Das war das Richtige.
          Oder den Knoten zerhauen? Ihren Vater einweihen und zu Rate ziehen? Die SchamrÃte stieg mir ins Gesicht. Zu diesem Schritt blieb Zeit genug, wenn alle andern Mittel versagten.
          Nur gleich ans Werk gehen, keine Zeit versÄumen!
          Ein guter Einfall kam mir: Ich muñte Mirjam zu etwas ganz Absonderlichem bewegen, sie fØr ein paar Stunden aus der gewohnten Umgebung reiñen, dañ sie andere EindrØcke bekam.
          Wir wØrden einen Wagen nehmen und eine Spazierfahrt machen. Wer kannte uns denn, wenn wir das Judenviertel mieden?
          Vielleicht interessierte es sie, die eingestØrzte BrØcke zu besichtigen?
          Oder der alte Zwakh oder eine ihrer frØheren Freundinnen sollte mit ihr fahren, wenn sie es ungeheuerlich finden wØrde, dañ ich mit dabei sei.
          Ich war fest entschlossen, keinen Widerspruch gelten zu lassen. - - -
          0x01 graphic

          An der TØrschwelle rannte ich einen Mann beinahe Øber den Haufen.
          Wassertrum!
          Er muñte durchs SchlØsselloch hereingespÄht haben, denn er stand gebØckt, als ich mit ihm zusammengestoñen war.
          "Suchen Sie mich?", fragte ich barsch.
          Er stammelte ein paar Worte der Entschuldigung in seinem unmÃglichen Jargon; dann bejahte er.
          Ich forderte ihn auf, nÄher zu treten und sich zu setzen, aber er blieb am Tisch stehen und drehte krampfhaft mit der Hutkrempe. Eine tiefe Feindseligkeit, die er vergebens vor mir verbergen wollte, spiegelte aus seinem Gesicht und jeder seiner Bewegungen.
          Noch nie hatte ich den Mann in so unmittelbarer NÄhe gesehen. Seine grauenhafte HÄñlichkeit war es nicht, die einen so abstieñ; (sie machte mich eher mitleidig gestimmt: er sah aus wie ein GeschÃpf, dem die Natur selbst bei seiner Geburt voll Wut und Abscheu mit dem Fuñ ins Gesicht getreten hatte) - etwas anderes, UnwÄgbares, das von ihm ausging, trug die Schuld daran.
          Das "Blut", wie Charousek es treffend bezeichnet hatte.
          UnwillkØrlich wischte ich mir die Hand ab, die ich ihm bei seinem Eintritt gereicht hatte.
          So wenig auffÄllig ich es machte, er schien es doch bemerkt zu haben, denn er muñte sich plÃtzlich mit Gewalt zwingen, das Aufflammen des Hasses in seinen ZØgen zu unterdrØcken.
          "HØbsch ham Se's hier", fing er endlich stockend an, als er sah, dañ ich ihm nicht den Gefallen tat, das GesprÄch zu beginnen.
          Im Widerspruch zu seinen Worten schloñ er dabei die Augen, vielleicht, um meinem Blick nicht zu begegnen. Oder glaubte er, dañ es seinem Gesicht einen harmloseren Ausdruck verleihen wØrde?
          Man konnte ihm deutlich anhÃren, welche MØhe er sich gab, hochdeutsch zu reden.
          Ich fØhlte mich nicht zu einer Entgegnung verpflichtet und wartete, was er weiter sagen wØrde.
          In seiner Verlegenheit griff er nach der Feile, die - weiñ Gott wieso - noch seit Charouseks Besuch auf dem Tisch lag, fuhr aber unwillkØrlich sofort wie von einer Schlange gebissen zurØck. Ich staunte innerlich Øber seine unterbewuñte seelische FeinfØhligkeit.
          "Freilich, natØrlich, es gehÃrt zum GeschÄft, dañ man's fein hat," raffte er sich auf, zu sagen, "wenn man - so noble Besuche bekommt." Er wollte die Augen aufschlagen, um zu sehen, welchen Eindruck die Worte auf mich machten, hielt es aber offenbar noch fØr verfrØht und schloñ sie schnell wieder.
          Ich wollte ihn in die Enge treiben: "Sie meinen die Dame, die neulich hier vorfuhr? Sagen Sie doch offen, wo Sie hinauswollen!"
          Er zÃgerte einen Moment, dann packte er mich heftig am Handgelenk und zerrte mich ans Fenster.
          Die sonderbare, unmotivierte Art, mit der er es tat, erinnerte mich daran, wie er vor einigen Tagen den taubstummen Jaromir unten in seine HÃhle gerissen hatte.
          Mit krummen Fingern hielt er mir einen blitzenden Gegenstand hin:
          "Was glauben Sie, Herr Pernath, lañt sich da noch was machen?"
          Es war eine goldene Uhr mit so stark verbeulten Deckeln, dañ es fast aussah, als hÄtte sie jemand mit Absicht verbogen.
          Ich nahm ein VergrÃñerungsglas: die Scharniere waren zur HÄlfte abgerissen und innen - stand da nicht etwas eingraviert? Kaum mehr leserlich und noch Øberdies mit einer Menge ganz frischer Schrammen zerkratzt. Langsam entzifferte ich:
          K-rl Zott-mann.
          Zottmann? Zottmann? - Wo hatte ich diesen Namen doch gelesen? Zottmann? Ich konnte mich nicht entsinnen. Zottmann?
          Wassertrum schlug mir die Lupe beinahe aus der Hand:
          "Im Werk is nix, da hab' ich schon selber geschaut. Aber mit'm GehÄuse, da stinkt's."
          "Braucht man nur gerade zu klopfen - hÃchstens ein paar LÃtstellen. Das kann Ihnen ebensogut jeder beliebige Goldarbeiter machen, Herr Wassertrum."
          "Ich leg' doch Wert darauf, dañ es eine solide Arbeit wird. Was man so sagt: kØnstlerisch", unterbrach er mich hastig. Fast Ängstlich.
          "Nun gut, wenn Ihnen derart viel daran liegt -"
          "Viel daran liegt!" Seine Stimme schnappte Øber vor Eifer. "Ich will sie doch selber tragen, die Uhr. Und wenn ich sie jemandem zeig', will ich sagen kÃnnen: schauen Sie mal her, so arbeitet der Herr von Pernath."
          Ich ekelte mich vor dem Kerl; er spuckte mir seine widerwÄrtigen Schmeicheleien fÃrmlich ins Gesicht.
          "Wenn Sie in einer Stunde wiederkommen, wird alles fertig sein."
          Wassertrum wand sich in KrÄmpfen: "Das gibt's nicht. Das will ich nicht. Drei Tag. Vier Tag. Die nÄchste Woche is Zeit genug. Das ganze Leben mÃcht' ich mir VorwØrfe machen, dañ ich Ihnen gedrÄngt hab'."
          Was wollte er nur, dañ er so auñer sich geriet? - Ich machte einen Schritt ins Nebenzimmer und sperrte die Uhr in die Kassette. Angelinas Photographie lag obenauf. Schnell schlug ich den Deckel wieder zu - fØr den Fall, dañ Wassertrum mir nachblicken sollte.
          Als ich zurØckkam, fiel mir auf, dañ er sich verfÄrbt hatte.
          Ich musterte ihn scharf, lieñ aber meinen Verdacht sofort fallen: UnmÃglich! Er konnte nichts gesehen haben.
          "Also, dann vielleicht nÄchste Woche", sagte ich, um seinem Besuch ein Ende zu machen.
          Er schien mit einemmal keine Eile mehr zu haben, nahm einen Sessel und setzte sich.
          Im Gegensatz zu frØher hielt er seine Fischaugen jetzt beim Reden weit offen und fixierte beharrlich meinen obersten Westenknopf.
          Pause.
          "Die Duksel hat Ihnen natØrlich gesagt, Sie sollen sich nix wissen machen, wenn's heraus kommt. Waas?" sprudelte er plÃtzlich ohne jede Einleitung auf mich los und schlug mit der Faust auf den Tisch.
          Es lag etwas merkwØrdig Schreckhaftes in der Abgerissenheit, mit der er von einer Sprechweise in die andere Øbergehen - von SchmeicheltÃnen blitzartig ins Brutale springen konnte, und ich hielt es fØr sehr wahrscheinlich, dañ die meisten Menschen, besonders Frauen, sich im Handumdrehen in seiner Gewalt befinden muñten, wenn er nur die geringste Waffe gegen sie besañ.
          Ich wollte auffahren, ihn am Hals packen und vor die TØr setzen, war mein erster Gedanke; dann Øberlegte ich, ob es nicht klØger sei, ihn zuvÃrderst einmal grØndlich auszuhorchen.
          "Ich verstehe wahrhaftig nicht, was Sie meinen, Herr Wassertrum;" - ich bemØhte mich, ein mÃglichst dummes Gesicht zu machen - "Duksel? Was ist das: Duksel?"
          "Soll ich Ihnen vielleicht Deitsch lernen?", fuhr er mich grob an. "Die Hand werden Sie aufheben mØssen bei Gericht, wenn's um die Wurscht geht. Verstehen Sie mich?! Das sag ich Ihnen!" - Er fing an zu schreien: "Mir ins Gesicht hinein werden Sie nicht abschwÃren, dañ 'sie' von da drØben" - er deutete mit dem Daumen nach dem Atelier - "zu Ihnen heribber geloffen is mit en Teppich an und - sonst nix!"
          Die Wut stieg mir in die Augen; ich packte den Halunken an der Brust und schØttelte ihn:
          "Wenn Sie jetzt noch ein Wort in diesem Ton sagen, breche ich Ihnen die Knochen im Leibe entzwei! Verstanden?"
          Aschfahl sank er in den Stuhl zurØck und stotterte:
          "Was is? Was is? Was wollen Sie? Ich mein' doch bloñ."
          Ich ging ein paarmal im Zimmer auf und ab, um mich zu beruhigen. Horchte nicht hin, was er alles zu seiner Entschuldigung herausgeiferte.
          Dann setzte ich mich ihm dicht gegenØber, in der festen Absicht, die Sache, soweit sie Angelina betraf, ein fØr allemal mit ihm ins reine zu bringen und, sollte es im Frieden nicht gehen, ihn zu zwingen, endlich die Feindseligkeiten zu erÃffnen und seine paar schwachen Pfeile vorzeitig zu verschieñen.
          Ohne seine Unterbrechungen im geringsten zu beachten, sagte ich ihm auf den Kopf zu, dañ Erpressungen irgendwelcher Art - ich betonte das Wort - miñglØcken mØñten, da er auch nicht eine einzige Anschuldigung mit Beweisen erhÄrten kÃnnte und ich mich einer Zeugenschaft (angenommen, es wÄre Øberhaupt im Bereiche der MÃglichkeit, dañ es je zu einer solchen kÄme) - bestimmt zu entziehen wissen wØrde. Angelina stØnde mir viel zu nahe, als dañ ich sie nicht in der Stunde der Not retten wØrde, koste es, was es wolle, sogar einen Meineid!
          Jede Muskel in seinem Gesicht zuckte, seine Hasenscharte zog sich bis zur Nase auseinander, er fletschte die ZÄhne und kollerte wie ein Truthahn mir immer wieder in die Rede hinein: "Will ich denn was von die Duksel? So hÃren Sie doch zu!" - Er war auñer sich vor Ungeduld, dañ ich mich nicht beirren lieñ. - "Um den Savioli is mir's zu tun, um den gottverfluchten Hund, - den - den -", fuhr es ihm plÃtzlich brØllend heraus.
          Er japste nach Luft. Rasch hielt ich inne: endlich war er dort, wo ich ihn haben wollte, aber schon hatte er sich gefañt und fixierte wieder meine Weste.
          "HÃren Sie zu, Pernath;" er zwang sich, die kØhle, abwÄgende Sprechweise eines Kaufmanns nachzuahmen, "Sie reden fort von der Duk - - von der Dame. Gut! sie ist verheiratet. Gut: sie hat sich eingelassen mit dem - mit dem jungen Lauser. Was hab' ich damit zu tun?" Er bewegte die HÄnde vor meinem Gesicht hin und her, die Fingerspitzen zusammengedrØckt, als hielte er eine Prise Salz darin - "soll sie sich das selber abmachen, die Duksel. - Ich bin e Weltmann und Sie sin auch e Weltmann. Wir kennen doch das beide. Waas? Ich will doch nur zu meinem Geld kommen. Verstehen Sie, Pernath?!"
          Ich horchte erstaunt auf:
          "Zu welchem Geld? Ist Ihnen denn Dr. Savioli etwas schuldig?"
          Wassertrum wich aus:
          "Abrechnungen hab' ich mit ihm. Das kommt doch auf eins heraus."
          "Sie wollen ihn ermorden!" schrie ich.
          Er sprang auf. Taumelte. Gluckste ein paarmal.
          "Jawohl! Ermorden! Wie lange wollen Sie mir noch KomÃdie vorspielen!" Ich deutete auf die TØr. "Schauen Sie, dañ Sie hinauskommen."
          Langsam griff er nach seinem Hut, setzte ihn auf und wandte sich zum Gehen. Dann blieb er noch einmal stehen und sagte mit einer Ruhe, deren ich ihn nie fØr fÄhig gehalten hÄtte:
          "Auch recht. Ich hab' Sie herauslassen wollen. Gut. Wenn nicht: Nicht. Barmherzige Barbiere machen faule Wunden. Mein ZarbØchel ist voll. Wenn Sie gescheit gewesen wÄren -: der Savioli is Ihnen doch nur im Weg?! Jetzt - mach - ich - mit - Ihnen allen dreien" - er deutete mit einer Geste des Erdrosselns an, womit er es meinte - "Preñcolleeh".
          Seine Mienen drØckten eine so satanische Grausamkeit aus und er schien seiner Sache so sicher zu sein, dañ mir das Blut in den Adern erstarrte. Er muñte eine Waffe in HÄnden haben, von der ich nichts ahnte, die auch Charousek nicht kannte. Ich fØhlte den Boden unter mir wanken.
          "Die Feile! Die Feile!" hÃrte ich es in meinem Hirn flØstern. Ich schÄtzte die Entfernung ab: ein Schritt bis zum Tisch - zwei Schritte bis zu Wassertrum - - ich wollte zuspringen - - - da stand wie aus dem Boden gewachsen Hillel auf der Schwelle.
          Das Zimmer verschwamm vor meinen Augen.
          Ich sah nur - wie durch Nebel -, dañ Hillel unbeweglich stehen blieb und Wassertrum Schritt fØr Schritt bis an die Wand zurØckwich.
          Dann hÃrte ich Hillel sagen:
          "Sie kennen doch, Aaron, den Satz: Alle Juden sind BØrgen fØreinander? Machen Sie's einem nicht zu schwer." - Er fØgte ein paar hebrÄische Worte hinzu, die ich nicht verstand.
          "Was haben Sie das netig, an der TØre zu schnØffeln?" geiferte der TrÃdler mit bebenden Lippen.
          "Ob ich gehorcht habe oder nicht, braucht Sie nicht zu kØmmern!" - wieder schloñ Hillel mit einem hebrÄischen Satz, der diesmal wie eine Drohung klang. Ich erwartete, dañ es zu einem Zank kommen wØrde, aber Wassertrum antwortete nicht eine Silbe, Øberlegte einen Augenblick und ging dann trotzig hinaus.
          Gespannt blickte ich Hillel an. Er winkte mir zu, ich solle schweigen. Offenbar wartete er auf irgend etwas, denn er horchte angestrengt auf den Gang hinaus. Ich wollte die TØre schlieñen gehen: er hielt mich mit einer ungeduldigen Handbewegung zurØck.
          Wohl eine Minute verging, dann kamen die schleppenden Schritte des TrÃdlers wieder die Stufen herauf. Ohne ein Wort zu sprechen ging Hillel hinaus und machte ihm Platz.
          Wassertrum wartete, bis er auñer HÃrweite war, dann knurrte er mich verbissen an:
          "Geben Se mer meine Uhr zorØck."

    Weib


          Wo nur Charousek blieb?
          Beinahe 24 Stunden waren vergangen, und noch immer lieñ er sich nicht blicken.
          Sollte er das Zeichen vergessen haben, das wir verabredet hatten? Oder sah er es vielleicht nicht?
          Ich ging ans Fenster und richtete den Spiegel so, dañ der Sonnenstrahl, der darauf schien, genau auf das vergitterte Guckloch seiner Kellerwohnung fiel.
          Das Eingreifen Hillels - gestern - hatte mich ziemlich beruhigt. Bestimmt wØrde er mich gewarnt haben, wenn eine Gefahr im Anzug wÄre.
          øberdies: Wassertrum konnte nichts von Belang mehr unternommen haben; gleich, nachdem er mich verlassen hatte, war er in seinen Laden zurØckgekehrt, - ich warf einen Blick hinunter: richtig, da lehnte er unbeweglich hinter seinen Herdplatten, genau so, wie ich ihn schon frØhmorgens gesehen - - -
          UnertrÄglich, das ewige Warten!
          Die milde FrØhlingsluft, die durch das offene Fenster aus dem Nebenzimmer hereinstrÃmte, machte mich krank vor Sehnsucht.
          Dies schmelzende Tropfen von den DÄchern! Und wie die feinen WasserschnØre im Sonnenlicht glÄnzten!
          Es zog mich hinaus an unsichtbaren FÄden. Voll Ungeduld ging ich in der Stube auf und ab. Warf mich in einen Sessel. Stand wieder auf.
          Dieses sØchtige Keimen einer Ungewissen Verliebtheit in meiner Brust, es wollte nicht weichen.
          Die ganze Nacht Øber hatte es mich gequÄlt. Einmal war es Angelina gewesen, die sich an mich geschmiegt, dann wieder sprach ich scheinbar ganz harmlos mit Mirjam, und kaum hatte ich das Bild zerrissen, kam abermals Angelina und kØñte mich; ich roch den Duft ihres Haares, und ihr weicher Zobelpelz kitzelte mich am Hals, rutschte von ihren entblÃñten Schultern - und sie wurde zu Rosina, die mit trunkenen, halbgeschlossenen Augen tanzte - im Frack - nackt; - - - und alles in einem Halbschlaf, der doch genau so gewesen war wie Wachsein. Wie ein sØñes, verzehrendes, dÄmmeriges Wachsein.
          Gegen Morgen stand dann mein DoppelgÄnger an meinem Bett, der schattenhafte Habal Garmin, "der Hauch der Knochen", von dem Hillel gesprochen, - und ich sah ihm an den Augen an: er war in meiner Macht, muñte mir jede Frage beantworten, die ich ihm stellen wØrde nach irdischen oder jenseitigen Dingen, und er wartete nur darauf, aber der Durst nach dem Geheimnisvollen konnte nicht an gegen die SchwØle meines Blutes und versickerte im dØrren Erdreich meines Verstandes. - Ich schickte das Phantom weg, es solle zum Spiegelbild Angelinas werden, und es schrumpfte zusammen zu dem Buchstaben "Aleph", wuchs wieder empor, stand da als das Koloñweib, splitternackt, wie ich es einstens im Buche Ibbur gesehen, mit dem Pulse gleich einem Erdbeben, und beugte sich Øber mich, und ich atmete den betÄubenden Geruch ihres heiñen Fleisches ein.
          0x01 graphic

          Kam denn Charousek immer noch nicht? - Die Glocken sangen von den KirchtØrmen.
          Eine Viertelstunde wollte ich noch warten - dann aber hinaus! Durch belebte Strañen voll festtÄgig gekleideter Menschen schlendern, mich in das frohe Gewimmel mischen in den Stadtteilen der Reichen, schÃne Frauen sehen mit koketten Gesichtern und schmalen HÄnden und FØñen.
          Vielleicht begegnete ich dabei Charousek zufÄllig, entschuldigte ich mich vor mir selbst.
          Ich holte das altertØmliche Tarockspiel vom BØcherbord, um mir die Zeit rascher zu vertreiben. -
          Vielleicht lieñ sich aus den Bildern Anregung schÃpfen zum Entwurf einer Kamee?
          Ich suchte nach dem Pagad.
          Nicht zu finden. Wo konnte er hingeraten sein?
          Ich blÄtterte noch einmal die Karten durch und verlor mich in Nachdenken Øber ihren verborgenen Sinn. Besonders der "Gehenkte", - was konnte er nur bedeuten?:
          Ein Mann hÄngt an einem Seil zwischen Himmel und Erde, den Kopf nach abwÄrts, die Arme auf den RØcken gebunden, den rechten Unterschenkel Øber das linke Bein verschrÄnkt, dañ es aussieht wie ein Kreuz Øber einem verkehrten Dreieck?
          UnverstÄndliches Gleichnis.
          Da! - Endlich! Charousek kam.
          Oder doch nicht?
          Freudige øberraschung, es war Mirjam.
          0x01 graphic

          "Wissen Sie, Mirjam, dañ ich soeben zu Ihnen hinuntergehen wollte und Sie bitten, eine Spazierfahrt mit mir zu machen?" Es war nicht ganz die Wahrheit, aber ich machte mir weiter keine Gedanken darØber. - "Nicht wahr, Sie schlagen es mir nicht ab?! Ich bin heute so unendlich froh im Herzen, dañ Sie, gerade Sie, Mirjam, meiner Freude die Krone aufsetzen mØssen."
          "- spazierenfahren?", wiederholte sie derart verblØfft, dañ ich laut auflachen muñte.
          "Ist denn der Vorschlag gar so wunderbar?"
          "Nein, nein, aber - -," sie suchte nach Worten, "unerhÃrt merkwØrdig. Spazierenfahren!"
          "Durchaus nicht merkwØrdig, wenn Sie sich vorhalten, dañ es Hunderttausende von Menschen tun - eigentlich ihr ganzes Leben nichts anderes tun."
          "Ja, andere Menschen!" gab sie, immer noch vollstÄndig Øberrumpelt, zu.
          Ich fañte ihre beiden HÄnde:
          "Was andere Menschen an Freude erleben dØrfen, mÃchte ich, dañ Sie, Mirjam, in noch unendlich viel reicherem Mañe genieñen."
          Sie wurde plÃtzlich leichenblañ, und ich sah an der starren Taubheit ihres Blickes, woran sie dachte. Es gab mir einen Stich.
          "Sie dØrfen es nicht immer mit sich herumtragen, Mirjam," redete ich ihr zu, "das - das Wunder. Wollen Sie mir das nicht versprechen - aus - aus Freundschaft?"
          Sie hÃrte die Angst aus meinen Worten und blickte mich erstaunt an.
          "Wenn es Sie nicht so angriffe, kÃnnte ich mich mit Ihnen freuen, aber so? Wissen Sie, dañ ich tief besorgt bin um Sie, Mirjam? - Um - um - wie soll ich nur sagen? - um Ihre seelische Gesundheit! Fassen Sie es nicht wÃrtlich auf, aber -: ich wollte, das Wunder wÄre nie geschehen."
          Ich erwartete, sie wØrde mir widersprechen, aber sie nickte nur in Gedanken versunken.
          "Es verzehrt Sie. Habe ich nicht recht, Mirjam?" Sie raffte sich auf:
          "Manchmal mÃchte ich beinahe auch, es wÄre nicht geschehen."
          Es klang wie ein Hoffnungsstrahl fØr mich. - "Wenn ich mir denken soll," sie sprach ganz langsam und traumverloren, "dañ Zeiten kommen kÃnnten, wo ich ohne solche Wunder leben mØñte - - -."
          "Sie kÃnnen doch Øber Nacht reich werden und brauchen dann nicht mehr -," fuhr ich ihr unbedacht in die Rede, hielt aber rasch inne, als ich das Entsetzen in ihrem Gesicht bemerkte, - "ich meine: Sie kÃnnen plÃtzlich auf natØrliche Weise Ihrer Sorgen enthoben werden, und die Wunder, die Sie dann erleben, wØrden geistiger Art sein: - innere Erlebnisse."
          Sie schØttelte den Kopf und sagte hart: "Innere Erlebnisse sind keine Wunder. Erstaunlich genug, dañ es Menschen zu geben scheint, die Øberhaupt keine haben. - Seit meiner Kindheit, Tag fØr Tag, Nacht fØr Nacht, erlebe ich -" (sie brach mit einem Ruck ab, und ich erriet, dañ noch etwas anderes in ihr war, von dem sie mir nie gesprochen hatte, vielleicht das Weben unsichtbarer Geschehnisse, Ähnlich den meinigen) - "aber das gehÃrt nicht hierher. Selbst, wenn einer aufstØnde und machte Kranke gesund durch Handauflegen, ich kÃnnte es kein Wunder nennen. Erst, wenn der leblose Stoff - die Erde - beseelt wird vom Geist und die Gesetze der Natur zerbrechen, dann ist das geschehen, wonach ich mich sehne, seit ich denken kann. - Mir hat einmal mein Vater gesagt: es gÄbe zwei Seiten der Kabbala: eine magische und eine abstrakte, die sich niemals zur Deckung bringen lieñen. Wohl kÃnne die magische die abstrakte an sich ziehen, aber nie und nimmer umgekehrt. Die magische ist ein Geschenk, die andere kann errungen werden, wenn auch nur mit Hilfe eines FØhrers." Sie nahm den ersten Faden wieder auf: "Das Geschenk ist es, nach dem ich dØrste; was ich mir erringen kann, ist mir gleichgØltig und wertlos wie Staub. Wenn ich mir denken soll, es kÃnnten Zeiten kommen, sagte ich vorhin, wo ich wieder ohne diese Wunder leben mØñte," - ich sah, wie sich ihre Finger krampften und Reue und Jammer zerfleischten mich, - "ich glaube, ich sterbe jetzt schon angesichts der bloñen MÃglichkeit."
          "Ist das der Grund, weshalb auch Sie wØnschten, das Wunder wÄre nie geschehen?", forschte ich.
          "Nur zum Teil. Es ist noch etwas anderes da. Ich - ich - ", sie dachte einen Augenblick nach, "war noch nicht reif dazu, ein Wunder in dieser Form zu erleben. Das ist es. Wie soll ich es Ihnen erklÄren? Nehmen Sie einmal an, bloñ als Beispiel, ich hÄtte seit Jahren jede Nacht ein und denselben Traum, der sich immer weiter fortspinnt und in dem mich jemand - sagen wir: ein Bewohner einer andern Welt - belehrt und mir nicht nur an einem Spiegelbilde von mir selbst und seinen allmÄhlichen VerÄnderungen zeigt, wie weit ich von der magischen Reife, ein 'Wunder' erleben zu kÃnnen, entfernt bin, sondern: mir auch in Verstandesfragen, wie sie mich einmal tagsØber beschÄftigen, derart Aufschluñ gibt, dañ ich es jederzeit nachprØfen kann. Sie werden mich verstehen: Ein solches Wesen ersetzt einem an GlØck alles, was sich auf Erden ausdenken lÄñt; es ist fØr mich die BrØcke, die mich mit dem 'DrØben' verbindet, ist die Jakobsleiter, auf der ich mich Øber die Dunkelheit des Alltags erheben kann ins Licht, - ist mir FØhrer und Freund, und alle meine Zuversicht, dañ ich mich auf den dunkeln Wegen, die meine Seele geht, nicht verirren kann in Wahnsinn und Finsternis, setze ich auf 'ihn', der mich noch nie belogen hat. - Da mit einem Mal, entgegen allem, was er mir gesagt hat, kreuzt ein 'Wunder' mein Leben! Wem soll ich jetzt glauben? War das, was mich die vielen Jahre Øber ununterbrochen erfØllt hat, eine TÄuschung? Wenn ich daran zweifeln mØñte, ich stØrzte kopfØber in einen bodenlosen Abgrund. - Und doch ist das Wunder geschehen! Ich wØrde aufjauchzen vor Freude, wenn -"
          "Wenn - - -?" unterbrach ich sie atemlos. Vielleicht sprach sie selbst das erlÃsende Wort, und ich konnte ihr alles eingestehen.
          "- wenn ich erfØhre, dañ ich mich geirrt habe, - dañ es gar kein Wunder war! Aber ich weiñ so genau, wie ich weiñ, dañ ich hier sitze, ich ginge zugrunde daran"; (mir blieb das Herz stehen) - "zurØckgerissen werden, vom Himmel wieder herab mØssen auf die Erde? Glauben Sie, dañ das ein Mensch ertragen kann?"
          "Bitten Sie doch Ihren Vater um Hilfe", sagte ich ratlos vor Angst.
          "Meinen Vater? Um Hilfe?" - sie blickte mich verstÄndnislos an - "wo es nur zwei Wege fØr mich gibt, kann er da einen dritten finden? - - Wissen Sie, was die einzige Rettung fØr mich wÄre? Wenn mir das geschÄhe, was Ihnen geschehen ist. Wenn ich in dieser Minute alles, was hinter mir liegt: mein ganzes Leben bis zum heutigen Tag - vergessen kÃnnte. - Ist es nicht merkwØrdig: was Sie als UnglØck empfinden, wÄre fØr mich das hÃchste GlØck!"
          Wir schwiegen beide noch eine lange Zeit. Dann ergriff sie plÃtzlich meine Hand und lÄchelte. Beinahe frÃhlich.
          "Ich will nicht, dañ Sie sich meinetwegen grÄmen;" - (sie trÃstete mich - mich!) - "vorhin waren Sie so voll Freude und GlØck Øber den FrØhling drauñen, und jetzt sind Sie die BetrØbnis selbst. Ich hÄtte Ihnen Øberhaupt nichts sagen sollen. Reiñen Sie es aus Ihrem GedÄchtnis und denken Sie wieder so heiter wie vorhin! - Ich bin ja so froh -"
          "Sie? Froh? Mirjam?", unterbrach ich sie bitter.
          Sie machte ein Øberzeugtes Gesicht: "Ja! Wirklich! Froh! Als ich zu Ihnen heraufging, war ich so unbeschreiblich Ängstlich, - ich weiñ nicht warum: ich konnte das GefØhl nicht loswerden, dañ Sie in einer groñen Gefahr schweben", - ich horchte auf - "aber, statt mich darØber zu freuen, Sie gesund und wohlauf zu treffen, habe ich Sie angeunkt und - -"
          Ich zwang mich zur Lustigkeit: "und das kÃnnen Sie nur gutmachen, wenn Sie mit mir ausfahren." (Ich bemØhte mich, so viel øbermut wie mÃglich in meine Stimme zu legen:) "Ich mÃchte doch einmal sehen, Mirjam, ob es mir nicht gelingt, Ihnen die trØben Gedanken zu verscheuchen. Sagen Sie, was Sie wollen: Sie sind noch lange kein Ägyptischer Zauberer, sondern vorlÄufig nur ein junges MÄdchen, dem der Tauwind noch manchen bÃsen Streich spielen kann."
          Sie wurde plÃtzlich ganz lustig:
          "Ja, was ist denn das heute mit Ihnen, Herr Pernath? So hab' ich Sie noch nie gesehen! - øbrigens 'Tauwind': bei uns JudenmÄdchen lenken bekanntlich die Eltern den Tauwind, und wir haben nur zu gehorchen. Tuen es natØrlich auch. Es steckt uns schon so im Blut. - Mir ja nicht", setzte sie ernsthafter hinzu, "meine Mutter hat bÃs gestreikt, als sie den grÄñlichen Aaron Wassertrum heiraten sollte."
          "Was? Ihre Mutter? Den TrÃdler da unten?"
          Mirjam nickte. "Gott sei Dank ist es nicht zustande gekommen. - FØr den armen Menschen freilich war es ein vernichtender Schlag."
          "Armer Mensch, sagen Sie?" fuhr ich auf. "Der Kerl ist ein Verbrecher."
          Sie wiegte nachdenklich den Kopf: "Gewiñ, er ist ein Verbrecher. Aber wer in einer solchen Haut steckt und kein Verbrecher wird, muñ ein Prophet sein."
          Ich rØckte neugierig nÄher;
          "Wissen Sie Genaueres Øber ihn? Mich interessiert das. Aus ganz besonderen - -"
          "Wenn Sie einmal seinen Laden von innen gesehen hÄtten, Herr Pernath, wØñten Sie sofort, wie es in seiner Seele ausschaut. Ich sage das, weil ich als Kind sehr oft drin war. - Warum sehen Sie mich so erstaunt an? Ist denn das so merkwØrdig? - Gegen mich war er immer freundlich und gØtig. Einmal sogar, erinnere ich mich, schenkte er mir einen groñen blitzenden Stein, der mir besonders unter seinen Sachen gefallen hatte. Meine Mutter sagte, es sei ein Brillant, und ich muñte ihn natØrlich sofort zurØcktragen.
          Erst wollte er ihn lange nicht wiedernehmen, aber dann riñ er ihn mir aus der Hand und warf ihn voll Wut weit von sich. Ich habe aber dennoch gesehen, wie ihm dabei die TrÄnen aus den Augen stØrzten; ich konnte auch damals schon genug HebrÄisch, um zu verstehen, was er murmelte: 'Alles ist verflucht, was meine Hand berØhrt.' - - Es war das letzte Mal, dañ ich ihn besuchen durfte. Nie wieder hat er mich seitdem aufgefordert, zu ihm zu kommen. Ich weiñ auch warum: HÄtte ich ihn nicht zu trÃsten versucht, wÄre alles beim alten geblieben, so aber, weil er mir unendlich leid tat und ich es ihm sagte, wollte er mich nicht mehr sehen. - - - Sie verstehen das nicht, Herr Pernath? Es ist doch so einfach: er ist ein Besessener, - ein Mensch, der sofort miñtrauisch, unheilbar miñtrauisch wird, wenn jemand an sein Herz rØhrt. Er hÄlt sich fØr noch viel hÄñlicher, als er in Wirklichkeit ist, - wenn das Øberhaupt mÃglich sein kann, und darin wurzelt sein ganzes Denken und Handeln. Man sagt, seine Frau hÄtte ihn gern gehabt, vielleicht war es mehr Mitleid als Liebe, aber immerhin glaubten es sehr viele Leute. Der einzige, der vom Gegenteil tief durchdrungen war, war er. øberall wittert er Verrat und Hañ.
          Nur bei seinem Sohn machte er eine Ausnahme. Ob es daher kam, dañ er ihn vom SÄuglingsalter an hatte heranwachsen sehen, also das Keimen jeder Eigenschaft von Urbeginn in dem Kinde sozusagen miterlebte und daher nie zu einem Punkte gelangte, wo sein Miñtrauen hÄtte einsetzen kÃnnen, oder ob es im jØdischen Blute lag: alles, was an LiebesfÄhigkeit in ihm lebte, auf seinen Nachkommen auszugieñen - in jener instinktiven Furcht unserer Rasse: wir kÃnnten aussterben und eine Mission nicht erfØllen, die wir vergessen haben, die aber dunkel in uns fortlebt, - wer kann das wissen!
          Mit einer Umsicht, die beinahe an Weisheit grenzte, und bei einem unbelesenen Menschen, wie er, wunderbar ist, leitete er die Erziehung seines Sohnes. Mit dem Scharfsinn eines Psychologen rÄumte er dem Kinde jedes Erlebnis aus dem Wege, das zur Entwicklung der GewissenstÄtigkeit hÄtte beitragen kÃnnen, um ihm kØnftige seelische Leiden zu ersparen.
          Er hielt ihm als Lehrer einen hervorragenden Gelehrten, der die Ansicht verfocht, die Tiere seien empfindungslos und ihre SchmerzÄuñerung ein mechanischer Reflex.
          Aus jedem GeschÃpf so viel Freude und Genuñ fØr sich selbst herauspressen, wie nur irgend mÃglich, und dann die Schale sofort als nutzlos wegzuwerfen: das war ungefÄhr das Abc seines weitblickenden Erziehungssystems.
          Dañ das Geld als Standarte und SchlØssel zur 'Macht' dabei eine erste Rolle spielte, kÃnnen Sie sich denken, Herr Pernath. Und so wie er selbst den eigenen Reichtum sorgsam geheim hÄlt, um die Grenzen seines Einflusses in Dunkel zu hØllen, so ersann er sich ein Mittel, seinem Sohn ähnliches zu ermÃglichen, ihm aber gleichzeitig die Qual eines scheinbar Ärmlichen Lebens zu ersparen: er durchtrÄnkte ihn mit der infernalischen LØge von der 'SchÃnheit', brachte ihm die Äuñere und innere GebÄrde der ästhetik bei, lehrte ihn Äuñerlich: die Lilie auf dem Felde heucheln und innerlich ein Aasgeier sein.
          NatØrlich war das mit der 'SchÃnheit' wohl kaum eigene Erfindung von ihm - vermutlich die 'Verbesserung' eines Ratschlags, den ihm ein Gebildeter gegeben hatte.
          Dañ ihn sein Sohn spÄter verleugnete, wo und wann er nur konnte, nahm er niemals Øbel. Im Gegenteil, er machte es ihm zur Pflicht: denn seine Liebe war selbstlos, und wie ich es schon einmal von meinem Vater sagte: - von der Art, die Øbers Grab hinausgeht."
          Mirjam schwieg einen Augenblick und ich sah ihr an, wie sie ihre Gedanken stumm weiterspann, hÃrte es an dem verÄnderten Klang ihrer Stimme, als sie sagte:
          "Seltsame FrØchte wachsen auf dem Baume des Judentums."
          "Sagen Sie, Mirjam," fragte ich, "haben Sie nie davon gehÃrt, dañ Wassertrum eine Wachsfigur in seinem Laden stehen hat? Ich weiñ nicht mehr, wer es mir erzÄhlt hat, - es war vielleicht nur ein Traum - -"
          "Nein, nein, es ist schon richtig, Herr Pernath: eine lebensgroñe Wachsfigur steht in der Ecke, in der er, mitten unter dem tollsten GerØmpel, auf seinem Strohsack schlÄft. Er hat sie vor Jahren einem Schaubudenbesitzer abgewuchert, heiñt es, bloñ weil sie einem MÄdchen - einer Christin - Ähnlich sah, die angeblich einmal seine Geliebte gewesen sein soll."
          "Charouseks Mutter!" drÄngte es sich mir auf.
          "Ihren Namen wissen Sie nicht, Mirjam?"
          Mirjam schØttelte den Kopf. "Wenn Ihnen daran liegt, - soll ich mich erkundigen?"
          "Ach Gott, nein, Mirjam; es ist mir vollkommen gleichgØltig", (ich sah an ihren blitzenden Augen, dañ sie sich in Eifer geredet hatte. Sie durfte nicht wieder zu sich kommen, nahm ich mir vor), "aber was mich viel mehr interessiert, ist das Gebiet, von dem Sie vorhin flØchtig sprachen. Ich meine das 'vom Tauwind'. - Ihr Vater wØrde Ihnen doch gewiñ nicht vorschreiben, wen Sie heiraten sollen?"
          Sie lachte lustig auf. "Mein Vater? Wo denken Sie hin!"
          "Nun, das ist ein groñes GlØck fØr mich."
          "Wieso?" fragte sie arglos.
          "Weil ich dann noch Chancen habe."
          Es war nur ein Scherz, und sie nahm es auch nicht anders hin, aber doch sprang sie rasch auf und ging ans Fenster, um mich nicht sehen zu lassen, dañ sie rot wurde.
          Ich lenkte ein, um ihr aus der Verlegenheit zu helfen:
          "Das eine bitte ich mir aus als alter Freund: Mich mØssen Sie einweihen, wenn's einmal so weit ist. - Oder gedenken Sie Øberhaupt ledig zu bleiben?"
          "Nein! nein! nein!" - sie wehrte so entschlossen ab, dañ ich unwillkØrlich lÄchelte - "einmal muñ ich ja doch heiraten."
          "NatØrlich! SelbstverstÄndlich!"
          Sie wurde nervÃs wie ein Backfisch.
          "KÃnnen Sie denn nicht eine Minute ernsthaft bleiben, Herr Pernath?" - Ich machte gehorsam ein Lehrergesicht, und sie setzte sich wieder. - "Also: wenn ich sage, ich muñ doch einmal heiraten, so meine ich damit, dañ ich mir zwar bis jetzt den KopfØber die nÄheren UmstÄnde nicht zerbrochen habe, den Sinn des Lebens aber gewiñ nicht verstØnde, wenn ich annehmen wØrde, ich sei als Weib auf die Welt gekommen, um kinderlos zu bleiben."
          Das erste Mal, seit ich sie kannte, sah ich das Frauenhafte in ihren ZØgen.
          "Es gehÃrt mit zu meinen TrÄumen", fuhr sie leise fort, "mir vorzustellen, dañ es ein Endziel sei, wenn zwei Wesen zu einem verschmelzen, - zu dem, was - - haben Sie nie von dem Ägyptischen Osiriskult gehÃrt? - zu dem verschmelzen, was der 'Hermaphrodit' als Symbol bedeuten mag."
          Ich horchte gespannt auf: "Der Hermaphrodit -?"
          "Ich meine: Die magische Vereinigung von mÄnnlich und weiblich im Menschengeschlecht zu einem Halbgott. Als Endziel! - Nein, nicht als Endziel, als Beginn eines neuen Weges, der ewig ist - kein Ende hat."
          "Und hoffen Sie, dereinst denjenigen zu finden," fragte ich erschØttert, "den Sie suchen? - Kann es nicht sein, dañ er in einem fernen Land lebt, vielleicht gar nicht auf Erden ist?"
          "Davon weiñ ich nichts"; sagte sie einfach, "ich kann nur warten. Wenn er durch Zeit und Raum von mir getrennt ist, - was ich nicht glaube, weshalb wÄre ich dann hier im Getto angebunden? - oder durch die KlØfte gegenseitigen Nichterkennens - und ich finde ihn nicht, dann hat mein Leben keinen Zweck gehabt und war das gedankenlose Spiel eines idiotischen DÄmons. - Aber, bitte, bitte, reden wir nicht mehr davon," flehte sie, "wenn man den Gedanken nur ausspricht, bekommt er schon einen hÄñlichen, irdischen Beigeschmack, und ich mÃchte nicht -"
          Sie brach plÃtzlich ab.
          "Was mÃchten Sie nicht, Mirjam?"
          Sie hob die Hand. Stand rasch auf und sagte:
          "Sie bekommen Besuch, Herr Pernath!"
          Seidenkleider raschelten auf dem Gang.
          UngestØmes Klopfen. Dann:
          Angelina!
          Mirjam wollte gehen; ich hielt sie zurØck:
          "Darf ich vorstellen: die Tochter eines lieben Freundes - Frau GrÄfin -"
          "Nicht einmal vorfahren kann man mehr. øberall das Pflaster aufgerissen. Wann werden Sie einmal in eine menschenwØrdige Gegend siedeln, Meister Pernath? Drauñen schmilzt der Schnee und der Himmel jubelt, dañ es einem die Brust zersprengt, und Sie hocken hier in Ihrer Tropfsteingrotte wie ein alter Frosch, - - Øbrigens wissen Sie, dañ ich gestern bei meinem Juwelier war und er gesagt hat: Sie seien der grÃñte KØnstler, der feinste Gemmenschneider, den es heute gibt, wenn nicht einer der grÃñten, die je gelebt haben?!" - Angelina plauderte wie ein Wasserfall, und ich war verzaubert. Sah nur mehr ihre strahlenden, blauen Augen, die kleinen FØñe in den winzigen Lackstiefeln, sah das kapriziÃse Gesicht aus dem Wust von Pelzwerk leuchten und die rosigen OhrlÄppchen.
          Sie lieñ sich kaum Zeit auszuatmen.
          "An der Ecke steht mein Wagen. Ich hatte schon Angst, Sie nicht zu Hause zu treffen. Sie haben doch hoffentlich noch nicht zu Mittag gegessen? Wir fahren zuerst - ja, wohin fahren wir zuerst? Wir fahren zuerst einmal - warten Sie - - ja: vielleicht in den Baumgarten, oder kurz: irgendwohin ins Freie, wo man so recht das Keimen und heimliche Sprossen in der Luft ahnt. Kommen Sie, kommen Sie, nehmen Sie Ihren Hut; und dann essen Sie bei mir, - und dann schwÄtzen wir bis abends. Nehmen Sie doch Ihren Hut! Worauf warten Sie denn? - Eine warme, ganz weiche Decke ist unten: da wickeln wir uns ein bis an die Ohren und kuscheln uns zusammen, bis uns siedheiñ wird."
          Was sollte ich nur sagen?! "Soeben habe ich mit der Tochter meines Freundes eine Spazierfahrt verabredet - -"
          Mirjam hatte sich bereits hastig von Angelina verabschiedet, noch ehe ich aussprechen konnte.
          Ich begleitete sie bis vor die TØr, obschon sie mich freundlich abwehren wollte.
          "HÃren Sie mich an, Mirjam, ich kann es Ihnen hier auf der Treppe nicht so sagen, wie ich an Ihnen hÄnge - - und dañ ich tausendmal lieber mit Ihnen - -"
          "Sie dØrfen die Dame nicht warten lassen, Herr Pernath," drÄngte sie, "adieu und viel VergnØgen!"
          Sie sagte es voll Herzlichkeit und unverstellt und echt, aber ich sah, dañ der Glanz in ihren Augen erloschen war.
          Sie eilte die Treppe hinunter, und das Leid schnØrte mir die Kehle zusammen.
          Mir war, als hÄtte ich eine Welt verloren.
          0x01 graphic

          Wie im Rausch sañ ich an Angelinas Seite. Wir fuhren in rasendem Trab durch die menschenØberfØllten Strañen.
          Eine Brandung des Lebens rings um mich, dañ ich, halb betÄubt, nur noch die kleinen Lichtflecke in dem Bilde, das an mir vorØberhuschte, unterscheiden konnte: blitzende Juwelen in Ohrringen und Muffketten, blanke ZylinderhØte, weiñe Damenhandschuhe, einen Pudel mit rosa Halsschleife, der klÄffend in die RÄder beiñen wollte, schÄumende Rappen, die uns entgegensausten in silbernen Geschirren, ein Ladenfenster, drin schimmernde Schalen voll PerlschnØren und funkelnden Geschmeiden, - Seidenglanz um schlanke MÄdchenhØften.
          Der scharfe Wind, der uns ins Gesicht schnitt, lieñ mich die WÄrme von Angelinas KÃrper doppelt sinnverwirrend empfinden.
          Die Schutzleute an den Kreuzungen sprangen respektvoll zur Seite, wenn wir an ihnen vorØberjagten.
          Dann ging's im Schritt Øber das Quai, das eine einzige Wagenreihe war, an der eingestØrzten steinernen BrØcke vorbei, umstaut vom GewØhl gaffender Gesichter.
          Ich blickte kaum hin: - das kleinste Wort aus dem Munde Angelinas, ihre Wimpern, das eilige Spiel ihrer Lippen, - alles, alles war mir unendlich viel wichtiger, als zuzusehen, wie die FelstrØmmer dort unten den antaumelnden Eisschollen die Schultern entgegenstemmten. -
          Parkwege. Dann - gestampfte, elastische Erde. Dann Laubrascheln unter den Hufen der Pferde, nasse Luft, blÄtterlose Baumriesen voll von KrÄhennestern, totes WiesengrØn mit weiñlichen Inseln schwindenden Schnees, alles zog an mir vorbei wie getrÄumt.
          Nur mit ein paar kurzen Worten, fast gleichgØltig, kam Angelina auf Dr. Savioli zu sprechen.
          "Jetzt, wo die Gefahr vorØber ist", sagte sie mit entzØckender, kindlicher Unbefangenheit, "und ich weiñ, dañ es ihm auch wieder besser geht, kommt mir alles das, was ich mitgemacht habe, so grÄñlich langweilig vor. - Ich will mich endlich einmal wieder freuen, die Augen zumachen und untertauchen in dem glitzernden Schaum des Lebens. Ich glaube, alle Frauen sind so. Sie gestehen es bloñ nicht ein. Oder sie sind so dumm, dañ sie es selbst nicht wissen. Meinen Sie nicht auch?" Sie hÃrte gar nicht hin, was ich darauf antwortete. "øbrigens sind mir die Frauen vollstÄndig uninteressant. Sie dØrfen es natØrlich nicht als Schmeichelei auffassen: aber - wahrhaftig, die bloñe NÄhe eines sympathischen Mannes ist mir im kleinen Finger lieber als das anregendste GesprÄch mit einer noch so gescheiten Frau. Es ist ja schlieñlich doch alles dummes Zeug, was man da zusammenschwÄtzt. - HÃchstens: das biñchen Putz - na und! Die Moden wechseln ja nicht gar so hÄufig. - - Nicht wahr, ich bin leichtsinnig?", fragte sie plÃtzlich kokett, dañ ich mich, bestrickt von ihrem Reiz, zusammennehmen muñte, nicht ihr KÃpfchen zwischen meine HÄnde zu nehmen und sie in den Nacken zu kØssen, - "sagen Sie, dañ ich leichtsinnig bin!"
          Sie schmiegte sich noch dichter an und hÄngte sich in mich ein.
          Wir fuhren aus der Allee heraus an Bosketts entlang mit strohumwickelten Zierstauden, die aussahen in ihren HØllen wie RØmpfe von Ungeheuern mit abgehauenen Gliedern und HÄuptern.
          Leute sañen auf BÄnken in der Sonne und blickten hinter uns drein und steckten die KÃpfe zusammen.
          Wir schwiegen eine Weile und hingen unseren Gedanken nach. Wie war Angelina doch so vollstÄndig anders, als sie bisher in meiner Einbildung gelebt hatte! - Als sei sie erst heute fØr mich in die Gegenwart gerØckt!
          War das wirklich dieselbe Frau, die ich damals in der Domkirche getrÃstet hatte?
          Ich konnte den Blick nicht wenden von ihrem halboffenen Mund.
          Sie sprach noch immer kein Wort. Schien im Geiste ein Bild zu sehen.
          Der Wagen bog Øber eine feuchte Wiese.
          Es roch nach erwachender Erde.
          "Wissen Sie, - - Frau - -?"
          "Nennen Sie mich doch Angelina", unterbrach sie mich leise.
          "Wissen Sie, Angelina, dañ - dañ ich heute die ganze Nacht von Ihnen getrÄumt habe?", stieñ ich gepreñt hervor.
          Sie machte eine kleine rasche Bewegung, als wolle sie ihren Arm aus meinem ziehen, und sah mich groñ an. "MerkwØrdig! Und ich von Ihnen! - Und in diesem Moment habe ich dasselbe gedacht."
          Wieder stockte das GesprÄch, und beide errieten wir, dañ wir auch dasselbe getrÄumt hatten.
          Ich fØhlte es an dem Beben ihres Blutes. Ihr Arm zitterte kaum merklich an meiner Brust. Sie blickte krampfhaft von mir weg aus dem Wagen hinaus. - - -
          Langsam zog ich ihre Hand an meine Lippen, streifte den weiñen, duftenden Handschuh zurØck, hÃrte, wie ihr Atem heftig wurde, und preñte toll vor Liebe meine ZÄhne in ihren Handballen.
          0x01 graphic

          - - Stunden spÄter ging ich wie ein Trunkener durch den Abendnebel hinab der Stadt zu. Planlos wÄhlte ich die Strañen und ging lange, ohne es zu wissen, im Kreise herum.
          Dann stand ich am Fluñ Øber eisernes GelÄnder gebeugt und starrte hinab in die tosenden Wellen.
          Noch immer fØhlte ich Angelinas Arme um meinen Nacken, sah das steinerne Becken des Springbrunnens, an dem wir schon einmal Abschied voneinander genommen vor vielen Jahren, vor mir, mit den faulenden UlmenblÄttern darin, und sie wanderte wieder mit mir, wie soeben erst vor kurzem, den Kopf an meine Schulter gelehnt, stumm durch den frÃsteldnen, dÄmmrigen Park ihres Schlosses.
          Ich setzte mich auf eine Bank und zog den Hut tief ins Gesicht, um zu trÄumen.
          Die Wasser brausten Øber das Wehr und ihr Rauschen verschlang die letzten, aufmurrenden GerÄusche der schlafengehenden Stadt.
          Wenn ich von Zeit zu Zeit meinen Mantel fester um mich zog und aufblickte, lag der Fluñ in immer tieferen Schatten, bis er endlich, von der schweren Nacht erdrØckt, schwarzgrau dahinstrÃmte und der Gischt des Staudamms als weiñer, blendender Streifen schrÄg hinØber zum andern Ufer lief.
          Mich schauderte bei dem Gedanken, wieder zurØck zu mØssen in mein trauriges Haus.
          Der Glanz eines kurzen Nachmittags hatte mich fØr immer zum Fremdling in meiner WohnstÄtte gemacht.
          Eine Spanne von wenigen Wochen, vielleicht nur von Tagen, dann muñte das GlØck vorØber sein - und nichts blieb davon als eine wehe, schÃne Erinnerung.
          Und dann?
          Dann war ich heimatlos hier und drØben, diesseits und jenseits des Flusses.
          Ich stand auf! Wollte noch durch das Parkgitter einen Blick auf das Schloñ werfen, hinter dessen Fenstern sie schlief, ehe ich in das finstere Getto ging. - - - Ich schlug die Richtung ein, aus der ich gekommen war, tappte mich durch den dichten Nebel an HÄuserreihen entlang und Øber schlummernde PlÄtze, sah schwarze Monumente drohend auftauchen und einsame SchilderhÄuser und die SchnÃrkel von Barockfassaden. Der matte Schimmer einer Laterne wuchs zu riesigen, phantastischen Ringen in verblichenen Regenbogenfarben aus dem Dunst heraus, wurde zum fahlgelben, stechenden Auge und zerging hinter mir in der Luft.
          Mein Fuñ tastete breite, steinerne StufenflÄchen, mit Kies bestreut. Wo war ich? Ein Hohlweg, der steil aufwÄrts fØhrt?
          Glatte Gartenmauern links und rechts? Die kahlen äste eines Baumes hÄngen herØber. Sie kommen vom Himmel herunter: der Stamm verbirgt sich hinter der Nebelwand. -
          Ein paar morsche, dØnne Zweige brechen krachend ab, wie mein Hut sie streift, und fallen an meinem Mantel hinab in den nebligen grauen Abgrund, der mir meine FØñe verbirgt.
          Dann ein strahlender Punkt: ein einsames Licht in der Ferne - irgendwo - rÄtselhaft - zwischen Himmel und Erde. - - -
          Ich muñte fehlgegangen sein. Es konnte nur die "alte Schloñstiege" sein neben den HÄngen der FØrstenbergschen GÄrten - - -
          Dann lange Strecken lehmiger Erde. - Ein gepflasterter Weg.
          Ein massiger Schatten ragt hoch auf, den Kopf in einer schwarzen, steifen ZipfelmØtze: "die Daliborka" = der Hungerturm, in dem Menschen einst verschmachteten, derweilen KÃnige unten im "Hirschgraben" das Wild hetzten.
          Ein schmales, gewundenes GÄñchen mit Schieñscharten, ein Schneckengang, kaum breit genug, die Schultern durchzulassen - und ich stand vor einer Reihe von HÄuschen, keines hÃher als ich.
          Wenn ich den Arm ausstreckte, konnte ich auf die DÄcher greifen.
          Ich war in die "Goldmachergasse" geraten, wo im Mittelalter die alchimistischen Adepten den Stein der Weisen geglØht und die Mondstrahlen vergiftet haben.
          Es rØhrte kein anderer Weg hinaus als der, den ich gekommen war.
          Aber ich fand die MauerlØcke nicht mehr, die mich eingelassen, - stieñ an ein Holzgatter.
          Es nØtzt nichts, ich muñ jemand wecken, damit man mir den Weg zeigt, sagte ich mir. Sonderbar, dañ hier ein Haus die Gasse abschlieñt - grÃñer als die andern und anscheinend wohnlich? Ich kann mich nicht entsinnen, es je bemerkt zu haben.
          Es muñ wohl weiñ getØncht sein, dañ es so hell aus dem Nebel leuchtet?
          Ich gehe durch das Gatter Øber den schmalen Gartenstreif, drØcke das Gesicht an die Scheiben: - alles finster. Ich klopfe ans Fenster. - Da geht drinnen ein steinalter Mann, eine brennende Kerze in der Hand, durch eine TØr mit greisenhaft wankenden Schritten bis mitten in die Stube, bleibt stehen, dreht langsam den Kopf nach den verstaubten alchimistischen Retorten und Kolben an der Wand, starrt nachdenklich auf die riesigen Spinnweben in den Ecken und richtet dann seinen Blick unverwandt auf mich.
          Der Schatten seiner Backenknochen fÄllt ihm auf die AugenhÃhlen, dañ es aussieht, als seien sie leer wie die einer Mumie.
          Er sieht mich offenbar nicht.
          Ich klopfe ans Glas.
          Er hÃrt mich nicht. Geht lautlos wie ein Schlafwandler wieder aus dem Zimmer.
          Ich warte vergebens.
          Klopfe ans Haustor: niemand Ãffnet. - - -
          0x01 graphic

          Es blieb mir nichts Øbrig, als so lange zu suchen, bis ich den Ausgang aus der Gasse endlich fand.
          0x01 graphic

          Ob es nicht am besten wÄre, ich ginge noch unter Menschen, Øberlegte ich. - Zu meinen Freunden: Zwakh, Prokop und Vrieslander ins "alte Ungelt", wo sie bestimmt sein wØrden -, um meine verzehrende Sehnsucht nach Angelinas KØssen wenigstens fØr ein paar Stunden zu ØbertÄuben? Rasch mache ich mich auf den Weg.
          0x01 graphic

          Wie ein Trifolium von Toten hockten sie um den wurmstichigen, alten Tisch herum, - alle drei: weiñe dØnnstielige Tonpfeifen zwischen den ZÄhnen, und das Zimmer voll Rauch.
          Man konnte kaum ihre GesichtszØge unterscheiden, so schluckten die dunkelbraunen WÄnde das spÄrliche Licht der altmodischen HÄngelampe ein.
          In der Ecke die spindeldØrre, wortkarge, verwitterte Kellnerin mit ihrem ewigen Strickstrumpf, dem farblosen Blick und der gelben Entenschnabelnase!
          Mattrote Decken hingen vor den geschlossenen TØren, so dañ die Stimmen der GÄste im Nebenzimmer nur wie das leise Summen eines Bienenschwarms herØberdrangen.
          Vrieslander, seinen kegelfÃrmigen Hut mit der geraden Krempe auf dem Kopf, mit seinem Knebelbart, der bleigrauen Gesichtsfarbe und der Narbe unter dem Auge, sah aus wie ein ertrunkener HollÄnder aus einem vergessenen Jahrhundert.
          Josua Prokop hatte sich eine Gabel quer durch die Musikerlocken gesteckt, klapperte unaufhÃrlich mit seinen gespenstisch langen Knochenfingern und sah bewundernd zu, wie sich Zwakh abmØhte, der bauchigen Arakflasche das PurpurmÄntelchen einer Marionette umzuhÄngen.
          "Das wird Babinski", erklÄrte mir Vrieslander mit tiefem Ernst. "Sie wissen nicht, wer Babinski war? Zwakh, erzÄhlen Sie Pernath rasch, wer Babinski war!"
          "Babinski war", begann Zwakh sofort, ohne auch nur eine Sekunde von seiner Arbeit aufzusehen, "einst ein berØhmter RaubmÃrder in Prag. - Viele Jahre betrieb er sein schÄndliches Handwerk, ohne dañ es jemand bemerkt hÄtte. Nach und nach jedoch fiel es in den besseren Familien auf, dañ bald dieses, bald jenes Mitglied der Sippe beim Essen fehlte und sich nie wieder blicken lieñ. Wenn man auch anfangs nichts sagte, da die Sache gewissermañen ihre guten Seiten hatte, indem man weniger zu kochen brauchte, so durfte wiederum nicht auñer acht gelassen werden, dañ das Ansehen in der Gesellschaft leicht darunter leiden und man ins Gerede kommen konnte.
          Besonders, wenn es sich um das spurlose Verschwinden mannbarer TÃchter handelte.
          øberdies verlangte die Hochachtung vor sich selbst, dañ man auf ein bØrgerliches Zusammenleben in der Familie nach auñen hin das nÃtige Gewicht legte.
          Die Zeitungsrubriken: "Kehre zurØck, alles ist verziehen" wuchsen immer mehr und mehr, - ein Umstand, den Babinski, leichtsinnig wie die meisten BerufsmÃrder, in seine Berechnungen nicht einbezogen hatte, - und erregten schlieñlich die allgemeine Aufmerksamkeit.
          In dem lieblichen DÃrfchen Krtsch bei Prag hatte sich Babinski, der innerlich ein ausgesprochen idyllischer Charakter war, mit der Zeit durch seine unverdrossene TÄtigkeit ein kleines, aber trautes Heim geschaffen. Ein HÄuschen, blitzend vor Sauberkeit, und ein GÄrtchen davor mit blØhenden Geranien.
          Da es ihm seine EinkØnfte nicht gestatteten, sich zu vergrÃñern, sah er sich genÃtigt, um die Leichen seiner Opfer unauffÄllig bestatten zu kÃnnen, statt eines Blumenbeetes - wie er es gern gesehen hÄtte - einen grasbewachsenen und schlichten, aber, den UmstÄnden angemessen: zweckmÄñigen GrabhØgel anzulegen, der sich mØhelos verlÄngern lieñ, wenn es der Betrieb oder die Saison erforderte.
          Auf dieser WeihestÄtte pflegte Babinski allabendlich nach des Tages Last und MØhen in den Strahlen der untergehenden Sonne zu sitzen und auf seiner FlÃte allerlei schwermØtige Weisen zu blasen." - -
          "Halt!" unterbrach Josua Prokop rauh, zog einen HausschlØssel aus der Tasche, hielt ihn wie eine Klarinette an den Mund und sang:
          "Zimzerlim zambusla - deh."
          "Waren Sie denn dabei, dañ Sie die Melodie so genau kennen?", fragte Vrieslander erstaunt.
          Prokop warf ihm einen bitterbÃsen Blick zu: "Nein. Dazu hat Babinski zu frØh gelebt. Aber was er gespielt haben kann, muñ ich als Komponist doch am besten wissen. Ihnen steht darØber kein Urteil zu: Sie sind nicht musikalisch. - - Zimzerlim - zambusla - busla - deh."
          Zwakh hÃrte ergriffen zu, bis Prokop seinen HausschlØssel wieder einsteckte, und fuhr dann fort:
          "Das bestÄndige Wachsen des HØgels erweckte allmÄhlich Verdacht bei den Anrainern, und einem Polizeimann aus der Vorstadt Zizkov, der gelegentlich von weitem zusah, wie Babinski gerade eine alte Dame der guten Gesellschaft erwØrgte, gebØhrt das Verdienst, dem selbstsØchtigen Treiben des Unholdes ein fØr allemal Schranken gesetzt zu haben:
          Man verhaftete Babinski in seinem Tuskulum.
          Der Gerichtshof verurteilte ihn unter Zubilligung des mildernden Umstandes eines ansonsten trefflichen Leumundes zum Tode durch den Strang und beauftragte zugleich die Firma GebrØder Leipen - Seilwaren en gros und en detail - die nÃtigen Hinrichtungsutensilien, soweit diese in ihre Branche fielen, unter Anrechnung ziviler Preise einem hohen StaatsÄrar gegen Quittung auszuhÄndigen.
          Nun fØgte es sich aber, dañ der Strick riñ und Babinski zu lebenslÄnglichem GefÄngnis begnadigt wurde.
          Zwanzig Jahre verbØñte der RaubmÃrder hinter den Mauern von Sankt Pankraz, ohne dañ je ein Vorwurf Øber seine Lippen gekommen wÄre; - noch heute ist der Beamtenstab des Institutes voll Lob Øber seine vorbildliche AuffØhrung, ja, man gestattete ihm sogar, an den Geburtstagen unseres AllerhÃchsten Landesherrn ab und zu die FlÃte zu blasen; -"
          Prokop suchte sofort wieder nach seinem HausschlØssel, aber Zwakh wehrte ihm.
          "- infolge allgemeiner Amnestie wurde dem Babinski der Rest der Strafe nachgesehen, und er bekam die Stelle eines PfÃrtners im Kloster der 'Barmherzigen Schwestern'.
          Die leichte Gartenarbeit, die er nebenbei mit zu versehen hatte, ging ihm dank der groñen, wÄhrend seines frØheren Wirkungskreises erworbenen Geschicklichkeit im Gebrauch des Spatens hurtig von der Hand, so dañ ihm hinlÄnglich Muñe blieb, Herz und Geist an guter, sorgfÄltig ausgewÄhlter LektØre zu lÄutern.
          Die daraus resultierenden Folgen waren hocherfreulich.
          Sooft ihn die Oberin Samstagabends ins Wirtshaus schickte, damit er sein GemØt ein wenig erheitere, jedesmal kam er pØnktlich vor Anbruch der Nacht nach Hause mit dem Hinweis, der Verfall der allgemeinen Moral stimme ihn trØbe und soviel lichtscheues Gesindel schlimmster Sorte mache die Landstrañe unsicher, dañ es fØr jeden Friedliebenden ein Gebot der Klugheit sei, rechtzeitig die Schritte heimwÄrts zu lenken.
          Es war nun damaliger Zeit in Prag bei den Wachsziehern die Unsitte eingerissen, kleine FigØrchen feilzuhalten, die ein rotes Manterle umhÄngen hatten und den RaubmÃrder Babinski darstellten.
          Wohl in keiner der leidtragenden Familien fehlte ein solches.
          GewÃhnlich aber standen sie in den LÄden unter GlasstØrzen, und Øber nichts konnte sich Babinski so empÃren, als wenn er eines derartigen Wachsbildes ansichtig wurde.
          'Es ist im hÃchsten Grade unwØrdig und zeugt von einer GemØtsroheit sondersgleichen, einem Menschen bestÄndig die Verfehlungen seiner Jugendzeit vor Augen zu fØhren,' pflegte Babinski in solchen FÄllen zu sagen 'und es ist tief zu bedauern, dañ von Seiten der Obrigkeit nichts geschieht, so offenkundigem Unfug zu steuern.'
          Noch auf dem Totenbette Äuñerte er sich in Ähnlichem Sinne.
          Nicht vergebens, denn bald darauf verfØgte die BehÃrde die Einstellung des Handels mit den Ärgerniserregenden Babinskischen Statuetten." - - -
          - - - Zwakh tat einen mÄchtigen Schluck aus seinem Grogglas und alle drei grinsten wie die Teufel, dann wandte er vorsichtig den Kopf nach der farblosen Kellnerin, und ich sah, wie sie eine TrÄne im Auge zerdrØckte.
          0x01 graphic

          - "Na, und Sie geben nichts zum besten, auñer - natØrlich - dañ Sie aus Dankbarkeit fØr den Øberstandenen Kunstgenuñ die Zeche berappen, wertgeschÄtzter Kollege und Gemmenschneider?", fragte mich Vrieslander nach einer langen Pause allgemeinen Tiefsinnes.
          Ich erzÄhlte ihnen meine Wanderung durch den Nebel.
          Als ich in der Schilderung zu der Stelle kam, wo ich das weiñe Haus erblickt hatte, nahmen alle drei vor Spannung die Pfeifen aus den ZÄhnen, und als ich schloñ, schlug Prokop mit der Faust auf den Tisch und rief:
          "Das ist doch rein - -! Alle Sagen, die es gibt, erlebt dieser Pernath am eigenen Kadaver. - A propos, der Golem von damals - Sie wissen: die Sache hat sich aufgeklÄrt."
          "Wieso aufgeklÄrt?" fragte ich baff.
          "Sie kennen doch den verrØckten jØdischen Bettler 'Haschile'? Nein? Nun also: dieser Haschile war der Golem."
          "Ein Bettler der Golem?"
          "Jawohl, der Haschile war der Golem. Heute nachmittag ging das Gespenst seelenvergnØgt bei hellichtem Sonnenschein in seinem berØchtigten altmodischen Anzug aus dem XVII. Jahrhundert durch die Salnitergasse spazieren, und da hat es der Schinder mit einer Hundeschlinge glØcklich eingefangen."
          "Was soll das heiñen? Ich verstehe kein Wort!" fuhr ich auf.
          "Ich sage Ihnen doch: der Haschile war es! Er hat die Kleider, hÃre ich, vor lÄngerer Zeit hinter einem Haustor gefunden. - øbrigens, um auf das weiñe Haus auf der Kleinseite zurØckzukommen: die Sache ist furchtbar interessant. Es geht nÄmlich eine alte Sage, dañ dort oben in der Alchimistengasse ein Haus steht, das nur bei Nebel sichtbar wird, und auch da bloñ 'Sonntagskindern'. Man nennt es 'die Mauer zur letzten Laterne'. Wer bei Tag hinaufgeht, sieht dort nur einen groñen, grauen Stein, - dahinter stØrzt es jÄh ab in die Tiefe in den Hirschgraben, und Sie kÃnnen von GlØck sagen, Pernath, dañ Sie keinen Schritt weiter gemacht haben: Sie wÄren unfehlbar hinuntergefallen und hÄtten sÄmtliche Knochen gebrochen.
          Unter dem Stein, heiñt es, ruht ein riesiger Schatz, und er soll von dem Orden der 'Asiatischen BrØder', die angeblich Prag gegrØndet haben, als Grundstein fØr ein Haus gelegt worden sein, das dereinst am Ende der Tage ein Mensch bewohnen wird - besser gesagt ein Hermaphrodit - ein GeschÃpf, das sich aus Mann und Weib zusammensetzt. Und der wird das Bild eines Hasen im Wappen tragen, - nebenbei: der Hase war das Symbol des Osiris, und daher stammt wohl die Sitte mit dem Osterhasen.
          Bis die Zeit gekommen ist, heiñt es, hÄlt Methusalem in eigener Person Wache an dem Ort, damit Satan nicht den Stein beflattert und einen Sohn mit ihm zeugt: den sogenannten Armilos. - Haben Sie noch nie von diesem Armilos erzÄhlen hÃren? - Sogar wie er aussehen wØrde, weiñ man - das heiñt, die alten Rabbiner wissen es; - wenn er auf die Welt kÄme: Haare aus Gold wØrde er haben, rØckwÄrts zum Schopf gebunden, dann: zwei Scheitel, sichelfÃrmige Augen und Arme bis herunter zu den FØñen."
          "Dieses Ehrengigerl sollte man aufzeichnen", brummte Vrieslander und suchte nach einem Bleistift.
          "Also: Pernath, wenn Sie einmal das GlØck haben sollten, ein Hermaphrodit zu werden und en passant den vergrabenen Schatz zu finden," schloñ Prokop, "dann vergessen Sie nicht, dañ ich stets Ihr bester Freund gewesen bin!"
          - Mir war nicht zum Spañmachen zumute, und ich fØhlte ein leises Weh im Herzen.
          Zwakh mochte es mir ansehen, wenn er auch den Grund nicht wuñte, denn er kam mir rasch zu Hilfe:
          "Jedenfalls ist es hÃchst merkwØrdig, fast unheimlich, dañ Pernath gerade eine Vision an jener Stelle hatte, die mit einer uralten Sage so eng verknØpft ist. - Da sind ZusammenhÄnge, aus deren Umklammerung sich ein Mensch anscheinend nicht befreien kann, wenn seine Seele die FÄhigkeit hat, Formen zu sehen, die dem Tastsinn vorenthalten sind. - Ich kann mir nicht helfen: das øbersinnliche ist doch das Reizvollste! - Was meint ihr?"
          Vrieslander und Prokop waren ernst geworden, und jeder von uns hielt eine Antwort fØr ØberflØssig.
          "Was meinen Sie, Eulalia?" wiederholte Zwakh, zurØckgewendet, seine Frage.
          Die alte Kellnerin kratzte sich mit der Stricknadel am Kopf, seufzte, errÃtete und sagte:
          "Aber gÄhn' Sie! Sie sind mir ein Schlimmer."
          0x01 graphic

          "Eine verdammt gespannte Luft war heute den ganzen Tag Øber", fing Vrieslander an, nachdem sich unser Heiterkeitsausbruch gelegt hatte, "nicht einen Pinselstrich hab' ich fertiggebracht. FortwÄhrend hab' ich an die Rosina denken mØssen, wie sie im Frack getanzt hat."
          "Ist sie wieder aufgefunden worden?", fragte ich.
          "'Aufgefunden' ist gut. Die Sittenpolizei hat sie doch fØr ein lÄngeres Engagement gewonnen! - Vielleicht hat sie dem Herrn KommissÄr - damals 'beim Loisitschek', ins Auge gestochen? Jedenfalls ist sie jetzt - fieberhaft tÄtig und trÄgt wesentlich zur Hebung des Fremdenverkehrs in der Judenstadt bei. Ein verflucht dralles Mensch ist sie Øbrigens schon geworden in der kurzen Zeit."
          "Wenn man bedenkt, was ein Weib aus einem Mann machen kann bloñ dadurch, dañ sie ihn verliebt sein lÄñt in sich: es ist zum Staunen", warf Zwakh hin. "Um das Geld aufzubringen, zu ihr gehen zu kÃnnen, ist der arme Bursche, der Jaromir, Øber Nacht KØnstler geworden. Er geht in den WirtshÄusern herum und schneidet Silhouetten fØr GÄste aus, die sich auf diese Art portrÄtieren lassen."
          Prokop, der den Schluñ ØberhÃrt hatte, schmatzte mit den Lippen:
          "Wirklich? Ist sie so hØbsch geworden, die Rosina? - Haben Sie ihr schon ein KØñchen geraubt, Vrieslander?"
          Die Kellnerin sprang sofort auf und verlieñ indigniert das Zimmer.
          "Das Suppenhuhn! Die hat's wahrhaftig nÃtig, - TugendanfÄlle! Pah!", brummte Prokop Ärgerlich hinter ihr drein.
          "Was wollen Sie, sie ist doch bei der unrichtigen Stelle abgegangen. Und auñerdem war der Strumpf gerade fertig", beschwichtigte ihn Zwakh.
          0x01 graphic

          Der Wirt brachte neuen Grog und die GesprÄche fingen allmÄhlich an, eine schwØle Richtung zu nehmen. Zu schwØl, als dañ sie mir nicht ins Blut gegangen wÄren bei meiner fiebrigen Stimmung.
          Ich strÄubte mich dagegen, aber je mehr ich mich innerlich abschloñ und an Angelina zurØckdachte, um so heiñer brauste es mir in den Ohren.
          Ziemlich unvermittelt verabschiedete ich mich.
          Der Nebel war durchsichtiger geworden, sprØhte feine Eisnadeln auf mich, war aber immer noch so dicht, dañ ich die Strañentafeln nicht lesen konnte und von meinem Heimweg um ein geringes abkam.
          Ich war in eine andere Gasse geraten und wollte eben umkehren, da hÃrte ich meinen Namen rufen:
          "Herr Pernath! Herr Pernath!"
          Ich blickte um mich, in die HÃhe:
          Niemand!
          Ein offenes Haustor, darØber diskret eine kleine, rote Laterne, gÄhnte neben mir auf, und eine helle Gestalt - schien mir - stand tief im Flur darin.
          Wieder: "Herr Pernath! Herr Pernath!" Im FlØsterton.
          Ich trat erstaunt in den Gang, - da schlangen sich warme Frauenarme um meinen Hals, und ich sah bei dem Lichtstrahl, der aus einem sich langsam Ãffnenden TØrspalt fiel, dañ es Rosina war, die sich heiñ an mich preñte.

    List


          Ein grauer, blinder Tag.
          Bis tief in den Morgen hinein hatte ich geschlafen, traumlos, bewuñtlos, wie ein Scheintoter.
          Meine alte Bedienerin war ausgeblieben oder hatte vergessen einzuheizen.
          Kalte Asche lag im Ofen.
          Staub auf den MÃbeln.
          Der Fuñboden nicht gekehrt.
          FrÃstelnd ging ich auf und ab.
          WiderwÄrtiger Geruch nach ausgeatmetem Fusel lag im Zimmer. Mein Mantel, meine Kleider stanken nach altem Tabakrauch.
          Ich riñ das Fenster auf, schloñ es wieder: - der kalte, schmutzige Hauch von der Strañe war unertrÄglich.
          Spatzen mit durchnÄñtem Gefieder hockten regungslos drauñen auf den Dachrinnen.
          Wohin ich blickte, miñfarbene Verdrossenheit. Alles in mir war zerrissen, zerfetzt.
          Das Sitzpolster auf dem Lehnstuhl - wie fadenscheinig es war! Die Roñhaare quollen hervor aus den RÄndern.
          Man muñte es zum Tapezierer schicken - - ach was, sollte es so bleiben - noch ein Ãdes Menschenleben hindurch, bis alles zu Gerumpel zerfiel!
          Und dort, welch geschmackloser, zweckwidriger Plunder, diese Zwirnlappen an den Fenstern!
          Warum drehte ich sie nicht zu einem Strick und erhenkte mich daran?!
          Dann brauchte ich diese augenverletzenden Dinge wenigstens nie mehr zu sehen, und der ganze graue, zermØrbende Jammer war vorØber - ein fØr allemal.
          Ja! Das war das gescheiteste! Ein Ende machen.
          Heute noch.
          Jetzt noch - vormittags. Gar nicht erst zum Essen gehen. - Ein ekelhafter Gedanke, mit vollem Magen sich aus der Welt zu schaffen! In der nassen Erde liegen und unverdaute, verfaulende Speisen in sich zu haben.
          Wenn nur nie wieder die Sonne scheinen wollte und ihre freche LØge von der Freude des Daseins einem ins Herz funkeln.
          Nein! ich lieñ mich nicht mehr narren, wollte nicht lÄnger der Spielball sein eines tÄppischen, zwecklosen Schicksals, das mich emporhob und dann wieder in PfØtzen stieñ, bloñ damit ich die VergÄnglichkeit alles Irdischen einsehen sollte, etwas, was ich lÄngst wuñte, was jedes Kind weiñ, jeder Hund auf der Strañe weiñ.
          Arme, arme Mirjam! Wenn ich ihr wenigstens helfen kÃnnte.
          Es hieñ, einen Entschluñ fassen, einen ernsten, unabÄnderlichen Beschluñ, bevor der verfluchte Trieb zum Dasein wieder in mir erwachen konnte und mir neue Trugbilder vorgaukeln.
          Wozu hatten sie mir denn gedient: alle diese Botschaften aus dem Reich des Unverweslichen?
          Zu nichts, zu gar, gar nichts.
          Nur dazu vielleicht, dañ ich im Kreis herumgetaumelt war und jetzt die Erde als unmÃgliche Qual empfand.
          Da gab es nur noch eins.
          Ich rechnete im Kopf zusammen, wieviel Geld ich auf der Bank liegen hatte.
          Ja, nur so ging es. Das war noch das Einzige, Winzige, was von meinen nichtigen Taten im Leben irgendeinen Wert haben konnte!
          Alles, was ich besañ - die paar Edelsteine in der Schublade dazu, - zusammenschnØren in ein Paket und es Mirjam schicken. Ein paar Jahre wenigstens wØrde es die Sorge ums tÄgliche Leben von ihr nehmen. Und einen Brief an Hillel schreiben, in dem ich ihm sagte, wie es um sie stand mit dem "Wunder".
          Er allein konnte ihr helfen.
          Ich fØhlte: ja, er wØrde Rat wissen fØr sie.
          Ich suchte die Steine zusammen, steckte sie ein, sah auf die Uhr: wenn ich jetzt auf die Bank ging - in einer Stunde konnte alles in Ordnung gebracht sein.
          Und dann noch einen Strauñ roter Rosen kaufen fØr Angelina! - - - - es schrie auf in mir vor Weh und wilder Sehnsucht. - Nur noch einen Tag, einen einzigen Tag mÃchte ich leben!
          Um dann abermals dieselbe wØrgende Verzweiflung mitmachen zu mØssen?
          Nein, nicht eine einzige Minute mehr warten! Es kam wie Befriedigung Øber mich, dañ ich mir nicht nachgegeben hatte.
          Ich blickte umher. Blieb mir noch etwas zu tun?
          Richtig: die Feile dort. Ich steckte sie in die Tasche, - wollte sie fortwerfen irgendwo auf der Gasse, wie ich es mir neulich schon vorgenommen.
          Ich hañte die Feile! Wieviel hatte gefehlt, und ich wÄre zum MÃrder geworden durch sie.
          0x01 graphic

          Wer kam mich denn da wieder stÃren?
          Es war der TrÃdler.
          "Nur en Augenblick, Herr von Pernath", bat er fassungslos, als ich ihm bedeutete, dañ ich keine Zeit hÄtte. "Nur en ganz en kurzen Augenblick. Nur Ä paar Worte."
          Der Schweiñ lief ihm Øbers Gesicht, und er zitterte vor Aufregung.
          "Kann man hier auch ungestÃrt mit Ihnen sprechen, Herr von Pernath? Ich mÃcht' nicht, dañ der - der Hillel wieder hereinkommt. Sperren Sie doch lieber die TØr ab, oder geh'mer besser ins Nebenzimmer", - er zog mich in seiner gewohnten, heftigen Art hinter sich drein.
          Dann sah er sich ein paarmal scheu um und flØsterte heiser:
          "Ich hab mir's Øberlegt, wissen Sie, - das von neilich. Es is besser so. Es kommt nix hereaus dabei. Gut. VorØber is vorØber."
          Ich suchte in seinen Augen zu lesen.
          Er hielt meinen Blick aus, krampfte aber die Hand in die Stuhllehne, solche Anstrengung kostete es ihn.
          "Das freut mich, Herr Wassertrum," sagte ich, so freundlich ich konnte, "das Leben ist zu trØb, als dañ man es sich gegenseitig noch mit Hañ verbittern sollte."
          "Rein, als ob man ein gedrØcktes Buch reden hÃrt," grunzte er erleichtert, wØhlte in seinen Hosentaschen und zog wieder die goldene Uhr mit den verbogenen Sprungdeckeln hervor, "und damit Sie sehen, ich mein's ehrlich, mØssen Sie die Kleinigkeit da von mir annehmen. Als Geschenk."
          "Was fÄllt Ihnen denn ein," wehrte ich ab, "Sie werden doch wohl nicht glauben -", da fiel mir ein, was Mirjam Øber ihn gesagt hatte, und ich streckte ihm die Hand hin, um ihn nicht zu krÄnken.
          Er achtete nicht darauf, wurde plÃtzlich weiñ wie die Wand, lauschte und rÃchelte:
          "Da! Da! Hab' ich's doch gewuñt. Schon wieder der Hillel! Er klopft."
          Ich horchte, ging ins andere Zimmer zurØck und zog zu seiner Beruhigung die VerbindungstØr hinter mir halb zu.
          Es war diesmal nicht Hillel. Charousek trat ein, legte, wie zum Zeichen, dañ er wisse, wer nebenan sei, den Finger an die Lippen und ØberschØttete mich in der nÄchsten Sekunde und ohne abzuwarten, was ich sagen wØrde, mit einem Schwall von Worten:
          "Oh, mein hochverehrter, liebwerter Meister Pernath, wie soll ich nur die Worte finden, Ihnen meine Freude auszudrØcken, dañ ich Sie allein und wohlauf zu Hause antreffe." - - - Er sprach wie ein Schauspieler, und seine schwØlstige, unnatØrliche Redeweise stand in so krassem Gegensatz zu seinem verzerrten Gesicht, dañ ich ein tiefes Grauen vor ihm empfand.
          "Niemals hÄtte ich, Meister, es gewagt, in dem zerlumpten Zustande zu Ihnen zu kommen, in dem Sie mich gewiñ schon des Ãfteren auf der Strañe erblickt haben, - doch, was sage ich: erblickt! haben Sie mir doch oft huldreich die Hand gereicht.
          Dañ ich heute vor Sie hintreten kann mit weiñem Kragen und in sauberem Anzug, - wissen Sie, wem ich es verdanke? Einem der edelsten und leider - ach - meist verkannten Menschen unserer Stadt. RØhrung Øbermannt mich, wenn ich seiner gedenke.
          Selber in bescheidenen VerhÄltnissen, hat er dennoch eine offene Hand fØr Arme und BedØrftige. Von jeher, wenn ich ihn traurig vor seinem Laden stehen sah, trieb es mich aus tiefstem Herzen heraus, zu ihm zu treten und ihm stumm die Hand zu drØcken.
          Vor einigen Tagen rief er mich an, als ich vorØberging, schenkte mir Geld und versetzte mich dadurch in die Lage, mir gegen Ratenzahlung einen Anzug kaufen zu kÃnnen.
          Und wissen Sie, Meister Pernath, wer mein WohltÄter war? -
          Mit Stolz sage ich es, denn ich war von jeher der einzige, der geahnt hat, welch goldenes Herz in seinem Busen schlÄgt: Es war - Herr Aaron Wassertrum!" - -
          - - Ich verstand natØrlich, dañ Charousek seine KomÃdie auf den TrÃdler, der nebenan lauschte, gemØnzt hatte, wenn mir auch unklar blieb, was er damit bezweckte; keinesfalls schien mir die allzuplumpe Schmeichelei geeignet, den miñtrauischen Wassertrum hinters Licht zu fØhren. Charousek erriet offenbar aus meiner bedenklichen Miene, was ich dachte, schØttelte grinsend den Kopf, und auch seine nÄchsten Worte sollten mir wahrscheinlich sagen, dañ er seinen Mann genau kenne und wisse, wie dick er auftragen dØrfe.
          "Jawohl! Herr - Aaron - Wassertrum! Es drØckt mir fast das Herz ab, dañ ich ihm nicht selbst sagen kann, wie unendlich dankbar ich ihm bin, und beschwÃre Sie, Meister, verraten Sie ihm niemals, dañ ich hier war und Ihnen alles erzÄhlt habe. - Ich weiñ, die Selbstsucht der Menschen hat ihn verbittert und tiefes, unheilbares - ach, leider nur zu gerechtfertigtes Miñtrauen in seine Brust gepflanzt.
          Ich bin Seelenarzt, aber auch mein GefØhl sagt mir, es ist am besten: Herr Wassertrum erfÄhrt nie - auch aus meinem Munde nicht - wie hoch ich von ihm denke. - Es hieñe das: Zweifel in sein unglØckliches Herz sÄen. Und das sei ferne von mir. Lieber soll er mich fØr undankbar halten.
          Meister Pernath! Ich bin selbst ein UnglØcklicher und weiñ von Kindesbeinen an, was es heiñt, einsam und verlassen in der Welt zu stehen! Ich kenne nicht einmal den Namen meines Vaters. Auch mein MØtterlein habe ich niemals von Angesicht zu Angesicht gesehen. Sie muñ frØhzeitig gestorben sein -" Charouseks Stimme wurde seltsam geheimnisvoll und eindringlich, - "und war, wie ich bestimmt glaube, eine jener tiefseelisch angelegten Naturen, die nie sagen kÃnnen, wie unendlich sie lieben, und zu denen auch Herr Aaron Wassertrum gehÃrt.
          Ich besitze eine abgerissene Seite aus dem Tagebuch meiner Mutter - ich trage das Blatt bestÄndig auf der Brust - und darin steht, dañ sie meinen Vater, obschon er hÄñlich gewesen sein soll, geliebt hat, wie wohl noch nie ein sterbliches Weib auf Erden einen Mann geliebt hat.
          Dennoch scheint sie es nie gesagt zu haben. - Vielleicht aus Ähnlichen GrØnden, weshalb ich z. B. Herrn Wassertrum nicht sagen kÃnnte - und wenn mir das Herz darØber brÄche - was ich fØr ihn an Dankbarkeit fØhle.
          Aber noch eins geht aus dem Tagebuchblatt hervor, wenn ich es auch nur erraten kann, denn die SÄtze sind fast unleserlich vor TrÄnenspuren: mein Vater - sein Andenken mÃge vergehen im Himmel und auf Erden! - muñ scheuñlich an meiner Mutter gehandelt haben."
          - Charousek fiel plÃtzlich auf die Knie, dañ der Boden drÃhnte, und schrie in so markerschØtternden TÃnen, dañ ich nicht wuñte, spielte er noch immer KomÃdie oder war er wahnsinnig geworden:
          "Du AllmÄchtiger, dessen Namen der Mensch nicht aussprechen soll, hier auf meinen Knien liege ich vor Dir: verflucht, verflucht, verflucht sei mein Vater in alle Ewigkeit!"
          Er biñ das letzte Wort fÃrmlich entzwei und horchte eine Sekunde lang mit aufgerissenen Augen.
          Dann feixte er wie der Satan. Auch mir schien es, als hÄtte Wassertrum nebenan leise gestÃhnt.
          "Verzeihen Sie, Meister," fuhr Charousek nach einer Pause mit mimenhaft erstickter Stimme fort, "verzeihen Sie, dañ es mich Øbermannt hat, aber es ist mein Gebet frØh und spÄt, der AllmÄchtige wolle es fØgen, dañ mein Vater, wer immer er auch sein mÃge, dereinst das grÄñlichste Ende nehme, das sich ausdenken lÄñt."
          Ich wollte unwillkØrlich etwas erwidern, allein Charousek unterbrach mich rasch:
          "Doch jetzt, Meister Pernath, komme ich zu der Bitte, die ich Ihnen vorzutragen habe:
          Herr Wassertrum besañ einen SchØtzling, den er Øber die Mañen ins Herz geschlossen hatte, - es dØrfte ein Neffe von ihm gewesen sein. Es heiñt sogar, es sei sein Sohn gewesen, aber ich will es nicht glauben, denn sonst hÄtte er doch denselben Namen getragen, in Wirklichkeit aber hieñ er: Wassory, Dr. Theodor Wassory.
          Die TrÄnen treten mir in die Augen, wenn ich ihn im Geiste vor mir sehe. Ich war ihm aus ganzer Seele zugetan, als hÄtte mich ein unmittelbares Band der Liebe und Verwandtschaft mit ihm verknØpft."
          Charousek schluchzte, als kÃnne er vor Ergriffenheit kaum weitersprechen.
          "Ach, dañ dieser Edeling von der Erde gehen muñte! - Ach! Ach!
          Was auch der Grund gewesen sein mag, - ich habe ihn nie erfahren, - er hat sich selbst den Tod gegeben. Und ich war unter denen, die zu Hilfe gerufen wurden - - ach, ach, zu spÄt - zu spÄt - zu spÄt! Und als ich dann allein am Totenlager stand und seine kalte, bleiche Hand mit KØssen bedeckte, da - warum soll ich es nicht eingestehen, Meister Pernath? - es war ja doch kein Diebstahl - da nahm ich eine Rose von der Brust der Leiche und eignete mir das FlÄschchen an, mit dessen Inhalt der UnglØckliche seinem blØhenden Leben ein schnelles Ende bereitet hatte."
          Charousek zog eine Medizinflasche hervor und fuhr bebend fort:
          "Beides lege ich hier auf Ihren Tisch, die verdorrte Rose und die Phiole; sie waren mir ein Andenken an meinen dahingegangenen Freund.
          Wie oft in Stunden innerer Verlassenheit, wenn ich mir den Tod herbeiwØnschte in der Einsamkeit meines Herzens und der Sehnsucht nach meiner toten Mutter, spielte ich mit diesem FlÄschchen, und es gab mir einen seligen Trost, zu wissen: ich brauchte nur die FlØssigkeit auf ein Tuch zu gieñen und einzuatmen und schwebte schmerzlos hinØber in die Gefilde, wo mein lieber, guter Theodor ausruht von den MØhsalen unseres Jammertales.
          Und nun bitte ich Sie, hochverehrter Meister, - und deswegen bin ich hergekommen - nehmen Sie beides und bringen Sie es Herrn Wassertrum.
          Sagen Sie, Sie hÄtten es von jemandem bekommen, dem Dr. Wassory nahestand, dessen Namen Sie jedoch gelobt hÄtten, nie zu nennen, - vielleicht von einer Dame.
          Er wird es glauben, und es wird ihm ein Andenken sein, wie es ein teures Andenken fØr mich war.
          Das soll der heimliche Dank sein, den ich ihm gebe. Ich bin arm und es ist alles, was ich habe, aber es macht mich froh, zu wissen: beides wird jetzt ihm gehÃren, und dennoch ahnt er nicht, dañ ich der Geber bin.
          Es liegt darin zugleich auch fØr mich etwas unendlich SØñes.
          Und jetzt leben Sie wohl, teurer Meister, und seien Sie im voraus vieltausendmal bedankt."
          Er hielt meine Hand fest, zwinkerte und flØsterte mir, als ich noch immer nicht verstand, kaum hÃrbar etwas zu.
          "Warten Sie, Herr Charousek, ich werde Sie ein StØckchen hinunterbegleiten", sagte ich mechanisch die Worte nach, die ich von seinen Lippen las, und ging mit ihm hinaus.
          Auf dem finsteren Treppenabsatz im ersten Stock blieben wir stehen, und ich wollte mich von Charousek verabschieden.
          "Ich kann mir denken, was Sie mit der KomÃdie bezweckt haben. - - Sie - Sie wollen, dañ sich Wassertrum mit dem FlÄschchen vergiftet!" Ich sagte es ihm ins Gesicht.
          "Freilich", gab Charousek aufgerÄumt zu.
          "Und dazu, glauben Sie, werde ich meine Hand bieten?"
          "Durchaus nicht nÃtig."
          "Aber ich sollte Wassertrum doch die Flasche bringen, sagten Sie vorhin!"
          Charousek schØttelte den Kopf:
          "Wenn Sie jetzt zurØckgehen, werden Sie sehen, dañ er sie bereits eingesteckt hat."
          "Wie kÃnnen Sie das nur annehmen?", fragte ich erstaunt. "Ein Mensch wie Wassertrum wird sich niemals umbringen, - ist viel zu feig dazu - handelt nie nach plÃtzlichen Impulsen."
          "Da kennen Sie das schleichende Gift der Suggestion nicht", unterbrach mich Charousek ernst. "HÄtte ich in alltÄglichen Worten geredet, wØrden Sie vielleicht recht behalten, aber auch den kleinsten Tonfall habe ich vorher berechnet. Nur das widerlichste Pathos wirkt auf solche HundsfÃtter! Glauben Sie mir! Sein Mienenspiel bei jedem meiner SÄtze hÄtte ich Ihnen hinzeichnen kÃnnen. - Kein 'Kitsch' wie es die Maler nennen, ist niedertrÄchtig genug, als dañ er nicht der bis ins Mark verlogenen Menge TrÄnen entlockte - sie ins Herz trifft! Glauben Sie denn, man hÄtte nicht lÄngst sÄmtliche Theater mit Feuer und Schwert ausgetilgt, wenn es anders wÄre? An der SentimentalitÄt erkennt man die Kanaille. Tausende armer Teufel kÃnnen verhungern, da wird nicht geweint, aber wenn ein Schminkkamel auf der Buhne, als Bauerntrampel verkleidet, die Augen verdreht, dann heulen sie wie die Schloñhunde. - - Wenn VÄterchen Wassertrum vielleicht auch morgen vergessen hat, was ihm soeben noch - Herzjauche kostete: jedes meiner Worte wird wieder in ihm lebendig werden, wenn die Stunden reifen, wo er sich selbst unendlich bedauernswert vorkommt. - In solchen Momenten des groñen Misereres bedarf es bloñ eines leisen Anstoñes, - und fØr den werde ich sorgen - und selbst die feigste Pfote greift nach dem Gift. Es muñ nur zur Hand sein! Theodorchen hÄtte wahrscheinlich auch nicht zugegrapst, wenn ich's ihm nicht so bequem gemacht hÄtte."
          "Charousek, Sie sind ein furchtbarer Mensch", rief ich entsetzt. "Empfinden Sie denn gar kein - - -"
          Er hielt mir schnell den Mund zu und drÄngte mich in eine Mauernische!
          "Still! Da ist er!"
          Mit taumelnden Schritten, sich an der Wand stØtzend, kam Wassertrum die Stiege herunter und wankte an uns vorØber.
          Charousek schØttelte mir fluchtig die Hand und schlich ihm nach. - -
          Als ich in mein Zimmer zurØckgekehrt war, sah ich, dañ die Rose und das FlÄschchen verschwunden waren und an ihrer Stelle die goldene, zerbeulte Uhr des TrÃdlers auf dem Tisch lag.
          0x01 graphic

          "Acht Tage mØsse ich warten, ehe ich mein Geld bekommen kÃnne; es sei das die Øbliche KØndigungsfrist", hatte man mir auf der Bank gesagt.
          Man solle den Direktor holen, denn ich sei in grÃñter Eile und gedÄchte in einer Stunde abzureisen, hatte ich eine Ausrede gebraucht.
          Er sei nicht zu sprechen und kÃnne an den Gepflogenheiten der Bank auch nichts Ändern, hieñ es, und ein Kerl mit einem Glasauge, der zugleich mit mir an den Schalter getreten war, hatte darØber gelacht.
          Acht graue, furchtbare Tage auf den Tod sollte ich also warten!
          Wie ein Zeitraum ohne Ende kam es mir vor. - - -
          Ich war so niedergeschlagen, dañ ich mir gar nicht bewuñt wurde, wie lange ich schon vor der TØre eines Kaffeehauses auf und nieder geschritten sein mochte.
          Endlich trat ich ein, bloñ um den widerwÄrtigen Kerl mit dem Glasauge los zu werden, der mir von der Bank her nachgekommen war und sich immer in meiner NÄhe hielt und, wenn ich ihn anblickte, sofort auf dem Boden herumsuchte, als habe er etwas verloren.
          Er hatte einen hellkarierten, viel zu engen Rock an und schwarze, speckglÄnzende Hosen, die ihm wie SÄcke um die Beine schlotterten. Auf seinem linken Stiefel war ein eifÃrmiger, gewÃlbter Lederfleck aufgesteppt, dañ es aussah, als trØge er darunter einen Siegelring auf der Zehe.
          Kaum hatte ich mich niedergesetzt, kam auch er herein und lieñ sich an einem Nebentisch nieder.
          Ich glaubte, er wolle mich anbetteln, und suchte schon nach meinem Portemonnai, da sah ich einen groñen Brillanten an seinen wulstigen Metzgerfingern aufblitzen.
          Stunden und Stunden sañ ich in dem Kaffeehaus und glaubte vor innerer NervositÄt wahnsinnig werden zu mØssen, - aber wohin sollte ich gehen? Nach Hause? Herumschlendern? Eines schien mir grÄñlicher als das andere.
          Die veratmete Luft, das ewige, alberne Klappen der Billardkugeln, das trockene, unaufhÃrliche Gerausper eines halbblinden Zeitungstigers mir gegenØber, ein storchbeiniger Infanteneleutnant, der abwechselnd in der Nase bohrte oder sich mit gelben Zigarettenfingern vor einem Taschenspiegel den Schnurrbart kÄmmte, ein braunsammetenes Gebrodel ekelhafter, verschwitzter, schnatternder Italiener um den Kartentisch in der Ecke, die bald unter gellem Gekreisch ihre Trumpfe mit dem Faustknochel hinschlugen, bald unter Brecherscheinungen ins Zimmer spuckten. Und das alles in den Wandspiegeln doppelt und dreifach sehen zu mØssen! Es sog mir langsam das Blut aus den Adern. -
          Es wurde allmÄhlich dunkel und ein plattfuñiger, knieweicher Kellner tastete mit einer Stange nach den GaslØstern, um sich endlich kopfschØttelnd zu Øberzeugen, dañ sie nicht brennen wollten.
          So oft ich das Gesicht wandte, immer begegnete ich dem schielenden Wolfsblick des GlasÄugigen, der sich dann jedesmal rasch hinter eine Zeitung versteckte oder seinen schmutzigen Schnurrbart in die langst ausgetrunkene Kaffeetasse tauchte.
          Er hatte seinen steifen, runden Hut tief aufgestØlpt, dañ ihm die Ohren fast waagerecht abstanden, machte aber keine Miene, aufzubrechen.
          Es war nicht mehr auszuhalten.
          Ich zahlte und ging.
          Als ich die GlastØr hinter mir zumachen wollte, nahm mir jemand die Klinke aus der Hand - Ich drehte mich um:
          Wieder der Kerl!
          ärgerlich wollte ich nach links biegen, in der Richtung der Judenstadt zu, da drÄngte er sich an meine Seite und hinderte mich daran.
          "Da hÃrt denn doch alles auf!" schrie ich ihn an.
          "Nach rechts geht's," sagte er kurz.
          "Was soll das heiñen?"
          Er fixierte mich frech:
          "Sie sind der Pernath!"
          "Sie wollen wahrscheinlich sagen: Herr Pernath?"
          Er lachte nur hÄmisch:
          "Alsdann keine Faxen jetz! Sie gah'n Sie mit!"
          "Ja, sind Sie toll? Wer sind Sie eigentlich?", fuhr ich auf.
          Er gab keine Antwort, schlug seinen Rock zurØck und zeigte vorsichtig auf einen abgeschabten Blechadler, der im Futter festgesteckt war.
          Ich begriff: der Falott war Geheimpolizist und verhaftete mich.
          "So sagen Sie doch, um Himmels willen, was ist denn los?"
          "Sie werden sich's schonn erfahrrÄhn. Auf dem DÄpartemÄnt", erwiderte er grob. "Alla marsch jetz!"
          Ich schlug ihm vor, ich wollte einen Wagen nehmen.
          "Nix da!"
          Wir gingen zur Polizei.
          0x01 graphic

          Ein Gendarm fØhrte mich vor eine TØr.
          ALOIS OTSCHIN
          Polizeirat
          las ich auf der Porzellantafel.
          "Sie kÄnnen sich eintrÄtten", sagte der Gendarm.
          Zwei schmierige Schreibtische mit meterhohen AufsÄtzen standen einander gegenØber.
          Ein paar verkraxte StØhle dazwischen.
          Das Bild des Kaisers an der Wand.
          Ein Glas mit Goldfischen auf dem Fensterbrett.
          Sonst nichts im Zimmer.
          Ein Klumpfuñ und daneben ein dicker Filzschuh unter zerfransten grauen Hosen hinter dem linken Schreibpult.
          Ich hÃrte rascheln. Jemand murmelte ein paar Worte in bÃhmischer Sprache und gleich darauf tauchte der Herr Polizeirat aus dem rechten Schreibtisch auf und trat vor mich hin.
          Er war ein kleiner Mann mit grauem Spitzbart und hatte die sonderbare Manier, bevor er anfing zu reden, die ZÄhne zu fletschen wie jemand, der in grelles Sonnenlicht schaut.
          Dabei kniff er die Augen hinter den Brillenglasern zusammen, was ihm den Ausdruck furchterregender Niedertracht verlieh.
          "Sie heiñen Athanasius Pernath und sind" - er blickte auf ein Blatt Papier, auf dem nichts stand - "Gemmenschneider."
          Sofort kam Leben in den Klumpfuñ unter dem anderen Schreibtisch: er wetzte sich an dem Stuhlbein, und ich hÃrte das Rauschen einer Schreibfeder.
          Ich bejahte:
          "Pernath. Gemmenschneider."
          "No, da sin wir ja gleich beisammen, Herr - - - Pernath, - jawohl Pernath. Ja wohl ja." - Der Herr Polizeirat war mit einem Schlag von erstaunlicher LiebenswØrdigkeit, als hÄtte er die erfreulichste Nachricht von der Welt bekommen, streckte mir beide HÄnde entgegen und bemØhte sich in lÄcherlicher Weise, die Miene eines Biedermannes aufzusetzen.
          "Also, Herr Pernath, erzÄhlen Sie mir einmal, was treiben Sie so den ganzen Tag?"
          "Ich glaube, dañ Sie das nichts angeht, Herr Otschin", antwortete ich kalt.
          Er kniff die Augen zusammen, wartete einen Moment und fuhr blitzschnell los:
          "Seit wann hat die GrÄfin ihr VerhÄltnis mit dem Savioli?"
          Ich war auf etwas ähnliches gefañt gewesen und zuckte nicht mit der Wimper.
          Er suchte mich geschickt durch Kreuz- und Querfragen in WidersprØche zu verwickeln, aber, so sehr mir auch vor Entsetzen das Herz im Halse schlug, ich verriet mich nicht und kam immer wieder darauf zurØck, dañ ich den Namen Savioli nie gehÃrt hÄtte, mit Angelina von meinem Vater her befreundet sei, und dañ sie schon Ãfter Kameen bei mir bestellt habe.
          Ich fØhlte trotzdem genau, dañ der Polizeirat mir ansah, wie ich ihn belog, und innerlich schÄumte vor Wut, nichts aus mir herausbekommen zu kÃnnen.
          Er dachte eine Weile nach, dann zog er mich am Rock dicht an sich, deutete warnend mit dem Daumen auf den linken Schreibtisch und flØsterte mir ins Ohr:
          "Athanasius! Ihr seliger Vater war mein bester Freund. Ich will Sie retten, Athanasius! Aber Sie mØssen mir alles sagen Øber die GrÄfin. - HÃren Sie: alles."
          Ich begriff nicht, was das bedeuten sollte. "Was meinen Sie damit: Sie wollen mich retten?", fragte ich laut.
          Der Klumpfuñ stampfte Ärgerlich auf den Boden. Der Polizeirat wurde aschgrau im Gesicht vor Hañ. Zog die Lippe empor. Wartete. - Ich wuñte, dañ er gleich wieder losspringen wØrde; (sein VerblØffungssystem erinnerte mich an Wassertrum) und wartete ebenfalls, - sah, dañ ein Bocksgesicht, der Inhaber des Klumpfuñes, lauernd hinter dem Schreibpulte auftauchte - - dann schrie mich der Polizeirat plÃtzlich gellend an:
          "MÃrder".
          Ich war sprachlos vor VerblØffung.
          Miñmutig zog sich das Bocksgesicht wieder hinter sein Pult zurØck.
          Auch der Herr Polizeirat schien ziemlich betreten Øber meine Ruhe, versteckte es aber geschickt, indem er einen Stuhl herbeizog und mich aufforderte, Platz zu nehmen.
          "Sie verweigern also, Øber die GrÄfin die von mir gewØnschte Auskunft zu geben, Herr Pernath?"
          "Ich kann sie nicht geben, Herr Polizeirat, wenigstens nicht in dem Sinne, wie Sie erwarten. Erstens kenne ich niemand namens Savioli, und dann bin ich felsenfest Øberzeugt, dañ es eine Verleumdung ist, wenn man der GrÄfin nachsagt, sie hintergehe ihren Gatten."
          "Sind Sie bereit, das zu beeiden?"
          Mir stockte der Atem. "Ja! Jederzeit."
          "Gut. Hm."
          Eine lÄngere Pause entstand, wÄhrend der Polizeirat angestrengt nachzugrØbeln schien.
          Als er mich wieder anblickte, lag ein komÃdiantenhafter Zug von Schmerzlichkeit in seiner Fratze. UnwillkØrlich muñte ich an Charousek denken, wie er dann mit trÄnenerstickter Stimme anfing:
          "Mir kÃnnen Sie es doch sagen, Athanasius, - mir, dem alten Freund Ihres Vaters - mir, der Sie auf den Armen getragen hat -" ich konnte das Lachen kaum verbeiñen: er war hÃchstens zehn Jahre Älter als ich - "nicht wahr, Athanasius, es war Notwehr?"
          Das Bocksgesicht erschien abermals.
          "Was war Notwehr?", fragte ich verstÄndnislos.
          "Das mit dem - - - Zottmann!" schrie mir der Polizeirat einen Namen ins Gesicht.
          Das Wort traf mich wie ein Dolchstich: Zottmann! Zottmann! Die Uhr! Der Name Zottmann stand doch in der Uhr eingraviert.
          Ich fØhlte, wie mir alles Blut zum Herzen strÃmte: Der grauenhafte Wassertrum hatte mir die Uhr gegeben, um den Verdacht des Mordes auf mich zu lenken.
          Sofort warf der Polizeirat die Maske ab, fletschte die ZÄhne und kniff die Augen zusammen:
          "Sie gestehen also den Mord ein, Pernath?"
          "Das ist alles ein Irrtum. Ein entsetzlicher Irrtum. Um Gottes willen hÃren Sie mich an. Ich kann es Ihnen erklÄren, Herr Polizeirat - -!", schrie ich.
          "Werden Sie mir jetzt alles mitteilen in bezug auf die Frau GrÄfin", unterbrach er mich rasch: "ich mache Sie aufmerksam: Sie verbessern Ihre Lage damit."
          "Ich kann nicht mehr sagen, als bereits geschehen ist: die GrÄfin ist unschuldig."
          Er biñ die ZÄhne zusammen und wandte sich an das Bocksgesicht:
          "Schreiben Sie: - Also, Pernath gesteht den Mord an dem Versicherungsbeamten Karl Zottmann ein."
          Mich packte eine besinnungslose Wut.
          "Sie Polizeikanaille!" brØllte ich los, "was unterstehen Sie sich?!"
          Ich suchte nach einem schweren Gegenstand.
          Im nÄchsten Augenblick hatten mich zwei Schutzleute gepackt und mir Handschellen angelegt.
          Der Polizeirat blÄhte sich jetzt wie der Hahn auf dem Mist:
          "Und die Uhr da?", - er hielt plÃtzlich die verbeulte Uhr in der Hand, - "hat der unglØckliche Zottmann noch gelebt, als Sie ihn beraubten, oder nicht?"
          Ich war wieder ganz ruhig geworden und gab mit klarer Stimme zu Protokoll: "Die Uhr hat mir heute vormittag der TrÃdler Aaron Wassertrum - geschenkt."
          Ein wieherndes GelÄchter brach los, und ich sah, wie der Klumpfuñ und der Filzpantoffel mitsammen einen Freudentanz unter dem Schreibtisch auffØhrten.

    Qual


          Die HÄnde gefesselt, hinter mir ein Gendarm mit aufgepflanztem Bajonett, muñte ich durch die abendlich beleuchteten Strañen gehen.
          Gassenjungen zogen in Scharen johlend links und rechts mit, Weiber rissen die Fenster auf, drohten mit KochlÃffeln herunter und schimpften hinter mir drein.
          Schon von weitem sah ich den massigen SteinwØrfel des GerichtsgebÄudes mit der Inschrift auf dem Giebel herannahen:
          "Die strafende Gerechtigkeit ist die Beschirmung aller Braven."
          Dann nahm mich ein riesiges Tor auf und ein Flurzimmer, in dem es nach KØche stank.
          Ein vollbÄrtiger Mann mit SÄbel, Beamtenrock und -mØtze, barfuñ und die Beine in langen, um die KnÃchel zusammengebundenen Unterhosen, stand auf, stellte die KaffeemØhle, die er zwischen den Knien hielt, weg und befahl mir, mich auszuziehen.
          Dann visitierte er meine Taschen, nahm alles heraus, was er darin fand, und fragte mich, ob ich - Wanzen hÄtte.
          Als ich verneinte, zog er mir die Ringe von den Fingern und sagte, es sei gut, ich kÃnnte mich wieder ankleiden.
          Man fØhrte mich mehrere Stockwerke hinauf und durch GÄnge, in denen vereinzelt groñe, graue, verschlieñbare Kisten in den Fensternischen standen.
          Eiserne TØren mit Riegelstangen und kleinen, vergitterten Ausschnitten, Øber jedem eine Gasflamme, zogen sich in ununterbrochener Reihe die Wand entlang.
          Ein hØnenhafter, soldatisch aussehender GefangenwÄrter - das erste ehrliche Gesicht seit Stunden - sperrte eine der TØren auf, schob mich in eine dunkle, schrankartige, pestilenzialisch stinkende ãffnung und schloñ hinter mir ab.
          Ich stand in vollkommener Finsternis und tappte mich zurecht.
          Mein Knie stieñ an einen BlechkØbel.
          Endlich erwischte ich - der Raum war so eng, dañ ich mich kaum umdrehen konnte - eine Klinke, und stand in - einer Zelle.
          Je zwei und zwei Pritschen mit StrohsÄcken an den Mauern.
          Der Durchgang dazwischen nur einen Schritt breit.
          Ein Quadratmeter Gitterfenster hoch oben in der Querwand lieñ den matten Schein des Nachthimmels herein.
          UnertrÄgliche Hitze, vom Geruch alter Kleider verpestete Luft erfØllte den Raum.
          Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewÃhnt hatten, sah ich, dañ auf drei der Pritschen - die vierte war leer - Menschen in grauen StrÄflingskleidern sañen; die Arme auf die Knie gestØtzt und die Gesichter in den HÄnden vergraben.
          Keiner sprach ein Wort.
          Ich setzte mich auf das leere Bett und wartete. Wartete. Wartete.
          Eine Stunde.
          Zwei - drei Stunden!
          Wenn ich drauñen einen Schritt zu hÃren glaubte, fuhr ich auf:
          Jetzt, jetzt kam man mich holen, um mich dem Untersuchungsrichter vorzufØhren.
          Jedesmal war es eine TÄuschung gewesen. Immer wieder verloren sich die Schritte auf dem Gang.
          Ich riñ mir den Kragen auf - glaubte, ersticken zu mØssen.
          Ich hÃrte, wie ein Gefangener nach dem andern sich Ächzend ausstreckte.
          "Kann man denn das Fenster da oben nicht aufmachen?", fragte ich voll Verzweiflung laut in die Dunkelheit hinein. Ich erschrak fast vor meiner eigenen Stimme.
          "Es geht net", antwortete es mØrrisch von einem der StrohsÄcke herØber.
          Ich tastete trotzdem mit der Hand an der Schmalwand entlang: ein Brett in BrusthÃhe lief quer hin - - - zwei WasserkrØge - - - StØcke von Brotrinden.
          MØhsam kletterte ich hinauf, hielt mich an den GitterstÄben und preñte das Gesicht an die Fensterritzen, um wenigstens etwas frische Luft zu atmen.
          0x01 graphic

          So stand ich, bis mir die Knie zitterten. EintÃniger, schwarzgrauer Nachtnebel vor meinen Augen.
          Die kalten EisenstÄbe schwitzten.
          Es muñte bald Mitternacht sein.
          Hinter mir hÃrte ich schnarchen. Nur einer schien nicht schlafen zu kÃnnen: er warf sich hin und her auf dem Stroh und stÃhnte manchmal halblaut auf.
          Wollte denn der Morgen nicht endlich kommen?! Da! Es schlug wieder.
          Ich zÄhlte mit bebenden Lippen:
          Eins, zwei, drei! - Gott sei Dank, nur noch wenige Stunden, dann muñte die DÄmmerung kommen. Es schlug weiter:
          Vier? fØnf? - Der Schweiñ trat mir auf die Stirn. - Sechs!! - Sieben - - - es war elf Uhr.
          Erst eine Stunde war vergangen, seit ich das letzte Mal hatte schlagen hÃren.
          0x01 graphic

          AllmÄhlich legten sich meine Gedanken zurecht:
          Wassertrum hat mir die Uhr des vermiñten Zottmann zugespielt, um mich in Verdacht zu bringen, einen Mord begangen zu haben. - Er muñte also selbst der MÃrder sein; wie hÄtte er sonst in den Besitz der Uhr kommen kÃnnen? WØrde er die Leiche irgendwo gefunden und dann erst beraubt haben, hÄtte er sich bestimmt die tausend Gulden Belohnung geholt, die fØr die Entdeckung des Vermiñten Ãffentlich ausgesetzt waren. - Das konnte aber nicht sein: die Plakate klebten noch immer an den Strañenecken, wie ich deutlich auf meinem Weg ins GefÄngnis gesehen hatte. - - -
          Dañ der TrÃdler mich angezeigt haben muñte, war klar.
          Ebenso: dañ er mit dem Polizeirat, wenigstens was Angelina betraf, unter einer Decke steckte. Wozu sonst das VerhÃr wegen Savioli?
          Andererseits ging daraus hervor, dañ Wassertrum Angelinas Briefe noch nicht in HÄnden hatte.
          Ich grØbelte nach - - -
          Mit einem Schlag stand alles mit entsetzlicher Deutlichkeit vor mir, als wÄre ich selbst dabei gewesen.
          Ja; nur so konnte es sein: Wassertrum hatte meine eiserne Kassette, in der er Beweise vermutete, heimlich an sich genommen, als er gerade mit seinen Polizeikomplizen meine Wohnung durchstÃberte, - konnte sie nicht sogleich Ãffnen, da ich den SchlØssel bei mir trug, und war - - - vielleicht gerade jetzt daran, sie in seiner HÃhle aufzubrechen.
          In wahnsinniger Verzweiflung rØttelte ich an den GitterstÄben, sah Wassertrum im Geiste vor mir, wie er in Angelinas Briefen wØhlte -
          Wenn ich nur Charousek benachrichtigen kÃnnte, dañ er Savioli wenigstens rechtzeitig warnen ging!
          Einen Augenblick klammerte ich mich an die Hoffnung, meine Verhaftung mØsse bereits wie ein Lauffeuer in der Judenstadt bekannt geworden sein, und ich vertraute auf Charousek wie auf einen rettenden Engel. Gegen seine infernalische Schlauheit kam der TrÃdler nicht auf; "Ich werde ihn genau in der Stunde an der Gurgel haben, in der er Dr. Savioli an den Hals will", hatte Charousek schon einmal gesagt.
          In der nÄchsten Minute wieder verwarf ich alles, und eine wilde Angst packte mich: Wie, wenn Charousek zu spÄt kam?
          Dann war Angelina verloren. - - -
          Ich biñ mir die Lippen blutig und zerkrallte mir die Brust aus Reue, dañ ich die Briefe damals nicht sofort verbrannt hatte; - - - ich schwor es mir zu, Wassertrum noch in derselben Stunde aus der Welt zu schaffen, wo ich wieder auf freiem Fuñ sein wØrde.
          Ob ich von eigener Hand starb oder am Galgen - was lag mir daran!
          Dañ der Untersuchungsrichter meinen Worten glauben wØrde, wenn ich ihm die Geschichte mit der Uhr plausibel machte, ihm von Wassertrums Drohungen erzÄhlte, - keinen Augenblick zweifelte ich daran.
          Bestimmt morgen schon muñte ich frei sein; zumindest wØrde das Gericht auch Wassertrum wegen Mordverdachts verhaften lassen.
          Ich zÄhlte die Stunden und betete, dañ sie rascher vergehen mÃchten; starrte hinaus in den schwÄrzlichen Dunst.
          Nach unsÄglich langer Zeit fing es endlich an, heller zu werden, und zuerst wie ein dunkler Fleck, dann immer deutlicher, tauchte ein kupfernes, riesiges Gesicht aus dem Nebel: das Zifferblatt einer alten Turmuhr. Doch die Zeiger fehlten; - neuerliche Qual.
          Dann schlug es fØnf.
          Ich hÃrte, wie die Gefangenen erwachten und gÄhnend eine Unterhaltung in bÃhmischer Sprache fØhrten.
          Eine Stimme kam mir bekannt vor; ich drehte mich um, stieg von dem Brett herunter und - sah den blatternarbigen Loisa auf der Pritsche, gegenØber der meinigen, sitzen und mich verwundert anstarren.
          Die beiden anderen waren Gesellen mit verwegenen Gesichtern und musterten mich geringschÄtzig.
          "Defraudant? Was?", fragte der eine halblaut seinen Kameraden und stieñ ihn mit dem Ellenbogen an.
          Der Gefragte brummte irgend etwas verÄchtlich, kramte in seinem Strohsack, holte ein schwarzes Papier hervor und legte es auf den Boden.
          Dann schØttete er aus dem Krug ein wenig Wasser darauf, kniete nieder, bespiegelte sich darin und kÄmmte sich mit den Fingern das Haar in die Stirn.
          Hierauf trocknete er das Papier mit zÄrtlicher Sorgfalt ab und versteckte es wieder unter der Pritsche.
          "Pan Pernath, Pan Pernath", murmelte Loisa dabei bestÄndig mit aufgerissenen Augen vor sich hin, wie jemand, der ein Gespenst sieht.
          "Die Herrschaften kennen einand, wie ich bemerkÃ", sagte der UngekÄmmte, dem dies auffiel, in dem geschraubten Dialekt eines tschechischen Wieners und machte mir spÃttisch eine halbe Verbeugung: "Erlaubens mich vorzustellen: VÕssatka ist mein Name. Der schwarze VÕssatka. - Brandstiftung", setzte er eine Oktave tiefer stolz hinzu.
          Der Frisierte spuckte zwischen den ZÄhnen durch, blickte mich eine Weile verÄchtlich an, deutete sich dann auf die Brust und sagte lakonisch:
          "Einbruch."
          Ich schwieg.
          "No, und zweng wos fØr einen Verdachtà sin Sie hier, Herr Graf?" fragte der Wiener nach einer Pause.
          Ich Øberlegte einen Moment, dann sagte ich ruhig: "Wegen Raubmord".
          Die beiden fuhren verblØfft auf, der spÃttische Ausdruck auf ihren Gesichtern machte einer Miene grenzenloser Hochachtung Platz, und sie riefen fast wie aus einem Munde:
          "RÄschpÄkt, RÄschpÄkt."
          Als sie sahen, dañ ich keine Notiz von ihnen nahm, zogen sie sich in die Ecke zurØck und unterhielten sich flØsternd miteinander.
          Nur einmal stand der Frisierte auf, kam zu mir, prØfte schweigend die Muskeln meines Oberarms und ging dann kopfschØttelnd zu seinem Freund zurØck.
          "Sie sind doch auch unter dem Verdacht hier, den Zottmann ermordet zu haben?" fragte ich Loisa unauffÄllig.
          Er nickte. "Ja, schon lang."
          Wieder vergingen einige Stunden.
          Ich schloñ die Augen und stellte mich schlafend.
          "Herr Pernath. Herr Pernath!" hÃrte ich plÃtzlich ganz leise Loisas Stimme.
          "Ja?" - - - Ich tat, als erwachte ich.
          "Herr Pernath?, bitte entschuldigen Sie, - bitte - bitte, wissen Sie nicht, was die Rosina macht? - Ist sie zu Hause?", stotterte der arme Bursche. Er tat mir unendlich leid, wie er mit seinen entzØndeten Augen an meinen Lippen hing und vor Aufregung die HÄnde verkrampfte.
          "Es geht ihr gut. Sie - sie ist jetzt Kellnerin beim - - alten Ungelt", log ich.
          Ich sah, wie er erleichtert aufatmete.
          0x01 graphic

          Zwei StrÄflinge hatten auf einem Brett BlechtÃpfe mit heiñem Wurstabsud stumm hereingebracht und drei davon in die Zelle gestellt, dann knallten nach einigen Stunden abermals die Riegel und der Aufseher fØhrte mich zum Untersuchungsrichter.
          Mir schlotterten die Knie vor Erwartung, wie wir treppauf, treppab schritten.
          "Glauben Sie, ist es mÃglich, dañ ich heute noch freigelassen werde?", fragte ich den Aufseher beklommen.
          Ich sah, wie er mitleidig ein LÄcheln unterdrØckte. "Hm. Heute noch? Hm - - Gott, - mÃglich ist ja alles." -
          Mir wurde eiskalt.
          Wieder las ich eine Porzellantafel an einer TØr und einen Namen:

    KARL FREIHERR VON LEISETRETER

    Untersuchungsrichter


          Wieder ein schmuckloses Zimmer und zwei Schreibpulte mit meterhohen AufsÄtzen.
          Ein alter, groñer Mann mit weiñem, geteiltem Vollbart, schwarzem Gehrock, roten, wulstigen Lippen, knarrenden Stiefeln.
          "Sie sind Herr Pernath?"
          "Jawohl."
          "Gemmenschneider?"
          "Jawohl."
          "Zelle Nr. 70?"
          "Jawohl."
          "Des Mordes an Zottmann verdÄchtig?"
          "Ich bitte, Herr Untersuchungsrichter - -"
          "Des Mordes an Zottmann verdÄchtig?"
          "Wahrscheinlich. Wenigstens vermute ich es. Aber - -"
          "GestÄndig?"
          "Was soll ich denn gestehen, Herr Untersuchungsrichter, ich bin doch unschuldig!"
          "GestÄndig?"
          "Nein."
          "Dann verhÄnge ich Untersuchungshaft Øber Sie. - FØhren Sie den Mann hinaus, GefangenwÄrter."
          "Bitte, so hÃren Sie mich doch an, Herr Untersuchungsrichter, - ich muñ unbedingt heute noch zu Hause sein. Ich habe wichtige Dinge zu veranlassen - -"
          Hinter dem zweiten Schreibtisch meckerte jemand.
          Der Herr Baron schmunzelte. -
          "FØhren Sie den Mann hinaus, GefangenwÄrter."
          0x01 graphic

          Tag um Tag schlich dahin, Woche um Woche, und immer noch sañ ich in der Zelle.
          Um zwÃlf Uhr durften wir tÄglich hinunter in den GefÄngnishof und mit anderen Untersuchungsgefangenen und StrÄflingen zu zweit 40 Minuten im Kreis herumgehen auf der nassen Erde.
          Miteinander zu reden, war verboten.
          In der Mitte des Platzes stand ein kahler, sterbender Baum, in dessen Rinde ein ovales Glasbild der Muttergottes eingewachsen war.
          An den Mauern wuchsen kØmmerliche Ligusterstauden, die BlÄtter fast schwarz vom fallenden Ruñ.
          Ringsum die Gitter der Zellen, aus denen zuweilen ein kittgraues Gesicht mit blutleeren Lippen herunterschaute.
          Dann ging's wieder hinauf in die gewohnten GrØfte zu Brot, Wasser und Wurstabsud und sonntags zu faulenden Linsen.
          Erst einmal war ich wieder vernommen worden:
          Ob ich Zeugen hÄtte, dañ mir "Herr" Wassertrum angeblich die Uhr geschenkt habe?
          "Ja: Herrn Schemajah Hillel - - das heiñt - nein" (ich erinnerte mich, er war nicht dabei gewesen) - - "aber Herr Charousek" - (nein, auch er war ja nicht dabei).
          "Kurz: also niemand war dabei?"
          "Nein, niemand war dabei, Herr Untersuchungsrichter."
          Wieder das Gemecker hinter dem Schreibtisch und wieder das:
          "FØhren Sie den Mann hinaus, GefangenwÄrter!" - - -
          Meine Besorgnis um Angelina war einer dumpfen Resignation gewichen: Der Zeitpunkt, wo ich um sie zittern muñte, war vorØber. Entweder Wassertrums Racheplan war lÄngst geglØckt, oder Charousek hatte eingegriffen, sagte ich mir.
          Aber die Sorge um Mirjam trieb mich jetzt fast zum Wahnsinn.
          Ich stellte mir vor, wie sie Stunde um Stunde darauf wartete, dañ sich das Wunder erneuere, - wie sie frØh am Morgen, wenn der BÄcker kam, hinauslief und mit bebenden HÄnden das Brot untersuchte, - wie sie vielleicht um meinetwillen vor Angst verging.
          Oft in der Nacht peitschte es mich aus dem Schlaf, und ich stieg auf das Wandbrett und starrte empor zu dem kupfernen Gesicht der Turmuhr und verzehrte mich in dem Wunsch, meine Gedanken mÃchten zu Hillel dringen und ihm ins Ohr schreien, er solle Mirjam helfen und sie erlÃsen von der Qual des Hoffens auf ein Wunder.
          Dann wieder warf ich mich auf das Stroh und hielt den Atem an, bis mir die Brust fast zersprang, - um das Bild meines DoppelgÄngers vor mich zu zwingen, damit ich ihn zu ihr schicken kÃnnte als einen Trost.
          Und einmal war er auch erschienen neben meinem Lager mit den Buchstaben: Chabrat Zereh Aur Bocher in Spiegelschrift auf der Brust, und ich wollte aufschreien vor Jubel, dañ jetzt alles wieder gut wØrde, aber er war in den Boden versunken, noch ehe ich ihm den Befehl geben konnte, Mirjam zu erscheinen. - - -
          Dañ ich so gar keine Nachricht bekam von meinen Freunden!
          Ob es denn verboten sei, einem Briefe zu schicken? fragte ich meine Zellengenossen.
          Sie wuñten es nicht.
          Sie hÄtten noch nie welche bekommen - allerdings wÄre auch niemand da, der ihnen schreiben kÃnnte, sagten sie.
          Der GefangenwÄrter versprach mir, sich gelegentlich zu erkundigen.
          Meine NÄgel waren rissig geworden vom Abbeiñen und mein Haar verwildert, denn Schere, Kamm und BØrste gab es nicht.
          Auch kein Wasser zum Waschen.
          Fast ununterbrochen kÄmpfte ich mit Brechreiz, denn der Wurstabsud war mit Soda gewØrzt statt mit Salz. - - Eine GefÄngnisvorschrift, um dem "øberhandnehmen des Geschlechtstriebs vorzubeugen."
          Die Zeit verging in grauer, furchtbarer EintÃnigkeit.
          Drehte sich wie im Kreis wie ein Rad der Qual.
          Da gab es die gewissen Momente, die jeder von uns kannte, wo plÃtzlich einer oder der andere aufsprang und stundenlang auf und nieder lief wie ein wildes Tier, um sich dann wieder gebrochen auf die Pritsche fallen zu lassen und stumpfsinnig weiter zu warten - zu warten - zu warten.
          Wenn der Abend kam, zogen die Wanzen in Scharen gleich Ameisen Øber die WÄnde und ich fragte mich erstaunt, warum denn der Kerl in SÄbel und Unterhosen mich so gewissenhaft ausgeforscht habe, ob ich kein Ungeziefer hÄtte.
          FØrchtete man vielleicht im Landesgericht, es kÃnne eine Kreuzung fremder Insektenrassen entstehen?
          Mittwoch vormittags kam gewÃhnlich ein Schweinskopf herein mit Schlapphut und zuckenden Hosenbeinen: der GefÄngnisarzt Dr. Rosenblatt, und Øberzeugte sich, dañ alle vor Gesundheit strotzten.
          Und wenn einer sich beschwerte, gleichgØltig worØber, so verschrieb er - Zinksalbe zum Einreiben der Brust.
          Einmal kam auch der LandgerichtsprÄsident mit - ein hochgewachsener, parfØmierter Halunke der "guten Gesellschaft", dem die gemeinsten Laster im Gesicht geschrieben standen, und sah nach, ob - alles in Ordnung sei: "ob sich noch immer kaner derhenkt hobe", wie sich der Frisierte ausdrØckte.
          Ich war auf ihn zugetreten, um ihm eine Bitte vorzutragen, da hatte er einen Satz hinter den GefangenwÄrter gemacht und mir einen Revolver vorgehalten. - "Was ich denn wolle", schrie er mich an.
          Ob Briefe fØr mich da seien, fragte ich hÃflich. Statt der Antwort bekam ich einen Stoñ vor die Brust vom Herrn Dr. Rosenblatt, der gleich darauf das Weite suchte. Auch der Herr PrÄsident zog sich zurØck und hÃhnte durch den TØrausschnitt: - ich solle lieber den Mord gestehen. Eher bekÄme ich in diesem Leben keine Briefe.
          0x01 graphic

          Ich hatte mich lÄngst an die schlechte Luft und die Hitze gewÃhnt und frÃstelte bestÄndig. Selbst, wenn die Sonne schien.
          Zwei der Gefangenen hatten schon einige Male gewechselt, aber ich achtete nicht darauf. Diese Woche waren es ein Taschendieb und ein Wegelagerer, das nÄchste Mal ein FalschmØnzer oder ein Hehler, die hereingefØhrt wurden.
          Was ich gestern erlebte, war heute vergessen.
          Gegen das WØhlen der Sorge um Mirjam verblañten alle Äuñeren Begebenheiten.
          Nur ein Ereignis hatte sich mir tiefer eingeprÄgt - es verfolgte mich zuweilen als Zerrbild bis in den Traum:
          Ich hatte auf dem Wandbrett gestanden, um hinauf in den Himmel zu starren, da fØhlte ich plÃtzlich, dañ mich ein spitzer Gegenstand in die HØfte stach, und als ich nachsah, bemerkte ich, dañ es die Feile gewesen war, die sich mir durch die Tasche zwischen Rock und Futter gebohrt hatte. Sie muñte schon lange dort gesteckt haben, sonst hÄtte sie der Mann in der Flurstube gewiñ bemerkt.
          Ich zog sie heraus und warf sie achtlos auf meinen Strohsack.
          Als ich dann herunterstieg, war sie verschwunden, und ich zweifelte keinen Augenblick, dañ nur Loisa sie genommen haben konnte.
          Einige Tage spÄter holte man ihn aus der Zelle, um ihn einen Stock tiefer unterzubringen.
          Es dØrfe nicht sein, dañ zwei Untersuchungsgefangene, die desselben Verbrechens beschuldigt wÄren, wie er und ich, in der gleichen Zelle sÄñen, hatte der GefangenwÄrter gesagt.
          Aus ganzem Herzen wØnschte ich, es mÃchte dem armen Burschen gelingen, sich mit Hilfe der Feile zu befreien.

    Mai


          Auf meine Frage, welches Datum denn wÄre - die Sonne schien so warm wie im Hochsommer und der mØde Baum im Hof trieb ein paar Knospen - hatte der GefangenwÄrter zuerst geschwiegen, dann aber mir zugeflØstert, es sei der 15. Mai. Eigentlich dØrfe er es nicht sagen, denn es sei verboten, mit den Gefangenen zu sprechen, - insbesondere solche, die noch nicht gestanden hÄtten, mØñten hinsichtlich der Zeit im unklaren gehalten werden.
          Drei volle Monate war ich also schon im GefÄngnis und noch immer keine Nachricht aus der Welt da drauñen!
          0x01 graphic

          Wenn es Abend wurde, drangen leise KlÄnge eines Klaviers durch das Gitterfenster, das jetzt an warmen Tagen offen war.
          Die Tochter des Beschlieñers unten spiele, hatte mir ein StrÄfling gesagt.
          Tag und Nacht trÄumte ich von Mirjam.
          Wie es ihr wohl ging?!
          Zuzeiten hatte ich das trÃstliche GefØhl, als seien meine Gedanken zu ihr gedrungen und stØnden an ihrem Bette, wÄhrend sie schlief, und legten ihr lindernd die Hand auf die Stirne.
          Dann wieder, in Momenten der Hoffnungslosigkeit, wenn einer nach dem andern meiner Zellengenossen zum VerhÃr gefuhrt wurde, - nur ich nicht, - drosselte mich eine dumpfe Furcht, sie sei vielleicht schon lange tot.
          Da stellte ich dann Fragen an das Schicksal, ob sie noch lebe oder nicht, krank sei oder gesund, und die Anzahl einer Handvoll Halme, die ich aus dem Strohsack riñ, sollte mir Antwort geben.
          Und fast jedesmal "ging es schlecht aus", und ich wØhlte in meinem Innern nach einem Blick in die Zukunft; - suchte meine Seele, die mir das Geheimnis verbarg, zu Øberlisten durch die scheinbar abseits liegende Frage, ob wohl fØr mich dereinst noch ein Tag kommen wØrde, wo ich heiter sein und wieder lachen kÃnnte.
          Immer bejahte das Orakel in solchen FÄllen, und dann war ich eine Stunde lang glØcklich und froh.
          Wie eine Pflanze heimlich wÄchst und sproñt, war allmÄhlich in mir eine unbegreifliche, tiefe Liebe zu Mirjam erwacht, und ich fañte es nicht, dañ ich so oft hatte bei ihr sitzen und mit ihr reden kÃnnen, ohne mir damals schon klar darØber geworden zu sein.
          Der zitternde Wunsch, dañ auch sie mit gleichen GefØhlen an mich denken mÃchte, steigerte sich in solchen Augenblicken oft bis zur Ahnung der Gewiñheit, und wenn ich dann auf dem Gange drauñen einen Schritt hÃrte, fØrchtete ich mich beinahe davor, man kÃnnte mich holen und freilassen und mein Traum wØrde in der groben Wirklichkeit der Auñenwelt in nichts zerrinnen.
          Mein Ohr war in der langen Zeit der Haft so scharf geworden, dañ ich auch das leiseste GerÄusch vernahm.
          Jedesmal bei Anbruch der Nacht hÃrte ich in der Ferne einen Wagen fahren und zergrØbelte mir den Kopf, wer wohl dann sitzen mÃchte.
          Es lag etwas seltsam Fremdartiges in dem Gedanken, dañ es Menschen gab da drauñen, die tun und lassen durften, was sie wollten, - die sich frei bewegen konnten und da und dort hingehen, und es dennoch nicht als unbeschreiblichen Jubel empfanden.
          Dañ auch ich jemals wieder so glØcklich werden wØrde, im Sonnenschein durch die Strañen wandern zu kÃnnen; - - ich war nicht mehr imstande, es mir vorzustellen.
          Der Tag, an dem ich Angelina in den Armen gehalten, schien mir einem lÄngstverflossenen Dasein anzugehÃren; - ich dachte daran zurØck mit jener leisen Wehmut, wie sie einen beschleicht, wenn man ein Buch aufschlÄgt und findet dann welke Blumen, die einst die Geliebte der Jugendjahre getragen hat.
          Ob wohl der alte Zwakh noch immer Abend fØr Abend mit Vrieslander und Prokop beim "Ungelt" sañ und der vertrockneten Eulalia das Hirn konfus machte?
          Nein, es war doch Mai: - die Zeit, wo er mit seinem Marionettenkasten durch die Provinznester zog und auf grØnen Wiesen vor den Toren den Ritter Blaubart spielte.
          0x01 graphic

          Ich sañ allein in der Zelle. - VÕssatka, der Brandstifter, mein einziger GefÄhrte seit einer Woche, war vor ein paar Stunden zum Untersuchungsrichter geholt worden.
          MerkwØrdig lange dauerte diesmal sein VerhÃr.
          Da. Die eiserne Vorlegestange klirrte an der TØr. Und mit freudestrahlender Miene stØrmte VÕssatka herein, warf ein BØndel Kleider auf die Pritsche und begann, sich mit Windeseile umzukleiden.
          Den StrÄflingsanzug warf er StØck fØr StØck mit einem Fluch auf den Boden.
          "Nix hamms mer beweisen kÃnna, dà Hallodri. - Brandstiftung! - Ja doder -" er zog mit dem Zeigefinger an seinem unteren Augenlid. "Auf den schwarzen VÕssatka sans jung. - Der Wind war's, hab i g'sagt. Und bi fest blimm. Den kennens iazt eispirrn, wanns'n derwischen - den Herrn von Wind. - No servus heit abend! - Do werd aufdraht. Beim Loisitschek." - Er breitete die Arme aus und tanzte einen "G'strampften". - "Nur einmahl im LebÃhn blie-het der Mai." Er stØlpte sich mit einem Krach einen steifen Deckel mit einer kleinen blaugesprenkelten NuñhÄherfeder darauf Øber den SchÄdel. - "Ja, richtig, das wird Ihna intrissirn, Herr Graf: wissens was Neies? Eana Freund, der Loisa, is ausbrochen! - Grad hab i's erfahrehn oben bei die Hallodri. Schon vurigen Monat - gegen Uldimoh hat er das Weide gesucht und ist lÄngst ieber - pbhuit" - er schlug sich mit den Fingern auf den HandrØcken - "ieber alle BergÃh." -
          "Aha, die Feile", dachte ich mir und lÄchelte.
          "Alsdann haltens Ihna jetzt auch bald dazu, Herr Graf," der Brandstifter streckte mir kameradschaftlich die Hand hin, "dañ Sie mÃglichst bei ZeitÃhn freikommen. - Und wenn Sie mal kein Geld nicht habehn, fragen Sie sich nur beim Loisitschek nach dem schwarzen VÕssatka. - Kennte mich jedes MÄdel durten. So! - Alsdann Servus, Herr Graf. War mir ein Vergniegen."
          Er stand noch in der TØre, da schob der WÄrter schon einen neuen Untersuchungsgefangenen in die Zelle.
          Auf den ersten Blick erkannte ich in ihm den Schlot mit der SoldatenmØtze, der einmal neben mir bei Regenwetter in dem Torbogen der Hahnpañgasse gestanden hatte. Eine freudige øberraschung! Vielleicht wuñte er zufÄllig etwas Øber Hillel und Zwakh und alle die andern?
          Ich wollte sofort anfangen, ihn auszufragen, aber zu meinem grÃñten Erstaunen legte er mit geheimnisvoller Miene den Finger an den Mund und bedeutete mir, ich solle schweigen.
          Erst als die TØr von auñen abgesperrt und der Schritt des GefangenwÄrters auf dem Gange verhallt war, kam Leben in ihn.
          Mir schlug das Herz vor Aufregung.
          Was sollte das bedeuten?
          Kannte er mich denn, und was wollte er?
          Das erste, was der Schlot tat, war, dañ er sich niedersetzte und seinen linken Stiefel auszog.
          Dann zerrte er mit den ZÄhnen einen StÃpsel aus dem Absatz, entnahm dem entstandenen Hohlraum ein kleines gebogenes Eisenblech, riñ die anscheinend nur locker befestigte Schuhsohle ab und reichte mir beides mit stolzer Miene hin. -
          Alles in Windeseile und ohne auf meine erregten Fragen auch nur im geringsten zu achten.
          "So! Einen schÃnen Gruñ vom Herrn Charousek."
          Ich war so verblØfft, dañ ich kein Wort herausbringen konnte. -
          "Brauchens' bloñ Eisenblechl nÄhmen und Sohlen ausanand brechen in der Nacht. Oder wann sunst niemand siecht. - Ise nÄmlich hohl inewÄndig" - erklÄrte der Schlot mit Øberlegener Miene, "und finden Sie sich drinn eine Brieffel von Herrn Charousek."
          Im øbermañ meines EntzØckens fiel ich dem Schlot um den Hals, und die TrÄnen stØrzten mir aus den Augen.
          Er wehrte mich voll Milde ab und sagte vorwurfsvoll:
          "Missen sich mehr zusammennÄhmen, Herr von Pernath! Mir habens me nicht eine Minutten zum Zeitverlieren. Es kann sich soffort herauskommen, dañ ich in der falschen Zellen bin. Der Franzl und ich habens me unt beim PordjÃh die Nummern mitsamm vertauscht." -
          Ich muñte wohl ein sehr dummes Gesicht gemacht haben, denn der Schlot fuhr fort:
          "Wann Sie das auch nicht verstÄhn, macht nix. Kurz: ich bin hier, Pasta!"
          "Sagen Sie doch," fiel ich ihm ins Wort, "sagen Sie doch, Herr - - Herr - - -"
          "Wenzel," - half mir der Schlot aus, "ich heiñe der schÃne Wenzel."
          "Sagen Sie mir doch, Wenzel, was macht der Archivar Hillel, und wie geht es seiner Tochter?"
          "Dazu ist jetz keine Zeit nicht", unterbrach mich der schÃne Wenzel ungeduldig. "Ich kann ich doch im nÄxen Augenblick herausgeschmissen werden. - Also: ich bin ich hier, weil ich einen Raubanfall extra eingestanden hab - -"
          "Was, Sie haben bloñ meinetwegen, und um zu mir kommen zu kÃnnen, einen Raubanfall begangen, Wenzel?" fragte ich erschØttert.
          Der Schlot schØttelte verÄchtlich den Kopf: "Wenn ich wirklich einen Raub anf all begangen hÄtt, mecht ich ihm doch nicht eingestÄhen. Was glauben Sie von mir!?"
          Ich verstand allmÄhlich: - der brave Kerl hatte eine List gebraucht, um mir den Brief Charouseks ins GefÄngnis zu schmuggeln.
          "So; zuverderscht" - er machte ein Äuñerst wichtiges Gesicht - "muñ ich Ihnen Unterricht in der Ebilebsie gÄben."
          "Worin?"
          "In der Ebilebsie! - GÄbm S' amal scharf Obacht und merkens Ihna alles genau! - Alsdann schaugens hÄr: Zuerscht macht me Speichel in der Goschen;" - er blies die Backen auf und bewegte sie hin und her, wie jemand, der sich den Mund ausspØlt - "dann kriegt me Schaum vorm Maul, sengen S' so": - er machte auch dies. Mit widerwÄrtiger NatØrlichkeit. "Nachhe drehte ma die Daumen in die Faust. - Nachhe kugelt me die Augen raus" - er schielte entsetzlich - "und dann - das ise sich bisl schwÄr - stoñt me so halbeten Schrei aus. Segen S', so: Bà - bà - bÃ, und gleichzeitig fallt me sich um." Er lieñ sich der LÄnge nach zu Boden fallen, dañ das Haus zitterte, und sagte beim Aufstehen:
          "Das ise sich die natierliche Ebilebsie, wie's uns der Dr. Hulbert gottsÄlig beim 'Bataljohn' gelernt hat."
          "Ja, ja, es ist tÄuschend Ähnlich," gab ich zu, "aber wozu dient das alles?"
          "Weil Sie sich zuerscht aus der Zellen rausmissen!", erklÄrte der schÃne Wenzel. "Der Dr. Rosenblatt is doch ein Mordsochs! Wenn einer schon gar kan Kopf mehr hat, sagt der Rosenblatt immer noch: der Mann ise sich pumperlgesund! - Nur vor die Ebilebsie hat e' an ViechsrÄschpÄkt. Wann aner daas gut kann: gleich ise drieben in der Krankenzelle. - - Und da ise sich das Ausbrechen dann ein Kinderspielzeug;" - er wurde tief geheimnisvoll - "den Fenstergitter in der Krankenzelle ise nÄmlich durchgesÄgt und nur schwach mit Dreck zusammengepappt. - Es ise sich das ein Geheimnis vom Bataljohn! - Sie brauchen dann bloñ ein paar NÄchte scharf aufpassen und, wenn Sie eine Seilschlingen vom Dach herunter bis vors Fenster kommen segen, heben Sie leise den Gitter aus, damit niemand nicht aufwacht, steckens die Schultern in die Schlinge, und mir ziegen Ihnen hinauf aufs Dach und lassen Ihnen auf der andern Seiten hinunter auf die Strañen. - Pasta."
          "Weshalb soll ich denn aus dem GefÄngnis ausbrechen?" wandte ich schØchtern ein, "ich bin doch unschuldig."
          "Das ise doch kein Grund, um nicht auszubrechen!", widerlegte mich der schÃne Wenzel und machte vor Erstaunen kreisrunde Augen.
          Ich muñte meine ganze Beredsamkeit aufbieten, um ihm den verwegenen Plan, der, wie er sagte, das Resultat eines "Bataillons" beschlusses war, auszureden.
          Dañ ich "die Gabe Gottes" von der Hand wies und lieber warten wollte, bis ich von selbst freikommen wØrde, war ihm unbegreiflich.
          "Jedenfalls danke ich Ihnen und Ihren braven Kameraden auf das allerherzlichste," sagte ich gerØhrt und drØckte ihm die Hand. "Wenn die schwere Zeit fØr mich vorØber ist, wird es mein erstes sein, mich Ihnen allen erkenntlich zu zeigen."
          "Ise gar nicht nÄtig", lehnte Wenzel freundlich ab. "Wann Sie ein paar Glas 'Pils' zahlen, nÄhmen wir sich dankbar an, abe sunst nix. Pan Charousek, was ise jetz Schatzmistr vom Bataljohn hat e' uns schon erzÄhlt, was Sie fØr ein heimlicher WohltÄter sin. Soll ich ihm was ausrichten, wenn ich in paar TÄg wieder herauskomm?"
          "Ja, bitte," fiel ich rasch ein, "sagen Sie ihm, er mÃchte zu Hillel gehen und ihm mitteilen, ich hÄtte soviel Angst wegen der Gesundheit seiner Tochter Mirjam. Herr Hillel solle sie nicht aus den Augen lassen. - Werden Sie sich den Namen merken?: Hillel!"
          "HirrÄl?"
          "Nein: Hillel."
          "HillÄr?"
          "Nein: Hill-el."
          Wenzel zerbrach sich fast die Zunge an dem fØr einen Tschechen unmÃglichen Namen, aber schlieñlich bewÄltigte er ihn doch unter wilden Grimassen.
          "Und dann noch eins: Herr Charousek mÃge - ich lasse ihn herzlich drum bitten - sich auch, soweit es in seiner Macht steht, der "vornehmen Dame" - er weiñ schon, wer darunter zu verstehen ist - annehmen."
          "Sie meinen sich wahrscheinlich die adlige Flietschen, die was da Gspusi ghabt hat mit dem Niemetz - dem Dr. Sapoli? - No, die hat sich doch scheiden lassen und ise mit dem Kind und dem Sapoli fØrt."
          "Wissen Sie das bestimmt?"
          Ich fØhlte meine Stimme zittern. So sehr ich mich um Angelinas willen freute, - es krampfte mir doch das Herz zusammen.
          Wieviel Sorge hatte ich ihretwegen getragen und jetzt - - - war ich vergessen.
          Vielleicht glaubte sie, ich sei wirklich ein RaubmÃrder.
          Ein bitterer Geschmack stieg mir in die Kehle.
          Der Schlot schien mit dem FeingefØhl, das verwahrlosten Menschen seltsamerweise eigen ist bei allen Dingen, die sich um Liebe drehen, erraten zu haben, wie mir zumute war, denn er blickte scheu weg und antwortete nicht.
          "Wissen Sie vielleicht auch, wie es Herrn Hillels Tochter, dem FrÄulein Mirjam geht? Kennen Sie sie?", fragte ich gepreñt.
          "Mirjam? Mirjam?" - Wenzel legte sein Gesicht in nachdenkliche Falten - "Mirjam? - GÄht sich die Ãfters in der Nacht zum Loisitschek?"
          Ich muñte unwillkØrlich lÄcheln. "Nein. Ganz bestimmt nicht."
          "Dann kenn ich sie nicht", sagte Wenzel trocken.
          Wir schwiegen eine Weile.
          Vielleicht steht in dem Briefchen etwas Øber sie, hoffte ich.
          "Dañ den Wassertrum der Deiwel g'holt hat", fing Wenzel plÃtzlich wieder an, "wÄrden Sie sich wohl schon gehÄrt haben?"
          Ich fuhr entsetzt auf.
          "No ja." - Wenzel deutete auf seine Kehle. - "Murxi, murxi! Ich sag ich IhnÄn; es war IhnÄn schaislich. Wie sie den Laden aufgebrochen haben, weil er sich paar TÄg nicht hat segen lassen, war ich natierlich der erschte drin; - wie denn nicht! - Und da hat e' durten g'sÄssen, der Wassertrum, in einem dreckigen LÄhnsessel, die Brust voller Blut und die Augen wie aus Glas. - - - Wissen S', ich bin ich ein handfeste Kerl, aber mir hat sich alles gedrÄht, sag ich IhnÄn, und ich hab' gemeint, ich hau ich ohnmÄchtig hi-iin. Furt' a furt' hab' ich mir vorsagen missen: Wenzel, hab' ich mir vorg'sagt, Wenzel, reg' dich nicht auf, es is doch bloñ ein toter Jud. - Er hat eine Feile in der Kehle stecken gehabt und im Laden war sich alles umedum geschmissen. - Ein Raubmord natierlich."
          "Die Feile! Die Feile!" Ich fØhlte, wie mir der Atem kalt wurde vor Grausen. Die Feile! So hatte sie also doch ihren Weg gefunden!
          "Ich weiñ ich auch, wer's war", fuhr Wenzel nach einer Pause halblaut fort. "Niemand anders, sag ich IhnÄn, als der blattersteppige Loiso. - Ich hab' ich nÄmlich sein Taschenmesser auf dem Boden im Laden entdeckt und rasch eing'stÄckt, damit sich die Polizei nicht draufkommt. - Er ise sich durch einen unterirdischen Gang in den Laden - - -" er brach mit einem Ruck seine Rede ab und horchte ein paar Sekunden lang angestrengt, dann warf er sich auf die Pritsche und fing an, fØrchterlich zu schnarchen.
          Gleich darauf klirrte das VorhÄngeschloñ und der GefÄngniswÄrter kam herein und musterte mich argwÃhnisch.
          Ich machte ein teilnahmsloses Gesicht und Wenzel war kaum zu erwecken.
          Erst nach vielen PØffen richtete er sich gÄhnend auf und taumelte, gefolgt von dem WÄrter, schlaftrunken hinaus.
          0x01 graphic

          Fiebernd vor Spannung faltete ich Charouseks Brief auseinander und las:
          Den 12. Mai.
          "Mein lieber armer Freund und WohltÄter!"
          Woche um Woche habe ich gewartet, dañ Sie endlich freikommen wØrden, - immer vergebens, - habe alle mÃglichen Schritte versucht, um Entlastungsmaterial fØr Sie zu sammeln, aber ich fand keins.
          Ich bat den Untersuchungsrichter, das Verfahren zu beschleunigen, aber jedesmal hieñ es, er kÃnne nichts tun - es sei Sache der Staatsanwaltschaft und nicht die seinige.
          Amtsschimmel!
          Eben erst, vor einer Stunde, gelang mir jedoch etwas, von dem ich mir den besten Erfolg erhoffe: ich habe erfahren, dañ Jaromir dem Wassertrum eine goldene Taschenuhr, die er nach der damaligen Verhaftung seines Bruders Loisa in dessen Bett gefunden hatte, verkauft hat.
          Beim 'Loisitschek', wo, wie Sie wissen, die Detektivs verkehren, geht das GerØcht, man hÄtte die Uhr des angeblich ermordeten Zottmann - dessen Leiche Øbrigens noch immer nicht entdeckt ist - als corpus delicti bei Ihnen gefunden. Das Øbrige reimte ich mir zusammen: Wassertrum et cetera!
          Ich habe mir Jaromir sofort vorgenommen, ihm 1000 fl gegeben - -" Ich lieñ den Brief sinken, und die FreudentrÄnen traten mir in die Augen: nur Angelina konnte Charousek die Summe gegeben haben. Weder Zwakh, noch Prokop, noch Vrieslander besañen so viel Geld. Sie hatte mich also doch nicht vergessen! - Ich las weiter:
          "- 1000 fl gegeben und ihm weitere 2000 fl versprochen, wenn er mit mir sofort zur Polizei ginge und eingestØnde, die Uhr seinem Bruder zu Hause entwendet und verkauft zu haben.
          Das alles kann aber erst geschehen, wenn dieser Brief durch Wenzel bereits an Sie unterwegs ist. Die Zeit reicht nicht aus.
          Aber seien Sie versichert: es wird geschehen. Heute noch. Ich bØrge Ihnen dafØr.
          Ich zweifle keinen Augenblick, dañ Loisa den Mord begangen hat und die Uhr die Zottmanns ist.
          Sollte sie es wider Erwarten nicht sein, - nun, dann weiñ Jaromir, was er zu tun hat: - Jedenfalls wird er sie als die bei Ihnen gefundene agnoszieren.
          Also harren Sie aus und verzweifeln Sie nicht! Der Tag, wo Sie frei sein werden, steht vielleicht bald bevor.
          Ob trotzdem ein Tag kommen wird, wo wir uns wiedersehen?
          Ich weiñ es nicht.
          Fast mÃchte ich sagen: ich glaube es nicht, denn mit mir geht's rasch zu Ende, und ich muñ auf der Hut sein, dañ mich die letzte Stunde nicht Øberrascht.
          Aber eins halten Sie fest: wir werden uns wiedersehen.
          Wenn auch nicht in diesem Leben und nicht wie die Toten in jenem Leben, aber an dem Tag, wo die Zeit zerbricht, - wo, wie es in der Bibel steht, der HERR die ausspeien wird aus seinem Munde, die lau waren und weder kalt noch warm. - - -
          Wundern Sie sich nicht, dañ ich so rede! Ich habe nie mit Ihnen Øber diese Dinge gesprochen und, als Sie einmal das Wort 'Kabbala' berØhrten, bin ich Ihnen ausgewichen, aber - ich weiñ, was ich weiñ.
          Vielleicht verstehen Sie, was ich meine, und wenn nicht, so streichen Sie, ich bitte Sie darum, das, was ich gesagt habe, aus Ihrem GedÄchtnis. - - Einmal, in meinen Delirien, glaubte ich - ein Zeichen auf Ihrer Brust zu sehen. - Mag sein, dañ ich wach getrÄumt habe.
          Nehmen Sie an, wenn Sie mich wirklich nicht verstehen sollten, dañ ich gewisse Erkenntnisse gehabt habe - innerlich! - fast schon von Kindheit an, die mich einen seltsamen Weg gefØhrt haben; - Erkenntnisse, die sich nicht decken mit dem, was die Medizin lehrt oder Gott sei Dank noch nicht weiñ; hoffentlich auch nie erfahren wird.
          Aber ich habe mich nicht dumm machen lassen von der Wissenschaft, deren hÃchstes Ziel es ist, einen - 'Wartesaal' auszustaffieren, den man am besten niederrisse.
          Doch genug davon.
          Ich will Ihnen erzÄhlen, was sich inzwischen zugetragen hat:
          Ende April war Wassertrum so weit, dañ meine Suggestion anfing zu wirken.
          Ich sah es daran, dañ er auf der Gasse bestÄndig gestikulierte und laut mit sich selbst sprach.
          So etwas ist ein sicheres Zeichen, dañ die Gedanken eines Menschen sich zum Sturm rotten, um Øber ihren Herrn herzufallen.
          Dann kaufte er sich ein Taschenbuch und machte sich Notizen.
          Er schrieb!
          Er schrieb! Dañ ich nicht lache! Er schrieb.
          Und dann ging er zu einem Notar. Unten vor dem Hause wuñte ich, was er oben machte: - er machte sein Testament.
          Dañ er mich zum Erben einsetzte, habe ich mir allerdings nicht gedacht. Ich hÄtte wahrscheinlich den Veitstanz bekommen vor VergnØgen, wenn's mir eingefallen wÄre.
          Er setzte mich zum Erben ein, weil ich der einzige auf der Erde bin, an dem er noch etwas gutmachen kÃnnte, wie er glaubte. Das Gewissen hat ihn Øberlistet.
          Vielleicht war's auch die Hoffnung, ich wØrde ihn segnen, wenn ich mich nach seinem Tode durch seine Huld plÃtzlich als MillionÄr sÄhe, und dadurch den Fluch wettmachen, den er in Ihrem Zimmer aus meinem Mund hat mit anhÃren mØssen.
          Dreifach hat demnach meine Suggestion gewirkt.
          Rasend witzig, dañ er heimlich also doch an eine Wiedervergeltung im Jenseits geglaubt hat, wÄhrend er sich's das ganze Leben lang mØhselig ausreden wollte.
          Aber so ist's bei allen den Ganzgescheiten; man sieht es schon an der wahnwitzigen Wut, in die sie geraten, wenn man's ihnen ins Gesicht sagt. Sie fØhlen sich ertappt.
          Von dem Moment an, wo Wassertrum vom Notar kam, lieñ ich ihn nicht mehr aus dem Auge.
          Des Nachts horchte ich an den Verschlagbrettern seines Ladens, denn jede Minute konnte die Entscheidung fallen. -
          Ich glaube, durch Mauern hindurch wØrde ich das ersehnte schnalzende GerÄusch gehÃrt haben, wenn er den StÃpsel aus der Giftflasche gezogen hÄtte.
          Es fehlte vielleicht nur eine Stunde, und mein Lebenswerk war vollbracht.
          Da griff ein Unberufener ein und ermordete ihn. Mit einer Feile.
          Lassen Sie sich das NÄhere von Wenzel erzÄhlen, mir wird es zu bitter, alles das niederschreiben zu mØssen.
          Nennen Sie es Aberglaube, - aber, wie ich sah, dañ Blut vergossen worden war - die Dinge im Laden waren befleckt davon, - kam es mir vor, als sei mir seine Seele entwischt.
          Etwas in mir, - ein feiner, untrØglicher Instinkt - sagt mir, dañ es nicht dasselbe ist, ob ein Mensch von fremder Hand stirbt oder von eigener: - dañ Wassertrum sein Blut mit sich in die Erde hÄtte nehmen mØssen, dann erst wÄre meine Mission erfØllt gewesen. - Jetzt, wo es anders gekommen ist, fØhle ich mich als Ausgestoñener, als ein Werkzeug, das nicht wØrdig befunden wurde in der Hand des Todesengels.
          Aber ich will mich nicht auflehnen. Mein Hañ ist von der Art, die Øbers Grab hinaus geht, und noch habe ich ja mein eigenes Blut, das ich vergieñen kann, wie ich will, damit es dem seinigen nachgehe im Reich der Schatten auf Schritt und Tritt. - - -
          Jeden Tag, seit sie Wassertrum verscharrt haben, sitze ich drauñen bei ihm auf dem Friedhof und horche in meine Brust hinein, was ich tun soll.
          Ich glaube, ich weiñ es bereits, aber ich will noch warten, bis das innere Wort, das zu mir spricht, klar wird wie eine Quelle. - Wir Menschen sind unrein, und oft bedarf es langen Fastens und Wachens, bis wir das FlØstern unserer Seele verstehen. - - -
          In der verflossenen Woche wurde mir offiziell vom Gericht mitgeteilt, dañ mich Wassertrum zum Universalerben eingesetzt hat.
          Dañ ich fØr mich keinen Kreuzer davon anrØhre, brauche ich Ihnen wohl nicht zu versichern, Herr Pernath. - Ich werde mich hØten, 'ihm' - fØr 'drØben' eine Handhabe zu geben.
          Die HÄuser, die er besessen hat, lasse ich versteigern, die GegenstÄnde, die er berØhrt hat, werden verbrannt, und was an Geld und Geldeswert sich dann ergibt, fÄllt nach meinem Tode zu einem Drittel Ihnen zu. -
          Ich sehe im Geiste, wie Sie aufspringen und protestieren, aber ich kann Sie beruhigen. Was Sie bekommen, ist Ihr rechtmÄñiges Eigentum mit Zinsen und Zinseszinsen. Schon lange wuñte ich, dañ Wassertrum vor Jahren Ihren Vater und seine Familie um alles gebracht hat, - erst jetzt bin ich in der Lage, es aktenmÄñig nachweisen zu kÃnnen.
          Ein zweites Drittel wird unter die zwÃlf Mitglieder des "Bataillons" verteilt, die den Dr. Hulbert noch persÃnlich gekannt haben. Ich will, dañ jeder von ihnen reich wird und Zutritt bekommt zur Prager - "guten Gesellschaft".
          Das letzte Drittel gehÃrt zu gleichen Teilen den nÄchsten sieben RaubmÃrdern des Landes, die mangels zureichender Beweise freigesprochen werden mØssen.
          Ich bin das dem Ãffentlichen ärgernis schuldig.
          So. Das wÄre wohl alles.
          Und jetzt, mein lieber, lieber Freund, leben Sie wohl und gedenken Sie zuweilen
          Ihres
          aufrichtigen und dankbaren
          Innocenz Charousek."
          Tief erschØttert legte ich den Brief aus der Hand. Ich konnte mich nicht freuen Øber die Nachricht von meiner bevorstehenden Enthaftung.
          Charousek! Armer Mensch! Wie ein Bruder kØmmerte er sich um mein Schicksal. Bloñ, weil ich ihm einst 100 fl geschenkt hatte. Wenn ich ihm nur einmal noch die Hand drØcken kÃnnte!
          Ich fØhlte: ja, er hatte recht; der Tag wØrde nie kommen.
          Ich sah ihn vor mir: seine flackernden Augen, die schwindsØchtigen Schultern, die hohe, noble Stirn.
          Vielleicht, dañ alles ganz anders gekommen wÄre, wenn eine hilfreiche Hand rechtzeitig in dies verdorrte Leben eingegriffen hÄtte.
          Noch einmal las ich den Brief durch.
          Wieviel Methode in Charouseks Irrsinn lag! Ob er Øberhaupt irrsinnig war?
          Ich schÄmte mich beinahe, diesen Gedanken auch nur einen Augenblick geduldet zu haben.
          Sagten seine Anspielungen nicht genug? Er war ein Mensch wie Hillel, wie Mirjam, wie ich selbst; ein Mensch, Øber den die eigene Seele Gewalt gewonnen hatte, - den sie durch die wilden Schluchten und KlØfte des Lebens emporfØhrte in die Firnenwelt eines unbetreten Landes.
          Er, der doch ein ganzes Leben auf Mord gesonnen, stand er nicht reiner da, als irgendeiner von denen, die naserØmpfend umhergehen und angelernte Gebote eines unbekannten, mythischen Propheten zu befolgen vorgeben?
          Er hielt das Gebot, das ihm ein ØbermÄchtiger Trieb diktierte, ohne an eine "Belohnung" hier oder jenseits auch nur zu denken.
          Was er getan hatte, war es etwas anderes als frÃmmste PflichterfØllung in des Wortes verborgenster Bedeutung?
          "Feig, hinterlistig, mordgierig, krank, eine problematische - eine Verbrechernatur" - ich hÃrte fÃrmlich, wie das Urteil der Menge Øber ihn lauten muñte, wenn sie mit ihren blinden Stallaternen in seine Seele hineinzuleuchten kÄme, - dieser geifernden Menge, die nie und nimmer begreifen wird, dañ die giftige Herbstzeitlose tausendfach schÃner und edler ist als der nØtzliche Schnittlauch. - - -
          Wieder ging das TØrschloñ drauñen, und ich hÃrte, dañ man einen Menschen hereinschob.
          Ich drehte mich nicht einmal um, so sehr war ich erfØllt von dem Eindruck des Briefes.
          Kein Wort Øber Angelina, nichts von Hillel stand darin.
          Freilich: Charousek muñte in grÃñter Eile geschrieben haben, die Schrift verriet es mir.
          Ob mir wohl noch ein Brief von ihm heimlich Øberbracht werden wØrde?
          Ich hoffte heimlich auf den morgigen Tag, auf den gemeinsamen Rundgang der Gefangenen im Hof. - Da war es noch am leichtesten, dañ mir irgendeiner vom "Bataillon" etwas zusteckte.
          Eine leise Stimme schreckte mich aus meinen GrØbeleien:
          "WØrden Sie gestatten, mein Herr, dañ ich mich Ihnen vorstelle? Mein Name ist Laponder. Amadeus Laponder".
          Ich drehte mich um.
          Ein kleiner, schmÄchtiger, noch ziemlich junger Mann in gewÄhlter Kleidung, nur ohne Hut, wie alle Untersuchungsgefangenen, verbeugte sich korrekt vor mir.
          Er war glattrasiert wie ein Schauspieler, und seine groñen, hellgrØn glÄnzenden, mandelfÃrmigen Augen hatten das EigentØmliche an sich, dañ, so geradeaus sie auch auf mich gerichtet waren, sie mich doch nicht zu sehen schienen. - Es lag so etwas wie - Geistesabwesenheit darin.
          Ich murmelte meinen Namen und verbeugte mich ebenfalls und wollte mich wieder umdrehen, konnte aber lange den Blick von dem Menschen nicht wenden, so fremdartig wirkte er auf mich mit dem pagodenhaften LÄcheln, das die aufwÄrts gezogenen Mundwinkel der feingeschwungenen Lippen bestÄndig seinem Gesicht aufdrØckten.
          Er sah fast aus wie eine chinesische Buddhastatue aus Rosenquarz, mit seiner faltenlosen, durchsichtigen Haut, der mÄdchenhaft schmalen Nase und den zarten NØstern.
          "Amadeus Laponder, Amadeus Laponder", wiederholte ich vor mich hin.
          "Was er wohl begangen haben mag?"

    Mond


          "Waren Sie schon beim VerhÃr", fragte ich nach einer Weile.
          "Ich komme soeben von dort. - Hoffentlich werde ich Sie hier nicht lange inkommodieren mØssen", antwortete Herr Laponder liebenswØrdig.
          "Armer Teufel," dachte ich mir, "er ahnt nicht, was einem Untersuchungsgefangenen bevorsteht."
          Ich wollte ihn langsam vorbereiten:
          "Man gewÃhnt sich allmÄhlich an das Stillsitzen, wenn einmal die ersten, schlimmsten Tage vorØber sind." - - -
          Er machte ein verbindliches Gesicht.
          Pause.
          "Hat das VerhÃr lange gedauert, Herr Laponder?"
          Er lÄchelte zerstreut:
          "Nein. Ich wurde bloñ gefragt, ob ich gestÄndig sei, und muñte das Protokoll unterschreiben."
          "Sie haben unterschrieben, dañ Sie gestÄndig sind?" fuhr es mir heraus.
          "Allerdings."
          Er sagte es, als ob es sich von selbst verstØnde.
          Es kann nichts Schlimmes sein, legte ich mir zurecht, weil er so gar keine Aufregung zeigt. Wahrscheinlich eine Herausforderung zum Duell oder etwas ähnliches.
          "Ich bin leider schon so lange hier, dañ es mir wie ein Menschenleben vorkommt"; - ich seufzte unwillkØrlich, und er machte sofort eine teilnehmende Miene. "Ich wØnsche Ihnen, dañ Sie das nicht mitzumachen brauchen, Herr Laponder. Nach allem, was ich sehe, werden Sie bald auf freiem Fuñ sein."
          "Wie man's nimmt", antwortete er ruhig, aber es klang wie ein versteckter Doppelsinn.
          "Sie glauben nicht?", fragte ich lÄchelnd. Er schØttelte den Kopf.
          "Wie soll ich das verstehen? - Was haben Sie denn gar so Schreckliches begangen? Verzeihen Sie, Herr Laponder, es ist nicht Neugierde von mir, - lediglich Teilnahme, dañ ich frage."
          Er zÃgerte einen Augenblick, dann sagte er, ohne mit der Wimper zu zucken:
          "Lustmord."
          Mir war, als hÄtte er mich mit einem Stock Øber den Kopf geschlagen.
          Vor Abscheu und Grausen konnte ich keinen Ton herausbringen.
          Er schien es zu bemerken und blickte diskret zur Seite, aber nicht das leiseste Minenspiel in seinem automatenhaft lÄchelnden Gesicht verriet, dañ er Øber mein plÃtzlich verÄndertes Benehmen verletzt gewesen wÄre.
          Wir wechselten kein Wort weiter und blickten stumm aneinander vorbei. - - -
          Als ich mich nach Einbruch der Dunkelheit niederlegte, folgte er sogleich meinem Beispiel, entkleidete sich, hÄngte sorgsam seine Kleider an den Wandnagel, streckte sich aus und schien, nach seinen ruhigen, tiefen AtemzØgen zu schlieñen, unmittelbar darauf fest eingeschlafen zu sein.
          Die ganze Nacht konnte ich nicht zur Ruhe kommen.
          Das bestÄndige GefØhl, ein solches Scheusal in meiner nÄchsten NÄhe zu haben und dieselbe Luft mit ihm atmen zu mØssen, war mir so grÄñlich und aufregend, dañ die EindrØcke des Tages, Charouseks Brief und all das erlebte Neue tief in den Hintergrund traten.
          Ich hatte mich so gelegt, dañ ich den MÃrder bestÄndig im Auge behielt, denn ich wØrde es nicht haben ertragen kÃnnen, ihn hinter mir zu wissen.
          Die Zelle war vom Schimmer des Mondes matt durchdÄmmert, und ich konnte sehen, dañ Laponder regungslos, fast starr, dalag.
          Seine ZØge hatten etwas Leichenhaftes bekommen, und der halbgeÃffnete Mund erhÃhte diesen Eindruck.
          Viele Stunden hindurch Änderte er nicht ein einziges Mal seine Lage.
          Erst spÄt nach Mitternacht, als ein dØnner Mondstrahl auf sein Gesicht fiel, kam eine leise Unruhe Øber ihn und er bewegte unaufhÃrlich die Lippen, wie jemand, der im Schlaf spricht. Es schien immer dasselbe Wort zu sein, - ein zweisilbiger Satz vielleicht, - so wie:
          "Lañ mich. Lañ mich, Lañ mich."
          0x01 graphic

          Die nÄchsten paar Tage vergingen, ohne dañ ich Notiz von ihm genommen hÄtte, und auch er brach niemals das Schweigen.
          Sein Benehmen blieb nach wie vor gleich liebenswØrdig. Sooft ich auf und ab gehen wollte, sah er es mir sofort an und zog hÃflich, wenn er auf der Pritsche sañ, die FØñe zurØck, um mir nicht im Wege zu sein.
          Ich fing an, mir VorwØrfe wegen meiner Schroffheit zu machen, konnte aber den Abscheu vor ihm beim besten Willen nicht loswerden.
          So sehr ich gehofft hatte, mich an seine NÄhe gewÃhnen zu kÃnnen, - es ging nicht.
          Selbst in den NÄchten hielt es mich wach. Kaum eine Viertelstunde verbrachte ich im Schlaf.
          Abend fØr Abend wiederholte sich haargenau derselbe Vorgang: Er wartete respektvoll, bis ich mich ausstreckte, zog dann seine Kleider aus, legte sie pedantisch in Falten, hÄngte sie auf, und so weiter und so weiter.
          0x01 graphic

          Eines Nachts - es mochte um die zweite Stunde sein - stand ich schlaftrunken vor MØdigkeit wieder auf dem Wandbrett, starrte in den Vollmond, dessen Strahlen sich wie glitzerndes ãl auf dem kupfernen Gesicht der Turmuhr spiegelten, und dachte voll Trauer an Mirjam.
          Da hÃrte ich plÃtzlich leise ihre Stimme hinter mir.
          Sofort war ich wach, Øberwach, - fuhr herum und horchte.
          Eine Minute verging.
          Schon glaubte ich, ich hÄtte mich getÄuscht, da kam es wieder. Ich konnte die Worte nicht genau verstehen, aber es klang wie:
          "Frag' mich. Frag' mich."
          Es war bestimmt Mirjams Stimme.
          Schlotternd vor Aufregung stieg ich, so leise ich konnte, herab und trat an das Bett Laponders.
          Das Mondlicht schien voll auf sein Gesicht, und ich konnte deutlich unterscheiden, dañ er die Lider offen hatte, doch nur das Weiñe der AugÄpfel war sichtbar.
          An der Starre der Wangenmuskeln sah ich, dañ er im Tiefschlaf lag.
          Nur die Lippen bewegten sich wieder wie neulich. Und allmÄhlich verstand ich die Worte, die hinter seinen ZÄhnen hervordrangen:
          "Frag' mich. Frag' mich."
          Die Stimme war der von Mirjam tÄuschend Ähnlich.
          "Mirjam? Mirjam?" rief ich unwillkØrlich, dÄmpfte aber sofort den Ton, um den SchlÄfer nicht zu erwecken.
          Ich wartete, bis sein Gesicht wieder starr geworden war, dann wiederholte ich leise:
          "Mirjam? Mirjam?"
          Sein Mund formte ein kaum vernehmbares, aber doch deutliches:
          "Ja."
          Ich legte mein Ohr dicht an seine Lippen. Nach einer Weile hÃrte ich Mirjams Stimme flØstern - so unverkennbar ihre Stimme, dañ mir KÄlteschauer Øber die Haut liefen.
          Ich trank die Worte so gierig, dañ ich nur den Sinn begriff. Sie sprach von Liebe zu mir und von dem unsagbaren GlØck, dañ wir uns endlich gefunden hÄtten - und uns nie wieder trennen wØrden - hastig - ohne Pause, wie jemand, der fØrchtet, unterbrochen zu werden und jede Sekunde ausnØtzen will.
          Dann wurde die Stimme stockend - erlosch zeitweilig ganz.
          "Mirjam?" fragte ich, bebend vor Angst und mit eingezogenem Atem, "Mirjam, bist du gestorben?"
          Lange keine Antwort.
          Dann fast unverstÄndlich:
          "Nein. - Ich lebe. - Ich schlafe."
          Nichts mehr.
          Ich lauschte und lauschte.
          Vergebens.
          Nichts mehr.
          Vor Ergriffenheit und Zittern muñte ich mich auf die Kante der Pritsche stØtzen, um nicht vornØber auf Laponder zu fallen.
          Die TÄuschung war so vollstÄndig gewesen, dañ ich Mirjam momentelang tatsÄchlich vor mir liegen zu sehen glaubte und alle meine Kraft zusammennehmen muñte, um nicht einen Kuñ auf die Lippen des MÃrders zu drØcken.
          "Henoch! Henoch!" - hÃrte ich ihn plÃtzlich lallen, dann immer klarer und artikulierter: "Henoch! Henoch!"
          Sofort erkannte ich Hillel.
          "Bist du es, Hillel?"
          Keine Antwort.
          Ich erinnerte mich, gelesen zu haben, dañ man Schlafenden, um sie zum Reden zu bringen, die Fragen nicht ins Ohr stellen dØrfe, sondern gegen das Nervengeflecht in der Magengrube richten mØsse.
          Ich tat es:
          "Hillel?"
          "Ja, ich hÃre dich!"
          "Ist Mirjam gesund? Weiñt du alles?" fragte ich schnell.
          "Ja. Ich weiñ alles. Wuñte es lÄngst. - Sei ohne Sorge, Henoch, und fØrchte dich nicht!"
          "Kannst du mir verzeihen, Hillel?"
          "Ich sage dir doch: sei ohne Sorge."
          "Werden wir uns bald wiedersehen?" - Ich fØrchtete, die Antwort nicht mehr verstehen zu kÃnnen; schon der letzte Satz war nur noch gehaucht worden.
          "Ich hoffe es. Ich will warten - auf dich - wenn ich kann - dann muñ ich - Land -"
          "Wohin? In welches Land?" - ich fiel beinahe auf Laponder - "In welches Land? In welches Land?"
          "- Land - Gad - sØdlich - PalÄstina -"
          Die Stimme erstarb.
          Hundert Fragen schÃssen mir in der Verwirrung durch den Kopf: Warum nennt er mich Henoch? Zwakh, Jaromir, die Uhr, Vrieslander, Angelina, Charousek.
          "Leben Sie wohl und gedenken Sie meiner zuweilen", kam es plÃtzlich wieder laut und deutlich von den Lippen des MÃrders. Diesmal in Charouseks Tonfall, aber Ähnlich so, als hÄtte ich selbst es gesagt.
          Ich erinnerte mich: es war wÃrtlich der Schluñsatz aus Charouseks Brief. -
          Das Gesicht Laponders lag bereits im Dunkel. Das Mondlicht fiel auf die Kopfenden des Strohsacks. In einer Viertelstunde muñte es aus der Zelle verschwunden sein.
          Ich stellte Frage auf Frage, bekam aber keine Antwort mehr:
          Der MÃrder lag unbeweglich da wie eine Leiche und hatte die Lider geschlossen.
          Ich machte mir die heftigsten VorwØrfe, alle die Tage Øber in Laponder nur den Verbrecher und niemals den Menschen gesehen zu haben. -
          Nach dem, was ich soeben erlebt, war er offenbar ein Somnambuler - ein GeschÃpf, das unter dem Einfluñ des Vollmonds stand.
          Vielleicht hatte er den Lustmord in einer Art DÄmmerzustand begangen. Bestimmt sogar. -
          Jetzt, wo der Morgen graute, war die Starrheit aus seinen ZØgen gewichen und hatte dem Ausdruck seligen Friedens Platz gemacht.
          So ruhig kann ein Mensch doch nicht schlummern, der einen Mord auf dem Gewissen hat, sagte ich mir.
          Ich konnte den Moment, wo er aufwachen wØrde, kaum erwarten.
          Ob er wohl wØñte, was geschehen war?
          Endlich schlug er die Augen auf, begegnete meinem Blick und sah zur Seite.
          Sofort trat ich zu ihm und ergriff seine Hand: "Verzeihen Sie mir, Herr Laponder, dañ ich bisher so unfreundlich zu Ihnen gewesen bin. Es war das Ungewohnte, das -"
          "Seien Sie Øberzeugt, mein Herr, ich begreife vollkommen," unterbrach er mich lebhaft, "dañ es ein scheuñliches GefØhl sein muñ, mit einem LustmÃrder beisammen zu sein."
          "Reden Sie nicht mehr davon", bat ich. "Es ist mir heute nacht so mancherlei durch den Kopf gegangen, und ich werde den Gedanken nicht los, Sie kÃnnten vielleicht - - -" ich suchte nach Worten.
          "Sie halten mich fØr krank", half er mir heraus.
          Ich bejahte: "Ich glaube es aus gewissen Anzeichen schlieñen zu dØrfen. Ich - ich - darf ich Ihnen eine direkte Frage stellen, Herr Laponder?"
          "Ich bitte darum."
          "Es klingt etwas merkwØrdig, - aber - wØrden Sie mir sagen, was Sie heute getrÄumt haben?"
          Er schØttelte lÄchelnd den Kopf: "Ich trÄume nie."
          "Aber Sie haben aus dem Schlaf gesprochen."
          Er blickte Øberrascht auf. Dachte eine Weile nach. Dann sagte er bestimmt:
          "Das kann nur geschehen sein, wenn Sie mich etwas gefragt haben." - Ich gab es zu. "Denn wie gesagt, ich trÄume nie. Ich - ich wandere", setzte er nach einer Pause halblaut hinzu.
          "Sie wandern? Wie soll ich das verstehen?"
          Er schien nicht recht mit der Sprache heraus zu wollen, und ich hielt es fØr angezeigt, ihm die GrØnde zu nennen, die mich bewogen hatten, in ihn zu dringen, und erzÄhlte ihm in Umrissen, was nachts geschehen war.
          "Sie kÃnnen sich fest darauf verlassen," sagte er ernst, als ich zu Ende war, "dañ alles auf Richtigkeit beruht, was ich im Schlaf gesprochen habe. Wenn ich vorhin bemerkte, dañ ich nicht trÄume, sondern 'wandere', so meine ich damit, dañ mein Traumleben anders beschaffen ist als das - sagen wir: normaler Menschen. Nennen Sie es, wenn Sie wollen, ein Austreten aus dem KÃrper. - - So war ich z. B. heute nacht in einem hÃchst sonderbaren Zimmer, zu dem der Eingang von unten herauf durch eine FalltØr fØhrte."
          "Wie sah es aus?" fragte ich rasch. "War es unbewohnt? Leer?"
          "Nein; es standen MÃbel darin; aber nicht viele. Und ein Bett, in dem ein junges MÄdchen schlief - oder wie scheintot lag, - und ein Mann sañ neben ihr und hielt seine Hand Øber ihre Stirn." - Laponder schilderte die Gesichter der beiden. Kein Zweifel, es waren Hillel und Mirjam.
          Ich wagte vor Spannung kaum zu atmen.
          "Bitte, erzÄhlen Sie weiter. War sonst noch jemand im Zimmer?"
          "Sonst noch jemand? Warten Sie - - - nein: sonst war niemand mehr im Zimmer. Ein siebenflammiger Leuchter brannte auf dem Tisch. - Dann ging ich eine Wendeltreppe hinunter."
          "Sie war zerbrochen?" fiel ich ein.
          "Zerbrochen? Nein, nein; sie war ganz in Ordnung. Und von ihr zweigte seitlich eine Kammer ab, darin sañ ein Mann mit silbernen Schnallen an den Schuhen und von fremdartigem Typus, wie ich noch nie einen Menschen gesehen habe: von gelber Gesichtsfarbe und mit schrÄgstehenden Augen; - er war vornØber gebeugt und schien auf etwas zu warten. Auf einen Auftrag vielleicht."
          "Ein Buch - ein altes groñes Buch haben Sie nirgends gesehen?", forschte ich.
          Er rieb sich die Stirn:
          "Ein Buch sagen Sie? - Ja. Sehr richtig: ein Buch lag auf dem Boden. Es war aufgeschlagen, ganz aus Pergament, und mit einem groñen, goldenen 'A' fing die Seite an."
          "Mit einem 'I', meinen Sie wohl?"
          "Nein, mit einem 'A'."
          "Wissen Sie das bestimmt? War es nicht ein 'I'?"
          "Nein, es war bestimmt ein 'A'."
          Ich schØttelte den Kopf und fing an zu zweifeln. Offenbar hatte Laponder im Halbschlaf in meinem Vorstellungsinhalt gelesen und alles wirr durcheinander gebracht: Hillel, Mirjam, den Golem, das Buch Ibbur und den unterirdischen Gang.
          "Haben Sie die Gabe zu 'wandern', wie Sie es nennen, schon lang?", fragte ich.
          "Seit meinem 21. Jahr - - -", er stockte, schien nicht gern davon zu reden; da nahm seine Miene plÃtzlich den Ausdruck grenzenlosen Erstaunens an, und er starrte auf meine Brust, als ob er dort etwas sÄhe.
          Ohne auf meine Verwunderung zu achten, ergriff er hastig meine Hand und bat - fast flehentlich:
          "Um Himmels willen, sagen Sie mir alles. Es ist heute der letzte Tag, den ich bei Ihnen verbringen darf. Vielleicht schon in einer Stunde werde ich abgeholt, um mein Todesurteil anzuhÃren - -."
          Ich unterbrÄche ihn entsetzt:
          "Dann mØssen Sie mich mitnehmen als Zeugen! Ich werde beschwÃren, dañ Sie krank sind. - Sie sind mondsØchtig. Es darf nicht sein, dañ man Sie hinrichtet, ohne Ihren Geisteszustand untersucht zu haben. So nehmen Sie doch Vernunft an!"
          Er wehrte nervÃs ab: "Das ist doch so nebensÄchlich, - bitte, sagen Sie mir alles!"
          "Aber was soll ich Ihnen denn sagen? - Reden wir doch lieber von Ihnen und - -"
          "Sie mØssen, ich weiñ das jetzt, gewisse, seltsame Dinge erlebt haben, die mich nah angehen, - nÄher als Sie ahnen kÃnnen; - - ich bitte Sie, sagen Sie mir alles!", flehte er.
          Ich konnte es nicht fassen, dañ ihn mein Leben mehr interessierte als seine eigenen, doch wahrhaftig genØgend dringenden Angelegenheiten; um ihn aber zu beruhigen, erzÄhlte ich ihm alles, was mir an Unbegreiflichem geschehen war.
          Bei jedem grÃñeren Abschnitt nickte er zufrieden, wie jemand, der eine Sache bis zum Grund durchschaut.
          Als ich zu der Stelle kam, wo die Erscheinung ohne Kopf vor mir gestanden und mir die schwarzroten KÃrner hingehalten hatte, konnte er es kaum erwarten, den Schluñ zu erfahren.
          "Also, aus der Hand geschlagen haben Sie sie ihm", murmelte er sinnend. "Ich hÄtte nie gedacht, dañ es einen dritten 'Weg' geben kÃnnte.
          "Es war das kein dritter Weg", sagte ich, "es war derselbe, wie wenn ich die KÃrner abgelehnt hÄtte."
          Er lÄchelte.
          "Glauben Sie nicht, Herr Laponder?"
          "Wenn Sie sie abgelehnt hÄtten, wÄren Sie wohl auch den 'Weg des Lebens' gegangen, aber die KÃrner, die magische KrÄfte bedeuten, wÄren nicht zurØckgeblieben. - So sind sie auf den Boden gerollt, wie Sie sagen. Das heiñt: sie sind hiergeblieben und werden von Ihren Vorfahren so lange gehØtet, bis die Zeit des Keimens da ist. Dann werden die KrÄfte, die in Ihnen jetzt noch schlummern, lebendig werden."
          Ich verstand nicht: "Von meinen Vorfahren werden die KÃrner behØtet?"
          "Sie mØssen es teilweise symbolisch auffassen, was Sie erlebt haben", erklÄrte Laponder. "Der Kreis der blÄulich strahlenden Menschen, der Sie umstand, war die Kette der ererbten 'Iche', die jeder von einer Mutter Geborene mit sich herumschleppt. Die Seele ist nichts 'Einzelnes', - sie soll es erst werden, und das nennt man dann: 'Unsterblichkeit'; Ihre Seele ist noch zusammengesetzt aus vielen 'Ichen' - so, wie ein Ameisenstaat aus vielen Ameisen; Sie tragen die seelischen Reste vieler tausend Vorfahren in sich: - die HÄupter Ihres Geschlechtes. Bei allen Wesen ist es so. Wie kÃnnte denn ein Huhn, das aus einem Ei kØnstlich erbrØtet wurde, sich sogleich die richtige Nahrung suchen, wenn nicht die Erfahrung von Jahrmillionen in ihm stÄke? - Das Vorhandensein des 'Instinkts' verrÄt die Gegenwart der Vorfahren im Leib und in der Seele. - Aber, verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht unterbrechen."
          Ich erzÄhlte zu Ende. Alles. Auch das, was Mirjam Øber den "Hermaphroditen" gesagt hatte.
          Als ich innehielt und aufblickte, bemerkte ich, dañ Laponder weiñ geworden war wie der Kalk an der Wand und TrÄnen Øber seine Wangen liefen.
          Rasch stand ich auf, tat, als sÄhe ich es nicht, und ging in der Zelle auf und nieder, um abzuwarten, bis er sich beruhigt haben wØrde.
          Dann setzte ich mich ihm gegenØber und bot meine ganze Beredsamkeit auf, ihn zu Øberzeugen, wie dringend nÃtig es wÄre, den Richtern gegenØber auf seinen krankhaften Geisteszustand hinzuweisen.
          "Wenn Sie wenigstens den Mord nicht eingestanden hÄtten!", schloñ ich.
          "Aber ich muñte doch! Man hat mich auf mein Gewissen gefragt", sagte er naiv.
          "Halten Sie denn eine LØge fØr schlimmer als - als einen Lustmord?", fragte ich verblØfft.
          "Im allgemeinen vielleicht nicht, in meinem Fall gewiñ. - Sehen Sie: als ich vom Untersuchungsrichter gefragt wurde, ob ich gestØnde, hatte ich die Kraft, die Wahrheit zu sagen. Es stand also in meiner Wahl, zu lØgen oder nicht zu lØgen. - Als ich den Lustmord beging - - bitte, ersparen Sie mir die Details: es war so grÄñlich, dañ ich die Erinnerung nicht wieder aufleben lassen mÃchte - - als ich den Lustmord beging, da hatte ich keine Wahl. Wenn ich auch bei vollkommen klarem Bewuñtsein handelte, so hatte ich dennoch keine Wahl: irgend etwas, dessen Vorhandensein in mir ich nie geahnt hatte, wachte auf und war stÄrker als ich. Glauben Sie, wenn ich die Wahl gehabt haben wØrde, ich hÄtte gemordet? - Nie habe ich getÃtet - nicht einmal das kleinste Tier, - und jetzt wÄre ich es schon gar nicht mehr imstande.
          Nehmen Sie an, es wÄre Menschengesetz: zu morden, und auf die Unterlassung stØnde der Tod - Ähnlich, wie es im Krieg der Fall ist, - augenblicklich hÄtte ich mir den Tod verdient. - Weil mir keine Wahl bliebe. Ich kÃnnte ganz einfach nicht morden. Damals, als ich den Lustmord beging, lag die Sache umgekehrt."
          "Um so mehr, wo Sie sich jetzt quasi als ein anderer fØhlen, mØssen Sie alles aufbieten, dem Richterspruch zu entgehen!", wandte ich ein.
          Laponder machte eine abwehrende Handbewegung: "Sie irren! Die Richter haben von ihrem Standpunkt aus ganz recht. Sollen sie einen Menschen wie mich vielleicht frei umherlaufen lassen? Damit morgen oder Øbermorgen wieder das Unheil losbricht?"
          "Nein; aber in einer Heilanstalt fØr Geisteskranke sollte man Sie internieren. Das ist es doch, was ich sage!"
          "Wenn ich irrsinnig wÄre, hÄtten Sie recht", erwiderte Laponder gleichmØtig. "Aber ich bin nicht irrsinnig. Ich bin etwas ganz anderes, - etwas, was dem Irrsinn sehr Ähnlich sieht, aber gerade das Gegenteil ist. Bitte, hÃren Sie zu. Sie werden mich sogleich verstehen. - - - Was Sie mir vorhin von dem Phantom ohne Kopf - ein Symbol natØrlich: dieses Phantom; den SchlØssel kÃnnen Sie leicht finden, wenn Sie darØber nachdenken - erzÄhlten, ist mir einst genauso passiert. Nur habe ich die KÃrner angenommen. Ich gehe also den 'Weg des Todes'! - FØr mich ist das Heiligste, das ich denken kann: meine Schritte vom Geistigen in mir lenken zu lassen. Blind, vertrauensvoll, wohin der Weg auch fØhren mag: ob zum Galgen oder zum Thron, ob zur Armut oder zum Reichtum. Niemals habe ich gezÃgert, wenn die Wahl in meine Hand gelegt war.
          Darum habe ich auch nicht gelogen, als die Wahl in meiner Hand lag.
          Kennen Sie die Worte des Propheten Micha:
          "Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist,
          und was der Herr von dir fordert,"?
          WØrde ich gelogen haben, hÄtte ich eine Ursache geschaffen, weil ich die Wahl hatte; - - als ich den Mord beging, schuf ich keine Ursache; nur die Wirkung einer in mir schlummernden, lÄngst gelegten Ursache, Øber die ich keine Gewalt mehr besañ, wurde frei.
          Also sind meine HÄnde rein.
          Dadurch, dañ das Geistige in mir mich zum MÃrder werden lieñ, hat es eine Hinrichtung an mir vollzogen; dadurch, dañ mich die Menschen an den Galgen knØpfen, wird mein Schicksal losgelÃst von dem ihrigen: - ich komme zur Freiheit."
          Er ist ein Heiliger, fØhlte ich, und das Haar strÄubte sich mir vor Schauder Øber meine eigene Kleinheit.
          "Sie haben mir erzÄhlt, dañ Sie durch den hypnotischen Eingriff eines Arztes in Ihr Bewuñtsein lange die Erinnerung an Ihre Jugendzeit vergessen hatten", fuhr er fort. "Es ist das das Kennzeichen - das Stigma - aller derer, die von der 'Schlange des geistigen Reiches' gebissen sind. Es scheint fast, als mØñten in uns zwei Leben aufeinandergepfropft werden, wie ein Edelreis auf den wilden Baum, ehe das Wunder der Erweckung geschehen kann; - was sonst durch den Tod getrennt wird, geschieht hier durch ErlÃschen der Erinnerung - manchmal nur durch eine plÃtzliche innere Umkehr.
          Bei mir war es so, dañ ich scheinbar ohne Äuñere Ursache in meinem 21. Jahr eines Morgens wie verÄndert erwachte. Was mir bis dahin lieb gewesen, erschien mir mit einemmal gleichgØltig: Das Leben kam mir dumm vor wie eine Indianergeschichte und verlor an Wirklichkeit; die TrÄume wurden zu Gewiñheit - zu apodiktischer, beweiskrÄftiger Gewiñheit, verstehen Sie wohl: zu beweiskrÄftiger, realer Gewiñheit, und das Leben des Tages wurde zum Traum.
          Alle Menschen kÃnnten das, wenn sie den SchlØssel hÄtten. Und der SchlØssel liegt einzig und allein darin, dañ man sich seiner 'Ichgestalt', sozusagen seiner Haut, im Schlaf bewuñt wird, - die schmale Ritze findet, durch die sich das Bewuñtsein zwÄngt zwischen Wachsein und Tiefschlaf.
          Darum sagte ich vorhin: 'ich wandere' und nicht: 'ich trÄume'.
          Das Ringen nach der Unsterblichkeit ist ein Kampf um das Zepter gegen die uns innewohnenden KlÄnge und Gespenster; und das Warten auf das KÃnigwerden des eigenen 'Ichs' ist das Warten auf den Messias.
          Der schemenhafte Habal Garmin, den Sie gesehen haben, der 'Hauch der Knochen' der Kabbala, das war der KÃnig. Wenn er gekrÃnt sein wird, dann - reiñt der Strick entzwei, mit dem Sie durch die Äuñeren Sinne und den Schornstein des Verstandes an die Welt gebunden sind.
          Wieso es kommen konnte, dañ ich trotz meinem Losgetrenntsein vom Leben Øber Nacht zum LustmÃrder werden konnte, fragen Sie mich? Der Mensch ist wie ein Glasrohr, durch das bunte Kugeln laufen: bei fast allen im Leben nur die eine. Ist die Kugel rot, heiñt der Mensch: 'schlecht'. Ist sie gelb, dann ist der Mensch: 'gut'. Laufen zwei hintereinander - eine rote und eine gelbe, dann hat 'man' einen 'ungefestigten' Charakter. Wir von der 'Schlange Gebissenen', machen in einem Leben durch, was sonst an der ganzen Rasse in einem Weltenalter geschieht: die farbigen Kugeln rasen hintereinander her durch das Glasrohr, und wenn sie zu Ende sind - - dann sind wir Propheten, - sind die Spiegel Gottes geworden."
          Laponder schwieg.
          Lange konnte ich kein Wort sprechen. Seine Rede hatte mich fast betÄubt.
          "Weshalb fragten Sie mich vorhin so Ängstlich nach meinen Erlebnissen, wo Sie doch so viel, viel hÃher stehen als ich?", fing ich endlich wieder an.
          "Sie irren," sagte Laponder, "ich stehe weit unter Ihnen. - Ich fragte Sie, weil ich fØhlte, dañ Sie den SchlØssel besitzen, der mir noch fehlte."
          "Ich? Einen SchlØssel. O Gott!"
          "Jawohl Sie! Und Sie haben ihn mir gegeben. - Ich glaube nicht, dañ es einen glØcklicheren Menschen auf Erden gibt, als ich es heute bin."
          Drauñen entstand ein GerÄusch; die Riegel wurden zurØckgeschoben, - Laponder achtete kaum darauf:
          "Das mit dem Hermaphroditen war der SchlØssel. Jetzt habe ich die Gewiñheit. Schon deshalb bin ich froh, dañ man mich holen kommt, denn bald bin ich am Ziel."
          Vor TrÄnen konnte ich Laponders Gesicht nicht mehr unterscheiden, ich hÃrte nur das LÄcheln in seiner Stimme.
          "Und jetzt: Leben Sie wohl, Herr Pernath, und denken Sie: das, was man morgen aufhenkt, sind nur meine Kleider; Sie haben mir das SchÃnste erÃffnet, - das Letzte, was ich noch nicht wuñte. Jetzt geht's zur Hochzeit - - -," er stand auf und folgte dem GefangenwÄrter - "es hÄngt mit dem Lustmord eng zusammen", waren die letzten Worte, die ich hÃrte und nur dunkel begriff.
          0x01 graphic

          Sooft seit jener Nacht der Vollmond am Himmel stand, glaubte ich immer wieder Laponders schlafendes Gesicht auf der grauen Leinwand des Bettes liegen zu sehen.
          In den nÄchsten Tagen, nachdem er weggefØhrt worden war, hatte ich ein HÄmmern und Zimmern aus dem Hinrichtungshof heraufdrÃhnen hÃren, das manchmal bis zum Morgengrauen dauerte.
          Ich erriet, was es bedeutete, und hielt mir stundenlang die Ohren zu vor Verzweiflung.
          Monat um Monat verfloñ. Ich sah, wie der Sommer zerrann, am Krankwerden des kØmmerlichen Laubs im Hof; roch es an dem pelzigen Hauch, der aus den Mauern drang.
          Wenn mein Blick bei den RundgÄngen auf den sterbenden Baum fiel und das eingewachsene Glasbild der Heiligen in seiner Rinde, zog ich unwillkØrlich jedesmal den Vergleich, wie tief sich auch Laponders Gesicht in mich eingegraben hatte. BestÄndig trug ich es in mir herum, dieses Buddhagesicht mit der faltenlosen Haut und dem seltsamen, immerwÄhrenden LÄcheln.
          Ein einziges Mal noch - im September - hatte mich der Untersuchungsrichter holen lassen und miñtrauisch gefragt, wie ich es begrØnden kÃnne, dañ ich bei dem Bankschalter gesagt, ich mØsse dringend verreisen, und warum ich in den Stunden vor meiner Verhaftung so unruhig gewesen wÄre und meine sÄmtlichen Edelsteine zu mir gesteckt hÄtte.
          Auf meine Antwort, ich sei mit der Absicht umgegangen, mir das Leben zu nehmen, hatte es wieder hinter dem Schreibtisch hÃhnisch gemeckert. -
          Bis dahin war ich allein in meiner Zelle gewesen und konnte meinen Gedanken, meiner Trauer um Charousek, der, wie ich fØhlte, lÄngst tot sein muñte, und Laponder und meiner Sehnsucht nach Mirjam nachhÄngen.
          Dann kamen wieder neue Gefangene: diebische Kommis mit verlebten Gesichtern, dickwanstige Bankkassierer, - "Waisenkinder", wie der schwarze VÕssatka sie genannt haben wØrde, - und verpesteten mir die Luft und die Stimmung.
          Eines Tages gab einer von ihnen voll EntrØstung zum besten, dañ vor geraumer Zeit ein Lustmord in der Stadt geschehen sei. Zum GlØck hÄtte man den TÄter sogleich erwischt und kurzen Prozeñ mit ihm gemacht.
          "Laponder hat er geheiñen, der Schuft, der gottserbÄrmliche", schrie ein Kerl mit einer Raubtierschnauze, der wegen Kindsmiñhandlung zu - 14 Tagen GefÄngnis verurteilt worden war, dazwischen. "Auf frischer Tat habn's'n g'fañt. Die Lampen is umg'fallen bei dem Krawall und's Zimmer is ausbrennt. Die Leich' von dem MÄdel is dabei so verkohlt, dañ mer bis zum heutigen Tage noch nÃt hat rausbringen kÃnnen, wer sie eigentlich war. Schwarze Haar hat's g'habt und a schmal's G'sicht, dÃs is alls, was mer weiñ. Und der Laponder hat net ums Verrecken rausg'rØckt mit ihrem Namen. - Wann's nach mir gangen wÄr, i hÄtt ihm d'Haut ab'zogen und Pfeffer drauf g'streut. - DÃs san halt die feinen Herren! MÃrder san's, alle z'samm. - - - - Als ob's net anderne Mittel g'nua gebet, wann aner a MÄdel los sein wØll", setzte er mit zynischem LÄcheln hinzu.
          Die Wut kochte in mir, und am liebsten hÄtte ich den Halunken zu Boden geschlagen.
          Nacht fØr Nacht schnarchte er in dem Bett, auf dem Laponder gelegen. Ich atmete auf, als er endlich freigelassen wurde.
          Aber selbst da war ich ihn noch nicht los: seine Rede hatte sich wie ein Pfeil mit Widerhaken in mich eingebohrt.
          Fast bestÄndig, hauptsÄchlich in der Dunkelheit, nagte jetzt in mir der grausige Verdacht, Mirjam kÃnnte das Opfer Laponders gewesen sein.
          Je mehr ich dagegen ankÄmpfte, desto tiefer verstrickte ich mich in dem Gedanken, bis er beinahe zur fixen Idee wurde.
          Manchmal, besonders wenn der Mond grell durchs Gitter schien, wurde es besser: ich konnte mir die Stunden, die ich mit Laponder verlebt, dann lebendig machen, und das tiefe GefØhl fØr ihn verscheuchte mir die Qual, - aber nur zu oft kamen die grÄñlichen Minuten wieder, wo ich Mirjam ermordet und verkohlt im Geiste vor mir sah und glaubte, vor Angst den Verstand verlieren zu mØssen.
          Die schwachen Anhaltspunkte, die ich fØr meinen Verdacht hatte, verdichteten sich in solchen Zeiten zu einem geschlossenen Ganzen, - zu einem GemÄlde voll unbeschreiblich entsetzenerregender Einzelheiten.
          Anfang November gegen 10 Uhr abends, es war bereits stockfinster und die Verzweiflung in mir hatte einen derartigen HÃhepunkt erreicht, dañ ich mich, um nicht laut aufzuschreien, in meinen Strohsack verbiñ wie ein verdurstendes Tier, Ãffnete plÃtzlich der GefangenwÄrter die Zelle und forderte mich auf, mit ihm zum Untersuchungsrichter zu kommen. Ich fØhlte mich so schwach, dañ ich mehr taumelte als ging.
          Die Hoffnung, jemals dieses schreckliche Haus verlassen zu dØrfen, war lÄngst in mir gestorben.
          Ich machte mich darauf gefañt, wieder eine kalte Frage gestellt zu bekommen, das stereotype Gemecker hinter dem Schreibtisch zu hÃren und dann zurØck in die Finsternis zu mØssen.
          Der Herr Baron Leisetreter war bereits nach Hause gegangen und nur ein alter, buckliger Schreiber mit Spinnenfingern stand im Zimmer.
          Dumpf wartete ich, was mit mir geschehen wØrde.
          Es fiel mir auf, dañ der GefangenwÄrter mit hereingekommen war und mir gutmØtig zublinzelte, aber ich war viel zu niedergeschlagen, als dañ ich mir Øber die Bedeutung alles dessen hÄtte klarwerden kÃnnen.
          "Die Untersuchung hat ergeben", fing der Schreiber an, meckerte, stieg auf einen Sessel und kramte erst lange auf dem BØcherbord nach SchriftstØcken, ehe er fortfuhr: "hat ergeben, dañ der in Frage kommende Karl Zottmann vor seinem Tode anlÄñlich einer heimlichen Zusammenkunft mit der unverehelichten ehemaligen Prostituierten Rosina Metzeles, die damaliger Zeit den Spitznamen 'die rote Rosina' fØhrte, dann spÄter von einem taubstummen, nunmehr unter polizeilicher Aufsicht stehenden Silhubettenschneider namens Jaromir KwÂñnitschka aus dem Weinsalon 'Kautsky' losgekauft wurde und seit einigen Monaten mit Seiner Durchlaucht dem FØrsten Ferri AthenstÄdt im gemeinsamen, wilden Konkubinate als Maiteresse lebt, von hinterlistiger Hand in ein unterirdisches, aufgelassenes KellergewÃlbe des Hauses Nummer conscriptionis 21873, gebrochen durch rÃmisch III, der Hahnpañgasse, laufende Numero sieben, gelockt, dortselbst eingeschlossen und sich selbst, beziehungsweise dem Tode durch Verhungern oder Erfrieren Øberlassen wurde. - - Der obenerwÄhnte Zottmann nÄmlich", erklÄrte der Schreiber mit einem Blick Øber die Brille hinweg und blÄtterte ein paarmal um.
          "Die Untersuchung hat weiters ergeben, dañ der obenerwÄhnte Karl Zottmann allem Anscheine nach - nach eingetretenem Ableben - seiner sÄmtlichen bei ihm getragenen Habseligkeiten, insbesondere seiner sub faszikel rÃmisch P gebrochen durch 'BÄh' beigeschlossenen doppelmanteligen Taschenuhr" - der Schreiber hob die Uhr an der Kette in die HÃhe - "beraubt wurde. Der eidesstattlichen Aussage des Silhubettenschnitzers Jaromir KwÂñnitschka, verwaisten Sohnes des vor 17 Jahren verstorbenen HostienbÄckers gleichen Namens: die Uhr im Bette seines inzwischen flØchtig gegangenen Bruders Loisa gefunden und an den AltwarenhÄndler und mehrfachen, inzwischen aus dem Leben geschiedenen RealitÄtenbesitzer Aaron Wassertrum gegen Inempfangnahme von Geldeswert verÄuñert zu haben, konnte mangels GlaubwØrdigkeit kein Gewicht beigelegt werden.
          Die Untersuchung hat weiters ergeben, dañ die Leiche des erwÄhnten Karl Zottmann in der rØckwÄrtigen Hosentasche zur Zeit ihrer Auffindung ein Notizbuch bei sich trug, in der sie vermutlich bereits einige Tage vor erfolgtem Ableben mehrere den Tatbestand erhellende und die Ergreifung des TÄters durch die k. k. BehÃrden erleichternde Eintragungen vorgenommen hatte.
          Das Augenmerk einer hohen k. und k. Staatsanwaltschaft wurde demzufolge auf den nunmehr durch die Zottmannschen letztwilligen Notizen dringend verdÄchtig gewordenen Loisa KwÂñnitschka, zurzeit flØchtig, gelenkt und unter einem verfØgt, die Untersuchungshaft gegen Athanasius Pernath, Gemmenschneider, dermalen noch unbescholten, aufzuheben, und das Verfahren gegen ihn einzustellen.
          Prag im Juli
          gezeichnet
          Dr. Freiherr von Leisetreter."
          0x01 graphic

          Der Boden schwankte unter meinen FØñen, und ich verlor eine Minute das Bewuñtsein.
          Als ich erwachte, sañ ich auf einem Stuhl, und der GefangenwÄrter klopfte mir freundlich auf die Schulter.
          Der Schreiber war vollkommen ruhig geblieben, schnupfte, schneuzte sich und sagte zu mir:
          "Die Verlesung der VerfØgung hat sich bis heute hinausgezogen, weil Ihr Name mit einem 'PÄh' beginnt und naturgemÄñ im Alphabet erst gegen Schluñ vorkommen kann." - Dann las er weiter:
          "øberdies ist der Athanasius Pernath, Gemmenschneider, in Kenntnis zu setzen, dañ ihm laut testamentarischer VerfØgung des im Mai mit Tod abgegangenen stud. med. Innocenz Charousek ein Drittel von dessen gesamter Verlassenschaft ins Erbe zugefallen ist, und ist er zur Unterfertigung des Protokolls hiermit anzuhalten."
          Der Schreiber hatte bei dem letzten Wort die Feder eingetunkt und fing an zu schmieren.
          Ich erwartete gewohnheitsmÄñig, dañ er meckern wØrde, aber er meckerte nicht.
          "Innocenz Charousek", murmelte ich ihm wie geistesabwesend nach.
          Der GefangenwÄrter beugte sich Øber mich und flØsterte mir ins Ohr:
          "Kurz vor seinem Tode war er bei mir, der Herr Dr. Charousek, und hat sich nach Ihnen erkundigt. Er lÄñt Sie viel-vielmals grØñen, hat er g'sagt. Ich hab's natØrlich damals nicht ausrichten dØrfen. Es ist streng verboten. Ein schreckliches Ende hat er Øbrigens genommen, der Herr Dr. Charousek. Er hat sich selbst entleibt. Man hat ihn tot auf dem GrabhØgel des Aaron Wassertrum, auf der Brust liegend, gefunden. - Er hat zwei tiefe LÃcher in die Erde gegraben gehabt, sich die Pulsadern aufgeschnitten und dann die Arme in die LÃcher gesteckt. So ist er verblutet. Er ist wahrscheinlich wahnsinnig gewesen, der Herr Dr. Char - - -"
          Der Schreiber schob gerÄuschvoll seinen Stuhl zurØck und reichte mir die Feder zum Unterschreiben.
          Dann richtete er sich stolz auf und sagte genau im Tonfall seines freiherrlichen Vorgesetzten:
          "GefangenwÄrter, fØhren Sie den Mann hinaus."
          0x01 graphic

          Wie vor langer, langer Zeit hatte wiederum der Mann mit SÄbel und Unterhosen im Torzimmer seine KaffeemØhle vom Schoñ genommen; nur dañ er mich diesmal nicht untersuchte und mir meine Edelsteine, das Portemonnaie mit den zehn Gulden darin, meinen Mantel und alles Øbrige zurØckgab. - - -
          0x01 graphic

          Dann stand ich auf der Strañe.
          "Mirjam! Mirjam! Jetzt endlich naht das Widersehen!" - Ich unterdrØckte einen Schrei wildesten EntzØckens.
          Es muñte Mitternacht sein. Der Vollmond schwebte glanzlos wie ein fahler Messingteller hinter Dunstschleiern.
          Das Pflaster war mit einer zÄhen Schicht von Schmutz bedeckt.
          Ich wankte auf eine Droschke zu, die im Nebel aussah wie ein zusammengebrochenes vorsintflutliches Ungeheuer. Meine Beine versagten fast den Dienst; ich hatte das Gehen verlernt und taumelte - auf empfindungslosen Sohlen wie ein RØckenmarkskranker. - -
          "Kutscher, fahren Sie mich, so rasch Sie kÃnnen, in die Hahnpañgasse 7! - Haben Sie mich verstanden?: - Hahnpañgasse 7."

    Frei


          Nach wenigen Metern Fahrt blieb die Droschke stehn.
          "HahnpañgassÄ, gnÄ' Herr?"
          "Ja, ja, nur rasch."
          Wieder fuhr der Wagen ein StØck weiter. Wieder blieb er stehen.
          "Um Himmels willen, was gibt's denn?"
          "HahnpañgassÄØ, gnÄ' Herr?"
          "Ja, ja. Ja doch."
          "In die HahnpañgassÄ kann me doch nicht fahrrÄhn!"
          "Warum denn nicht?"
          "Ise sich doch ieberall Pflaste aufgrissen, Judenstadt wirde sich doch assaniert."
          "Also fahren Sie eben, soweit Sie kÃnnen, aber jetzt rasch gefÄlligst."
          Die Droschke machte einen einzigen Galoppsprung und stolperte dann gemÄchlich weiter.
          Ich lieñ die klapprigen Fenster herunter und sog mit gierigen Lungen die Nachtluft ein.
          Alles war mir so fremd geworden, so unbegreiflich neu: die HÄuser, die Strañen, die geschlossenen LÄden. Ein weiñer Hund trabte einsam und miñgelaunt auf dem nassen Trottoir vorØber. Ich sah ihm nach. - Wie sonderbar!! Ein Hund! Ich hatte ganz vergessen, dañ es solche Tiere gab. - Vor Freude kindisch rief ich ihm nach: "Aber, aber! Wie kann man nur so verdrossen sein." - - -
          Was Hillel wohl sagen wØrde!? - Und Mirjam?
          Nur noch wenige Minuten und ich war bei ihnen. Nicht eher wollte ich aufhÃren, an ihre TØr zu klopfen, bis ich sie aus den Federn getrieben.
          Jetzt war ja alles gut - all der Jammer dieses Jahres vorØber! -
          WØrde das ein Weihnachten werden!
          Diesmal durfte ich es nicht verschlafen, wie das letztemal.
          Einen Augenblick lahmte mich wieder das alte Entsetzen: die Worte des StrÄflings mit der Raubtierschnauze fielen mir ein. Das verbrannte Gesicht - der Lustmord - aber nein, nein! - Ich schØttelte es gewaltsam ab: nein, nein, es konnte, es konnte nicht sein. - Mirjam lebte! Ich hatte doch ihre Stimme aus Laponders Mund gehÃrt.
          Nur noch eine Minute - eine halbe - - und dann -
          Die Droschke hielt vor einem TrØmmerhaufen. Barrikaden aus Pflastersteinen Øberall!
          Rote Laternen brannten darauf.
          Beim Schein von Fackeln grub und schaufelte ein Heer von Arbeitern.
          Halden von Schutt und Mauerbrocken versperrten den Weg. Ich kletterte umher, versank bis ans Knie.
          Das hier, das muñte doch die Hahnpañgasse sein?!
          MØhsam orientierte ich mich. Nichts als Ruinen ringsum.
          Stand denn da nicht das Haus, in dem ich gewohnt hatte?
          Die Vorderseite war eingerissen.
          Ich kletterte auf einen ErdhØgel; tief unter mir lief ein schwarzer, gemauerter Gang die ehemalige Gasse entlang. Ich schaute empor: wie riesige Bienenzellen hingen die bloñgelegten WohnrÄume nebeneinander in der Luft, halb vom Fackelschein, halb von dem trØben Mondlicht beschienen.
          Das dort oben, das muñte mein Zimmer sein - ich erkannte es an der Bemalung der WÄnde.
          Nur noch ein Streifen davon war Øbrig.
          Und daranstoñend das Atelier - Saviolis. Mir wurde plÃtzlich ganz leer im Herzen. Wie seltsam! Das Atelier! - Angelina! - - So weit, so unabsehbar fern lag das alles hinter mir!
          Ich drehte mich um: von dem Haus, in dem Wassertrum gewohnt, kein Stein mehr auf dem andern. Alles dem Erdboden gleichgemacht: der TrÃdlerladen, die Kellerwohnung Charouseks - - - alles, alles.
          "Der Mensch geht dahin wie ein Schatten" - fiel mir ein Satz ein, den ich einmal irgendwo gelesen.
          Ich fragte einen Arbeiter, ob er nicht wisse, wo die Leute jetzt wohnten, die hier ausgezogen seien; ob er vielleicht den Archivar Schemajah Hillel kenne.
          "Nix daitsch", war die Antwort.
          Ich schenkte dem Mann einen Gulden: er verstand zwar sofort deutsch, konnte mir aber keine Auskunft geben.
          Auch von seinen Kameraden niemand.
          Vielleicht, dañ beim "Loisitschek" etwas zu erfahren wÄre?
          Der "Loisitschek" sei gesperrt, hieñ es, das Haus wØrde renoviert.
          Also irgend jemand in der Nachbarschaft wecken! - Ging das nicht?
          "Weit a breit wohnt sich keine Katz," sagte der Arbeiter; "weil ise behÄrdlich verbotten. Von wÄgen Typhus."
          "Der 'Ungelt'? Der wird doch offen haben?"
          "Ungelt ise sich geschlossen."
          "Bestimmt?"
          "Bestimmt!"
          Aufs Geratewohl nannte ich ein paar Namen von HÃcklern und Tabaktrafikantinnen, die in der NÄhe gewohnt hatten; dann die Namen Zwakh, Vrieslander, Prokop - -
          Bei allen schØttelte der Mann den Kopf.
          "Vielleicht kennen Sie den Jaromir KwÂñnitschka?"
          Der Arbeiter horchte auf.
          "Jaromir? Ise sich taubstumm?"
          Ich jubelte. Gott sei Dank. Wenigstens ein Bekannter.
          "Ja, er ist taubstumm. Wo wohnt er?"
          "Schneid 'e sich Bildeln aus? Aus schwarzem Pappjir?"
          "Ja. Er ist es schon. Wo kann ich ihn wohl treffen?"
          So umstÄndlich wie mÃglich bezeichnete mir der Mann ein NachtcafÊhaus in der inneren Stadt und fing sofort wieder an zu schaufeln.
          øber eine Stunde lang watete ich durch Schuttfelder, balancierte Øber schwankende Bretter und kroch unter Querbalken durch, die die Strañen versperrten. Das ganze Judenviertel war eine einzige SteinwØste, als hÄtte ein Erdbeben die Stadt zerstÃrt.
          Atemlos vor Aufregung, schmutzbedeckt und mit zerrissenen Schuhen fand ich mich endlich aus dem Labyrinth heraus.
          Ein paar HÄuserreihen, und ich stand vor der gesuchten Spelunke.
          "Cafe Chaos" stand darØber geschrieben.
          Ein menschenleeres, winziges Lokal, das kaum genØgend Platz lieñ fØr die paar Tische, die an die WÄnde gerØckt waren.
          In der Mitte auf einem dreibeinigen Billard schlief ein Kellner und schnarchte.
          Ein Marktweib, mit einem GemØsekorb vor sich, sañ in der Ecke und nickte Øber einem Glase Caj.
          Endlich geruhte der Kellner aufzustehen und mich zu fragen, was ich wØnschte. Bei dem frechen Blick, mit dem er mich vom Kopf bis zu Fuñ musterte, kam mir erst zum Bewuñtsem, wie abgerissen ich aussehen muñte.
          Ich warf einen Blick in den Spiegel und entsetzte mich: ein fremdes, blutleeres Gesicht, faltig, grau wie Kitt, mit struppigem Bart und wirrem, langem Haar starrte mir entgegen.
          Ob der Silhouettenschneider Jaromir nicht dagewesen sei, fragte ich und bestellte schwarzen Kaffee.
          "Woañ net, wo er so lang bleibt", war die gegÄhnte Antwort.
          Dann legte sich der Kellner wieder auf das Billard und schlief weiter.
          Ich nahm das "Prager Tagblatt" von der Wand und - wartete.
          Die Buchstaben liefen wie Ameisen Øber die Seiten, und ich begriff nicht ein einziges Wort von dem, was ich las.
          Die Stunden vergingen, und hinter den Scheiben zeigte sich bereits das verdÄchtige tiefe Dunkelblau, das den Einbruch der MorgendÄmmerung fØr ein Lokal mit Gasbeleuchtung anzeigt.
          Hie und da spÄhten ein paar Schutzleute mit grØnlich schillernden FederbØschen herein und gingen in langsamem, schwerem Schritt wieder weiter.
          Drei ØbernÄchtig aussehende Soldaten traten ein.
          Ein Strañenkehrer nahm einen Schnaps.
          Endlich, endlich: Jaromir.
          Er hatte sich so verÄndert, dañ ich ihn anfangs gar nicht wiedererkannte: die Augen erloschen, die VorderzÄhne ausgefallen, das Haar schØtter und tiefe HÃhlen hinter den Ohren.
          Ich war so froh, nach so langer Zeit wieder ein bekanntes Gesicht zu sehen, dañ ich aufsprang, ihm entgegenging und seine Hand fañte.
          Er benahm sich auñerordentlich scheu und blickte immerwÄhrend nach der TØre. Durch alle mÃglichen Gesten suchte ich ihm begreiflich zu machen, dañ ich mich freute, ihn getroffen zu haben. - Er schien es mir lange nicht zu glauben.
          Aber, was fØr Fragen ich auch stellte, stets die gleiche hilflose Handbewegung des Nichtverstehens bei ihm.
          Wie konnte ich mich nur verstÄndlich machen?!
          Halt! Eine Idee!
          Ich lieñ mir einen Bleistift geben und zeichnete nacheinander die Gesichter von Zwakh, Vrieslander und Prokop auf.
          "Was? Alle nicht mehr in Prag?"
          Er fuchtelte lebhaft in der Luft herum, machte die GebÄrde des GeldzÄhlens, marschierte mit den Fingern Øber den Tisch, schlug sich auf den HandrØcken. Ich erriet: alle drei hatten wahrscheinlich von Charousek Geld bekommen und zogen jetzt als kaufmÄnnische Kompagnie mit dem vergrÃñerten Marionettentheater durch die Welt.
          "Und Hillel? Wo wohnt er jetzt?" - Ich zeichnete sein Gesicht, ein Haus dazu und ein Fragezeichen.
          Das Fragezeichen verstand Jaromir nicht; - er konnte nicht lesen, aber er begriff, was ich wollte, - nahm ein Streichholz, warf es scheinbar in die HÃhe und lieñ es nach Taschenspielerart geschickt verschwinden.
          Was bedeutete das? Hillel sollte auch verreist sein?
          Ich zeichnete das jØdische Rathaus auf.
          Der Taubstumme schØttelte heftig den Kopf.
          "Hillel ist also nicht mehr dort?"
          "Nein!" (KopfschØtteln.)
          "Wo ist er denn?"
          Wieder das Spiel mit dem Streichholz.
          "Er meint halt, dañ der Herr weg ist, und niem'd weiñ nicht, wohin", mischte sich der Strañenkehrer, der uns die ganze Zeit Øber interessiert zugesehen hatte, belehrend ein.
          Vor Schreck krampfte sich mir das Herz zusammen: Hillel fort! - Jetzt war ich ganz allein auf der Welt. - - Die GegenstÄnde im Zimmer fingen vor meinen Augen an zu flimmern.
          "Und Mirjam?"
          Meine Hand zitterte so stark, dañ ich ihr Gesicht lange nicht Ähnlich zeichnen konnte.
          "Ist Mirjam auch verschwunden?"
          "Ja. Auch verschwunden. Spurlos."
          Ich stÃhnte laut auf, lief im Zimmer hin und her, dañ die drei Soldaten einander fragend anblickten.
          Jaromir suchte mich zu beruhigen und bemØhte sich, mir noch etwas anderes mitzuteilen, was er erfahren zu haben schien: er legte den Kopf auf den Arm, wie jemand, der schlÄft.
          Ich hielt mich an der Tischplatte: "Um Gottes Christi willen, Mirjam ist gestorben?"
          KopfschØtteln. Jaromir wiederholte die GebÄrde des Schlafens.
          "War Mirjam krank gewesen?" Ich zeichnete eine Medizinflasche.
          KopfschØtteln. Wieder legte Jaromir die Stirn auf den Arm. - - -
          Das Zwielicht kam, eine Gasflamme nach der andern erlosch und noch immer konnte ich nicht herausbringen, was die Geste bedeuten sollte.
          Ich gab es auf. Dachte nach.
          Das einzige, was mir zu tun blieb, war, in aller FrØhe auf das jØdische Rathaus zu gehen, um dort Erkundigungen einzuziehen, wohin Hillel mit Mirjam gereist sein kÃnne.
          Ich muñte ihm nach. - - -
          Wortlos sañ ich neben Jaromir. Stumm und taub wie er.
          Als ich nach einer langen Zeit aufblickte, sah ich, dañ er mit einer Schere an einer Silhouette herumschnitt.
          Ich erkannte das Profil Rosinas. Er reichte mir das Blatt Øber den Tisch herØber, legte die Hand auf die Augen und - weinte still vor sich hin. - -
          Dann sprang er plÃtzlich auf und taumelte ohne Gruñ zur TØr hinaus.
          0x01 graphic

          Der Archivar Schemajah Hillel sei eines Tages ohne Grund ausgeblieben und nicht mehr wiedergekommen; seine Tochter habe er jedenfalls mitgenommen, denn auch sie sei von niemand mehr gesehen worden seit jener Zeit, hatte man mir auf dem jØdischen Rathaus gesagt. Das war alles, was ich erfahren konnte.
          Keine Spur, wohin sie sich gewandt haben mochten.
          Auf der Bank hieñ es, mein Geld sei gerichtlich immer noch mit Beschlag belegt, man erwarte aber tÄglich den Bescheid, es mir auszahlen zu dØrfen.
          Also auch die Erbschaft Charouseks muñte noch den Amtsweg gehen, und ich wartete doch mit brennender Ungeduld auf das Geld, um dann alles aufzubieten, Hillels und Mirjams Spur zu suchen.
          0x01 graphic

          Ich hatte meine Edelsteine verkauft, die ich noch in der Tasche gehabt, und mir zwei kleine, mÃblierte, aneinanderstoñende Dachkammern in der Altschulgasse - die einzige Gasse, die von der Assanierung der Judenstadt verschont geblieben, - gemietet.
          Sonderbarer Zufall: es war dasselbe wohlbekannte Haus, von dem die Sage ging, der Golem sei einst darin verschwunden.
          Ich hatte mich bei den Bewohnern - zumeist kleine Kaufleute oder Handwerker - erkundigt, was denn Wahres an dem GerØcht von dem "Zimmer ohne Zugang" sei, und war ausgelacht worden. - Wie man einen derartigen Unsinn denn glauben kÃnne!
          Meine eigenen Erlebnisse, die sich darauf bezogen, hatten im GefÄngnis die BlÄsse eines lÄngst verwehten Traumbildes angenommen und ich sah in ihnen nur noch Symbole ohne Blut und Leben, - strich sie aus dem Buch meiner Erinnerungen.
          Die Worte Laponders, die ich zuweilen so klar in mir hÃrte, als sÄñe er mir gegenØber wie damals in der Zelle und sprÄche zu mir, bestÄrkten mich darin, dañ ich rein innerlich geschaut haben mØsse, was mir ehedem greifbare Wirklichkeit geschienen.
          War denn nicht alles vergangen und verschwunden, was ich einst besessen hatte? Das Buch Ibbur, das phantastische Tarockspiel, Angelina und sogar meine alten Freunde Zwakh, Vrieslander und Prokop! - - -
          0x01 graphic

          Es war Weihnachtsabend, und ich hatte mir einen kleinen Baum mit roten Kerzen nach Hause gebracht. Ich wollte noch einmal jung sein und Lichterglanz um mich haben und den Duft von Tannennadeln und brennendem Wachs.
          Ehe das Jahr noch zu Ende ging, war ich vielleicht schon unterwegs und suchte in StÄdten und DÃrfern, oder wohin es mich innerlich ziehen wØrde, nach Hillel und Mirjam.
          Alle Ungeduld, alles Warten war allmÄhlich von mir gewichen und alle Furcht, Mirjam kÃnne ermordet worden sein, und mit dem Herzen wuñte ich, ich wØrde sie beide finden.
          Es war ein bestÄndiges glØckliches LÄcheln in mir, und wenn ich meine Hand auf etwas legte, kam mir's vor, als ginge ein Heilen von ihr aus. Die Zufriedenheit eines Menschen, der nach langer Wanderung heimkehrt und die TØrme seiner Vaterstadt von weitem blinken sieht, erfØllte mich auf ganz sonderbare Weise.
          Einmal war ich noch in dem kleinen Kaffeehaus gewesen, um Jaromir zum Weihnachtsabend zu mir zu holen. - Er habe sich nie mehr blicken lassen, erfuhr ich, und schon wollte ich betrØbt wieder gehen, da kam ein alter TabulettkrÄmer herein und bot kleine, wertlose AntiquitÄten zum Kauf an.
          Ich kramte in seinem Kasten unter all den UhranhÄngseln, kleinen Kruzifixen, Kammnadeln und Broschen herum, da fiel mir ein Herz aus rotem Stein an einem verschossenen Seidenbande in die Hand, und ich erkannte es voll Erstaunen als das Andenken, das mir Angelina, als sie noch ein kleines MÄdchen gewesen, einst beim Springbrunnen in ihrem Schloñ geschenkt hatte.
          Und mit einem Schlag stand meine Jugendzeit vor mir, als sÄhe ich in einen Guckkasten tief hinein in ein kindlich gemaltes Bild. -
          Lange, lange stand ich erschØttert da und starrte auf das kleine, rote Herz in meiner Hand. - - -
          0x01 graphic

          Ich sañ in der Dachkammer und lauschte dem Knistern der Tannennadeln, wenn hie und da ein kleiner Zweig Øber den Wachskerzen zu glimmen begann.
          "Vielleicht spielt gerade jetzt in dieser Stunde der alte Zwakh irgendwo in der Welt seinen 'Marionettenweihnachtsabend'", malte ich mir aus, - "und deklamiert mit geheimnisvoller Stimme die Strophe seines Lieblingsdichters Oskar Wiener":
          Wo ist das Herz aus rotem Stein?
          Es hÄngt an einem Seidenbande.
          O du, o gib das Herz nicht her;
          Ich war ihm treu und hatt' es lieb,
          Und diente sieben Jahre schwer
          Um dieses Herz, und hatt' es lieb!"
          EigentØmlich feierlich wurde mir plÃtzlich zumute.
          Die Kerzen waren heruntergebrannt. Nur eine einzige flackerte noch. Rauch ballte sich im Zimmer.
          Als ob mich eine Hand zÃge, wandte ich mich plÃtzlich um und:
          Da stand mein Ebenbild auf der Schwelle. Mein DoppelgÄnger. In einem weiñen Mantel. Eine Krone auf dem Kopf.
          Nur einen Augenblick.
          Dann brachen Flammen durch das Holz der TØr, und eine Wolke erstickenden heiñen Qualms schlug herein:
          Feuersbrunst im Haus! Feuer! Feuer!
          0x01 graphic

          Ich reiñe das Fenster auf. Klettere auf das Dach hinaus.
          Von weitem rast schon das gellende Klingeln der Feuerwehr heran.
          Blitzende Helme und abgehackte Kommandorufe.
          Dann das gespenstische, rhythmische, schlapfende Atmen der Pumpen, wie die DÄmonen des Wassers sich ducken zum Sprung auf ihren Todfeind: das Feuer.
          Glas klirrt und rote Lohe schieñt aus allen Fenstern.
          Matratzen werden hinuntergeworfen, die ganze Strañe liegt voll davon, Menschen springen nach, werden verwundet weggetragen.
          In mir aber jauchzt etwas auf in wilder jubelnder Ekstase; ich weiñ nicht warum. Das Haar strÄubt sich mir.
          Ich laufe auf den Schornstein zu, um nicht versengt zu werden, denn die Flammen greifen nach mir.
          Das Seil eines Rauchfangkehrers ist herumgewickelt.
          Ich rolle es auf, schlinge es um Handgelenk und Bein, wie ich es als Knabe beim Turnen gelernt habe, und lasse mich ruhig an der Fassade des Hauses hinab. -
          Komme an einem Fenster vorbei. Blicke hinein:
          Drin ist alles blendend erleuchtet.
          Und da sehe ich - - - da sehe ich - - - mein ganzer KÃrper wird ein einziger hallender Freudenschrei:
          "Hillel! Mirjam! Hillel!"
          Ich will auf die GitterstÄbe losspringen.
          Greife daneben. Verliere den Halt am Seil.
          Einen Augenblick hÄnge ich, Kopf abwÄrts, die Beine gekreuzt, zwischen Himmel und Erde.
          Das Seil singt bei dem Ruck. Knirschend dehnen sich die Fasern.
          Ich falle.
          Mein Bewuñtsein erlischt.
          Noch im Sturz greife ich nach dem Fenstersims, aber ich gleite ab. Kein Halt:
          der Stein ist glatt.
          Glatt wie ein StØck Fett.
          0x01 graphic

    Schluñ


          "- - - wie ein StØck fett!"
          Das ist der Stein, der aussieht wie ein StØck Fett.
          Die Worte gellen mir noch in den Ohren. Dann richte ich mich auf und muñ mich besinnen, wo ich bin.
          Ich liege im Bett und wohne im Hotel.
          Ich heiñe doch gar nicht Pernath.
          Habe ich das alles nur getrÄumt?
          Nein! So trÄumt man nicht.
          Ich schaue auf die Uhr: kaum eine Stunde habe ich geschlafen. Es ist halb drei.
          Und dort hÄngt der fremde Hut, den ich heute im Dom auf dem Hradschin verwechselt habe, als ich beim Hochamt auf der Betbank sañ.
          Steht ein Name darin?
          Ich nehme ihn und lese in goldenen Buchstaben auf dem weiñen Seidenfutter den fremden und doch so bekannten Namen:

    ATHANASIUS PERNATH


          Jetzt lÄñt es mir keine Ruhe mehr; ich ziehe mich hastig an und laufe die Treppe hinunter.
          "Portier! Aufmachen! Ich gehe noch eine Stunde spazieren."
          "Wohin, bitt schÄn?"
          "In die Judenstadt. In die Hahnpañgasse. Gibt's Øberhaupt eine Strañe, die so heiñt?"
          "Freilich, freilich" - der Portier lÄchelt malitiÃs - "aber in der Judenstadt, ich mache aufmerksam: ist nicht mehr viel los. Alles neu gebaut, bitte."
          "Macht nichts. Wo liegt die Hahnpañgasse?"
          Der dicke Finger des Portiers deutet auf die Karte: "Hier, bitte."
          "Und die Schenke 'Zum Loisitschek'?"
          "Hier, bitte."
          "Geben Sie mir ein groñes StØck Papier."
          "Hier, bitte."
          Ich wickle Pernaths Hut hinein. MerkwØrdig: er ist fast neu, tadellos sauber und doch so brØchig, als wÄre er uralt. -
          Unterwegs Øberlege ich:
          Alles, was dieser Athanasius Pernath erlebt hat, habe ich im Traum miterlebt, in einer Nacht mitgesehen, mitgehÃrt, mitgefØhlt, als wÄre ich er gewesen. Warum weiñ ich denn aber nicht, was er in dem Augenblick, als der Strick riñ und er "Hillel, Hillel!" rief, hinter dem Gitterfenster erblickt hat?
          Er hat sich in diesem Augenblick von mir getrennt, begreife ich.
          Ich muñ diesen Athanasius Pernath auffinden, und wenn ich drei Tage und drei NÄchte herumlaufen sollte, nehme ich mir vor. - - -
          0x01 graphic

          Also das ist die Hahnpañgasse?
          Nicht annÄhernd so habe ich sie im Traum gesehen! -
          Lauter neue HÄuser.
          Eine Minute spÄter sitze ich im CafÊ Loisitschek. Ein stilloses, ziemlich sauberes Lokal.
          Im Hintergrund allerdings eine Estrade mit HolzgelÄnder; eine gewisse ähnlichkeit mit dem alten getrÄumten "Loisitschek" ist nicht zu leugnen.
          "Befehlen, bitt' schÃn?", fragt die Kellnerin, ein dralles MÄdel, in einen rotsamtenen Frack buchstÄblich hineingeknallt.
          "Kognak, FrÄulein. - So, danke."
          0x01 graphic

          "- Hm. FrÄulein!"
          "Bitte?"
          "Wem gehÃrt das Kaffeehaus?"
          "Dem Herrn Kommerzialrat Loisitschek. - Das ganze Haus gehÃrt ihm. Ein sehr feiner reicher Herr."
          - Aha, der Kerl mit den SchweinszÄhnen an der Uhrkette! erinnere ich mich. -
          Ich habe einen guten Einfall, der mich orientieren wird:
          "FrÄulein!"
          "Bitte?"
          "Wann ist die steinerne BrØcke eingestØrzt?"
          "Vor dreiunddreiñig Jahren."
          "Hm. Vor dreiunddreiñig Jahren!" - ich Øberlege: der Gemmenschneider Pernath muñ also jetzt fast neunzig sein.
          "FrÄulein!"
          "Bitte?"
          "Ist hier niemand unter den GÄsten, der sich noch erinnern kann, wie die alte Judenstadt von damals ausgesehen hat? Ich bin Schriftsteller und interessiere mich dafØr."
          Die Kellnerin denkt nach: "Von den GÄsten? Nein. - Aber warten S': der Billardmarqueur, der dort mit einem Studenten Carambol spielt, - sehen Sie ihn? Der mit der Hakennase, der Alte, - der hat immer hier gelebt und wird Ihnen alles sagen. Soll ich ihn rufen, wenn er fertig ist?"
          Ich folgte dem Blick des MÄdchens:
          Ein schlanker, weiñhaariger, alter Mann lehnt drØben am Spiegel und kreidet seine Queue. Ein verwØstetes, aber seltsam vornehmes Gesicht. Woran erinnert er mich nur?
          "FrÄulein, wie heiñt der Marqueur?"
          Die Kellnerin stØtzt sich im Stehen mit dem Ellenbogen auf den Tisch, leckt an einem Bleistift, schreibt in Windeseile ihren Vornamen unzÄhlige Male auf die Marmorplatte und lÃscht ihn jedesmal mit nassem Finger rasch wieder aus. Dazwischen wirft sie mir mehr oder minder sengende Glutblicke zu; - je nachdem sie ihr gelingen. UnerlÄñlich ist natØrlich das gleichzeitige Emporziehen der Augenbrauen, denn es erhÃht das MÄrchenhafte des Blickes.
          "FrÄulein, wie heiñt der Marqueur?", wiederhole ich meine Frage. Ich sehe ihr an, sie hÄtte lieber gehÃrt: FrÄulein, warum tragen Sie nicht nur einen Frack? oder etwas ähnliches, aber ich frage es nicht; mir geht mein Traum zu sehr im Kopf herum.
          "No, wie wird er denn heiñen," schmollt sie, "Ferri heiñt er halt. Ferri AthenstÄdt."
          "So so? Ferri AthenstÄdt! - Hm, - also wieder ein alter Bekannter."
          "ErzÄhlen Sie mir doch recht, recht viel von ihm, FrÄulein," girre ich, muñ mich aber sofort mit einem Kognak stÄrken, "Sie plaudern gar so herzig!" (Ich ekle mich vor mir selber.)
          Sie neigt sich geheimnisvoll dicht zu mir, damit mich ihre Haare im Gesicht kitzeln, und flØstert:
          "Der Ferri, der war Ihnen frØher ein ganz ein Geriebener. - Er soll von uraltem Adel gewesen sein - es ist natØrlich nur so ein Gerede, weil er keinen Bart nicht trÄgt - und furchtbar viel Geld g'habt habn. Eine rothaarige JØdin, die schon von Jugend auf eine 'Person' war" - sie schrieb wieder rasch ein paarmal ihren Namen auf - "hat ihn dann ganz ausgezogen. - Punkto Geld mein' ich natØrlich. No, und wie er dann kein Geld nicht mehr gehabt hat, ist sie weg und hat sich von einem hohen Herrn heiraten lassen: von dem ..." - sie flØsterte mir einen Namen ins Ohr, den ich nicht verstehe. "Der hohe Herr hat dann natØrlich auf alle Ehre verzichten mØssen und sich von da an nur mehr Ritter von DÄmmerich nennen dØrfen. No ja. Aber dañ sie frØher eine 'Person' g'wesen ist, hat er ihr halt doch nicht wegwaschen kÃnnen. Ich sag immer -."
          "Fritzi! Zahlen!" ruft jemand von der Estrade herab. -
          Ich lasse meine Blicke durch das Lokal wandern, da hÃre ich plÃtzlich ein leises metallisches Zirpen, wie von einer Grille, hinter mir.
          Ich drehe mich neugierig um. Traue meinen Augen nicht:
          Das Gesicht zur Wand gekehrt, alt wie Methusalem, eine Spieldose, so klein wie eine Zigarettenschachtel, in zitternden SkeletthÄnden sitzt ganz in sich zusammengesunken - der blinde, greise Nephtali Schaffranek in der Ecke und leiert mit der winzigen Kurbel.
          Ich trete zu ihm.
          Im FlØsterton singt er konfus vor sich hin:
          "Frau Pick,
          Frau Hock.
          Und rote, blaue Stern
          die schmusen allerhand.
          Von Messinung, an RÄucherl und Rohn."
          0x01 graphic

          "Wissen Sie, wie der alte Mann heiñt?" frage ich einen vorbeieilenden Kellner.
          "Nein, mein Herr, niemand kennt weder ihn noch seinen Namen. Er selbst hat ihn vergessen. Er ist ganz allein auf der Welt. Bitte, er ist 110 Jahre alt! Er kriegt bei uns jede Nacht einen sogenannten Gnadenkaffee."
          Ich beugte mich Øber den Greis, - rufe ihm ein Wort ins Ohr: "Schaffranek!"
          Es durchfÄhrt ihn wie ein Blitz. Er murmelt etwas, streicht sich sinnend Øber die Stirn.
          "Verstehen Sie mich, Herr Schaffranek?"
          Er nickt.
          "Passen Sie mal gut auf! Ich mÃchte Sie etwas fragen, aus alter Zeit. Wenn Sie mir alles gut beantworten, bekommen Sie den Gulden, den ich hier auf den Tisch lege."
          "Gulden", wiederholt der Greis und fÄngt sofort an, wie ein Rasender auf seiner zirpenden Spieldose zu kurbeln.
          Ich halte seine Hand fest: "Denken Sie einmal nach! - Haben Sie nicht vor etwa 33 Jahren einen Gemmenschneider namens Pernath gekannt?"
          "Hadrbolletz! Hosenschneider!" - lallt er asthmatisch auf und lacht Øbers ganze Gesicht, in der Meinung, ich hÄtte ihm einen famosen Witz erzÄhlt.
          "Nein, nicht Hadrbolletz: - - Pernath!"
          "Pereles?!" - er jubelt fÃrmlich.
          "Nein, auch nicht Pereies. - Per-nath!"
          "Pascheies?!" - er krÄht vor Freude. - -
          Ich gebe enttÄuscht meinen Versuch auf.
          0x01 graphic

          "Sie wollten mich sprechen, mein Herr?", - der Marqueur Ferri AthenstÄdt steht vor mir und verbeugt sich kØhl.
          "Ja. Ganz richtig. - Wir kÃnnen dabei eine Partie Billard spielen."
          "Spielen Sie um Geld, mein Herr? Ich gebe Ihnen 90 auf 100 vor."
          "Also gut: um einen Gulden. Fangen Sie vielleicht an, Marqueur."
          Seine Durchlaucht nimmt das Queue, zielt, gickst, macht ein Ärgerliches Gesicht. Ich kenne das: er lÄñt mich bis 9 kommen, und dann macht er in einer Serie "aus".
          Mir wird immer kurioser zumute. Ich gehe direkt auf mein Ziel los:
          "Entsinnen Sie sich, Herr Marqueur: vor langer Zeit, etwa in den Jahren, als die steinerne BrØcke einstØrzte, in der damaligen Judenstadt einen gewissen - Athanasius Pernath gekannt zu haben?"
          Ein Mann in einer rotweiñgestreiften Leinwandjacke, mit Schielaugen und kleinen goldenen Ohrringen, der auf einer Bank an der Wand sitzt und eine Zeitung liest, fÄhrt auf, stiert mich an und bekreuzigt sich.
          "Pernath? Pernath?" wiederholt der Marqueur und denkt angestrengt nach - "Pernath? - War er nicht groñ, schlank? Braunes Haar, melierten kurzgeschnittenen Spitzbart?"
          "Ja. Ganz richtig."
          "Etwa vierzig Jahre alt damals? Er sah aus wie --", Seine Durchlaucht starrt mich plÃtzlich Øberrascht an. - "Sie sind ein Verwandter von ihm, mein Herr?!"
          Der SchielÄugige bekreuzigt sich.
          "Ich? Ein Verwandter? Komische Idee. - Nein. Ich interessiere mich nur fØr ihn. Wissen Sie noch mehr?", sage ich gelassen, fØhle aber, dañ mir eiskalt im Herzen wird.
          Ferri AthenstÄdt denkt wieder nach.
          "Wenn ich nicht irre, galt er seinerzeit fØr verrØckt. - Einmal behauptete er, er hieñe - warten Sie mal, - ja: Laponder! Und dann wieder gab er sich fØr einen gewissen - Charousek aus."
          "Kein Wort wahr!" fÄhrt der SchielÄugige dazwischen. "Den Charousek hat's wirklich gegeben. Mein Vater hat doch mehrere 1000 fl von ihm geerbt."
          "Wer ist dieser Mann?", fragte ich den Marqueur halblaut.
          "Er ist FÄhrmann und heiñt Tschamrda. - Was den Pernath betrifft, so erinnere ich mich nur, oder glaube es wenigstens - dañ er in spÄteren Jahren eine sehr schÃne, dunkelhÄutige JØdin geheiratet hat."
          "Mirjam!" sage ich mir und werde so aufgeregt, dañ mir die HÄnde zittern und ich nicht mehr weiterspielen kann.
          Der FÄhrmann bekreuzigt sich.
          "Ja, was ist denn heute mit Ihnen los, Herr Tschamrda?", fragt der Marqueur erstaunt.
          "Der Pernath hat niemals nicht gelebt", schreit der SchielÄugige los. "Ich glaub's nicht."
          Ich schenke dem Mann sofort einen Kognak ein, damit er gesprÄchiger wird.
          "Es gibt ja wohl Leut', die sagen, der Pernath lebt noch immer", rØckt der FÄhrmann endlich heraus, "er is, hÃr ich. Kammschneider und wohnt auf dem Hradschin."
          "Wo auf dem Hradschin?"
          Der FÄhrmann bekreuzigt sich:
          "Das ist es ja eben! Er wohnt, wo kein lebender Mensch wohnen kann: an der Mauer zur letzten Latern."
          "Kennen Sie sein Haus, Herr - Herr - Tschamrda?"
          "Nicht um die Welt mÃcht ich dort hinaufgehen!", protestiert der SchielÄugige. "WofØr halten Sie mich? Jesus, Maria und Josef!"
          "Aber den Weg hinauf kÃnnten Sie mir doch von weitem zeigen, Herr Tschamrda?"
          "Das schon", brummte der FÄhrmann. "Wenn Sie warten wollen bis 6 Uhr frØh; dann geh ich zur Moldau hinunter. Aber ich rat Ihnen ab! Sie stØrzen in den Hirschgraben und brechen Hals und Knochen! Heilige Muttergottes!"
          0x01 graphic

          Wir gehen zusammen durch den Morgen; frischer Wind weht vom Flusse her. Ich fØhle vor Erwartung kaum den Boden unter mir.
          PlÃtzlich taucht das Haus in der Altschulgasse vor mir auf.
          Jedes Fenster erkenne ich wieder: die geschweifte Dachrinne, das Gitter, die fettig glÄnzenden Steinsimse - alles, alles!
          "Wann ist dieses Haus abgebrannt?", frage ich den SchielÄugigen. Es braust mir in den Ohren vor Spannung.
          "Abgebrannt? Niemals nicht!"
          "Doch! Ich weiñ es bestimmt."
          "Nein."
          "Aber ich weiñ es doch! Wollen Sie wetten?"
          "Wieviel?"
          "Einen Gulden."
          "Gemacht!" - Und Tschamrda holt den Hausmeister heraus. "Ist dieses Haus jemals abgebrannt?"
          "I woher denn!" Der Mann lacht. -
          Ich kann und kann es nicht glauben.
          "Schon siebzig Jahr' wohn ich drin," beteuert der Hausmeister, "ich mØñt's doch wahrhaftig wissen."
          - - - Sonderbar, sonderbar! - - -
          0x01 graphic

          Der FÄhrmann rudert mich in seinem Kahn, der aus acht ungehobelten Brettern besteht, mit komischen schiefen Zuckbewegungen Øber die Moldau. Die gelben Wasser schÄumen gegen das Holz. Die DÄcher des Hradschins glitzern rot in der Morgensonne. Ein unbeschreiblich feierliches GefØhl ergreift Besitz von mir. Ein leise dÄmmerndes GefØhl wie aus einem frØheren Dasein, als sei die Welt um mich her verzaubert - eine traumhafte Erkenntnis, als lebte ich zuweilen an mehreren Orten zugleich.
          Ich steige aus.
          "Wieviel bin ich schuldig, Herr Tschamrda?"
          "Einen Kreuzer. Wenn Sie mitg'holfen hÄtten rudern, - hÄtt's zwei Kreuzer 'kost."
          0x01 graphic

          Denselben Weg, den ich heute nacht im Schlaf schon einmal gegangen, wandere ich wieder empor: die kleine, einsame Schloñstiege. Mir klopft das Herz und ich weiñ voraus: jetzt kommt der kahle Baum, dessen äste Øber die Mauer herØbergreifen.
          Nein: er ist mit weiñen BlØten besÄt.
          Die Luft ist voll von sØñem Fliederhauch.
          Zu meinen FØñen liegt die Stadt im ersten Licht wie eine Vision der Verheiñung.
          Kein Laut. Nur Duft und Glanz.
          Mit geschlossenen Augen kÃnnte ich mich hinauffinden in die kleine, kuriose Alchimistengasse, so vertraut ist mir plÃtzlich jeder Schritt.
          Aber, wo heute nacht das Holzgitter vor dem weiñschimmemden Haus gestanden hat, schlieñt jetzt ein prachtvolles, gebauchtes, vergoldetes Gitter die Gasse ab.
          Zwei EibenbÄume ragen aus blØhendem, niederem GestrÄuch und flankieren das Eingangstor der Mauer, die hinter dem Gitter entlang lÄuft.
          Ich strecke mich, um Øber das Strauchwerk hinØberzusehen, und bin geblendet von neuer Pracht:
          Die Gartenmauer ist ganz mit Mosaik bedeckt. TØrkisblau mit goldenen, eigenartig gemuschelten Fresken, die den Kult des Ägyptischen Gottes Osiris darstellen.
          Das FlØgeltor ist der Gott selbst: ein Hermaphrodit aus zwei HÄlften, die die TØre bilden, - die rechte weiblich, die linke mÄnnlich. - Er sitzt auf einem kostbaren, flachen Thron aus Perlmutter - im Halbrelief - und sein goldener Kopf ist der eines Hasen. Die Ohren sind in die HÃhe gestellt und dicht aneinander, dañ sie aussehen wie die beiden Seiten eines aufgeschlagenen Buches. -
          Es riecht nach Tau, und Hyazinthenduft weht Øber die Mauer herØber. - - -
          Lange stehe ich wie versteinert da und staune. Mir wird, als trÄte eine fremde Welt vor mich, und ein alter GÄrtner oder Diener mit silbernen Schnallenschuhen, Jabot und sonderbar zugeschnittenem Rock kommt von links hinter dem Gitter auf mich zu und fragt mich durch die StÄbe, was ich wØnsche.
          Ich reiche ihm stumm den eingewickelten Hut Athanasius Pernaths hinein.
          Er nimmt ihn und geht durch das FlØgeltor.
          Als es sich Ãffnet, sehe ich dahinter ein tempelartiges, marmornes Haus und auf seinen Stufen:

    ATHANASIUS PERNATH


          und an ihn gelehnt:

    MIRJAM,


          und beide schauen hinab in die Stadt.
          Einen Augenblick wendet sich Mirjam um, erblickt mich, lÄchelt und flØstert Athanasius Pernath etwas zu.
          Ich bin gebannt von ihrer SchÃnheit.
          Sie ist so jung, wie ich sie heut nacht im Traum gesehen.
          Athanasius Pernath dreht sich langsam zu mir, und mein Herz bleibt stehen:
          Mir ist, als sÄhe ich mich im Spiegel, so Ähnlich ist sein Gesicht dem meinigen.
          0x01 graphic

          Dann fallen die FlØgel des Tores zu, und ich erkenne nur noch den schimmernden Hermaphroditen.
          Der alte Diener gibt mir meinen Hut und sagt - ich hÃre seine Stimme wie aus den Tiefen der Erde -:
          "Herr Athanasius Pernath lÄñt verbindlichst danken und bittet, ihn nicht fØr ungastfreundlich zu halten, dañ er Sie nicht einlÄdt, in den Garten zu kommen, aber es ist strenges Hausgesetz so von alters her.
          Ihren Hut, soll ich ausrichten, habe er nicht aufgesetzt, da ihm die Verwechslung sofort aufgefallen sei.
          Er wolle nur hoffen, dañ der seinige Ihnen keine Kopfschmerzen verursacht habe."