rtenstraße holte er sie ein. Sie gingen schweigend und taten sich und einander leid. Er dachte noch: "Wenn sie jetzt fragt, soll ich zu dir zu-rückkommen, was werde ich antworten? Ich habe noch sechsundfünfzig Mark in der Tasche." "Es war so schrecklich gestern", sagte sie plötzlich. "Er war so widerwärtig! Was soll erst daraus werden, wenn du mich nicht mehr magst? Nun brauchten wir keine Sorgen zu haben, und sie sind größer als zuvor. Was fange ich an, wenn ich weiß, du willst mich nicht mehr sehen?" Er faßte ihren Arm. "Vor allem, nimm dich zusammen. Das Rezept ist alt, aber brauchbar. Du hast dir den Kopf abgehackt, gib acht, daß es wenigstens nicht um-sonst war. Und entschuldige, daß ich dich vorhin so gekränkt habe." "Ja, ja." Sie war noch traurig und schon wieder froh. "Und darf ich morgen nachmittag zu dir kommen?" "Es ist gut", sagte er. Da umarmte sie ihn mitten auf der Straße, küßte ihn, flüsterte: "Ich danke dir", und rannte aufschluchzend davon. Er blieb stehen. Ein Spaziergänger rief: "Sie können lachen!" Fabian wischte mit der Hand über den Mund und ekelte sich. Was hatten Cornelias Lippen inzwi-schen berührt? Half es ihm, daß sie sich die Zähne geputzt hatte? War seinem Abscheu mit Hygiene beizu-kommen? Er überschritt die Straße und trat in den Park. Moral war die beste Körperpflege. Wasserstoffsuperoxyd zum Gurgeln genügte nicht. Und erst jetzt fiel ihm ein, wo er in der vergangenen Nacht gewesen war. Er wollte nicht in die Müllerstraße zurück. Aber der bloße Gedanke an sein eigenes Zimmer, an die Neugier der Witwe Hohlfeld, an Cornelias leere Stube, an die ganze einsame Nacht, die ihn erwartete, während ihn Cornelia zum zweiten Mal betrog, trieb ihn durch die Straßen, dem Norden zu, in die Müllerstraße hinein, in jenes Haus und zu der Frau, die er nicht wiedersehen wollte. Sie strahlte. Sie war stolz, daß er wiederkam, und froh, daß sie ihn wieder hatte. "So ist's recht", sagte sie zur Begrüßung. "Komm, du wirst Hunger haben." Sie hatte im Wohnzimmer gedeckt. "Wir essen sonst in der Küche", sagte sie. "Aber wozu hat man seine Drei-zimmerwohnung?" Es gab Wurst und Schinken und Camembert. Plötzlich legte sie Messer und Gabel beiseite, murmelte "Hokuspokus!" und brachte eine Flasche Mo-sel zum Vorschein. Sie schenkte ein und stieß mit ihm an. "Auf unser Kind!" rief sie. "Wie du soll es sein, und wenn's kein Junge wird, mußt du strafexerzieren!" Sie trank das Glas leer, goß wieder ein und hatte glänzende Augen. "So ein Glück, daß ich dich traf", sagte sie und trank weiter. "Wein regt mich schrecklich auf." Sie fiel ihm um den Hals. Da klapperten draußen die Schlüssel. Schritte kamen den Korridor entlang. Die Tür ging auf. Ein mittelgroßer, untersetzter Mann trat ins Zimmer. Die Frau sprang auf. Sein Gesicht wurde düster. "Wünsche guten Appetit allerseits", sagte er und näherte sich der Frau. Sie schob sich rückwärts, und ehe er sie erreicht hatte, riß sie die Tür zum Schlafzimmer auf, sprang hinüber, schlug die Tür zu und riegelte ab. Der Mann rief: "Du kriegst schon noch den Hintern voll!" Er drehte sich zu Fabian herum, der sich verlegen erhoben hatte: "Behalten Sie bitte Platz. Ich bin der Gatte." Sie saßen einander eine Weile gegenüber, ohne zu sprechen. Dann nahm der Mann die Moselflasche in die Hand, betrachtete umständlich das Etikett und schenkte sich ein Glas voll. Er trank und meinte hinterher: "Die Züge sind um diese Zeit schrecklich überfüllt." Fabian nickte zustimmend. "Aber der Wein ist gut. Hat er Ihnen geschmeckt?" fragte der Mann. "Ich mache mir nicht viel aus Weißwein", erklärte Fabian und stand auf. Der andere folgte ihm. "Sie wollen schon gehen?" fragte er. "Ich möchte nicht länger stören", erwiderte Fabian. Plötzlich sprang ihm der Reisende an den Hals und würgte ihn. Fabian gab ihm einen Faustschlag in die Zähne. Der Mann ließ los, setzte sich und hielt die Backe. "Entschuldigen Sie vielmals", sagte Fabian betrübt. Der Mann winkte ab, spuckte rot ins Taschentuch und war vollauf mit sich beschäftigt. Fabian verließ die Wohnung. Wo sollte er jetzt noch hingehen? Er fuhr nach Hause. ACHTZEHNTES KAPITEL Er geht aus Verzweiflung nach Hause Was mag die Polizei wollen ? Ein trauriger Anblick Obwohl Fabian sehr leise aufschloß, empfing ihn Frau Hohlfeld im Korridor. Sie trug, weil es Abend war, einen Morgenrock und war außerordentlich aufgeregt. "Ich habe meine Tür offengelassen, um Sie zu hören", sagte sie. "Die Kriminalpolizei war da. Man wollte Sie holen." "Die Kriminalpolizei?" fragte er überrascht. "Wann war sie da?" "Vor drei Stunden und vor einer Stunde wieder. Sie sollen sich unverzüglich melden. Ich habe natürlich erzählt, daß Sie in der vorigen Nacht nicht zu Hause waren und daß Fräulein Battenberg gestern, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer geräumt hat und verschwunden ist." Die Witwe wollte einen Schritt näherkommen, statt dessen trat sie einen Schritt zurück. "Es ist furchtbar", flüsterte sie ergriffen, "was haben Sie da angestellt?" "Liebe Frau Hohlfeld", antwortete er. "Ihre Phantasie hat die Motten. Das möchte Ihnen passen, ein kleines Liebes-drama mit letalem Ausgang, wie? Frau Hohlfeld als Zeugin in Trauerkleidung, Ihre beiden Untermieter in allen Zeitungen abgebildet, der Mörder Fabian auf der Anklagebank, bilden Sie sich keine Schwachheiten ein!" "Nun", sagte sie, "mich geht es ja nichts an." Seine Verstocktheit kränkte sie tief. Zwei Jahre wohnte dieser Mensch bei ihr, hatte sie ihn nicht wie ihren Sohn gehegt und gepflegt? Und jetzt hielt er es nicht einmal für nötig, sein Herz auszuschütten. "Wo soll ich mich melden?" fragte er. Sie gab ihm einen Zettel. Er las die Adresse. "Da haben wir's", sagte sie triumphierend. "Warum sind Sie denn so blaß geworden?" Er riß die Tür auf und jagte die Treppe hinunter. Am Nürnberger Platz hielt er ein Auto an, nannte die Adresse und sagte: "Fahren Sie, so schnell Sie können!" Der Wagen war alt und gebrechlich und holperte sogar auf dem Asphalt. Fabian zerrte das Schiebefenster auf: "Fahren Sie doch schneller!" rief er. Dann versuchte er zu rauchen, aber seine Hand zitterte, und der Wind blies ihm die brennenden Streichhölzer aus. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Von Zeit zu Zeit öffnete er sie und sah nach, wo sie waren. Tiergarten, Tiergarten, Tiergar-ten, Brandenburger Tor. Unter den Linden. An jeder Straßenecke mußten sie halten. An jeder Verkehrsampel glühte, kurz bevor sie anlangten, das rote Licht auf. Ihm war, als führen sie durch zähen, dickflüssigen Leim. Hinter der Friedrichstraße wurde es besser. Universität, Staatsoper, Dom und Schloß lagen endlich im Rücken. Das Auto bog rechts ein. Es hielt. Fabian zahlte und lief gehetzt ins Haus. Ein fremder Mann öffnete. Fabian nannte seinen Namen. "Endlich", sagte der fremde Mann. "Ich bin Kriminalkommissar Donath. Wir kommen ohne Sie nicht weiter." Im ersten Zimmer saßen fünf junge Damen, ein Polizist stand dabei. Fabian erkannte die Selow und die Bildhauerin. "Endlich", sagte die Selow. Das Zimmer war demo-liert, Gläser und Flaschen lagen am Boden. Im nächsten Zimmer stand ein junger Mann vom Schreib-tisch auf. "Mein Assistent", erklärte der Kommissar. Fabian blickte sich um und erschrak. Auf dem Sofa lag Labude, kalkweiß, mit geschlossenen Augen, Labude hatte ein Loch in der Schläfe. Geronnenes Blut verklebte die Haare. "Stephan", sagte Fabian leise und setzte sich neben die Leiche. Er legte seine Hand auf die eisigen Hände des Freundes und schüttelte den Kopf. "Aber Stephan", sagte er, "das macht man doch nicht." Die zwei Beamten traten ans Fenster. "Doktor Labude hat für Sie einen Brief hinterlassen", berichtete der Kommissar. "Wir bitten Sie, den Brief zu lesen und uns über den Inhalt, soweit es uns interessiert, zu unterrichten. Wir teilen Ihre Vermutung, daß es sich um einen Selbstmord handelt, und die fünf jungen Da-men, die wir vorläufig in der Wohnung zurückbehalten haben, behaupten, im Nebenzimmer gewesen zu sein, als der Schuß fiel. Aber ganz aufgeklärt scheint der Vorfall nicht. Sie werden vielleicht bemerkt haben, daß das Nebenzimmer demoliert worden ist. Was hat es damit für eine Bewandtnis?" Der Kriminalassistent reichte Fabian ein Kuvert. "Wollen Sie so freundlich sein und den Brief lesen? Die Damen behaupten, das Zimmer sei im Laufe einer privaten Mei-nungsverschiedenheit in Unordnung geraten. Doktor La-bude habe damit nichts zu tun gehabt. Er sei nicht einmal dabeigewesen, sondern habe gesagt, er wolle einen Brief schreiben, und dann sei er in das Zimmer hier gegangen." "Die Damen stehen, wie sich aus Andeutungen entnehmen ließ, in einigermaßen ungewöhnlichen Beziehungen zueinander. Ich vermute, es gab eine Art von Eifer-suchtsszene zwischen ihnen", erläuterte der Kommissar. "Sie haben, und auch das spricht gegen ihre konkrete Mittäterschaft, sofort die Polizei verständigt und uns hier erwartet, anstatt davonzulaufen. Wollen Sie, bitte, den Brief lesen?" Fabian öffnete das Kuvert und nahm den gefalteten Briefbogen heraus. Dabei fiel ein Banknoten-bündel zur Erde. Der Assistent hob es auf und legte es aufs Sofa. "Wir warten nebenan", sagte der Kommissar rücksichts-voll, und sie ließen Fabian allein. Er erhob sich und brannte das Licht an. Dann setzte er sich wieder und sah auf den toten Freund, dessen gelbes, in Müdigkeit erfrorenes Gesicht genau unter der Lampe lag. Der Mund war ein wenig geöffnet, der Unterkiefer gab nach. Fabian faltete den Briefbogen auseinander und las: "Lieber Jakob! Als ich heute mittag im Institut war, um mich wieder einmal zu erkundigen, war der Geheimrat wieder einmal nicht da. Aber Weckherlin, sein Assistent, war da, und er sagte mir, meine Habilitationsschrift sei abgelehnt wor-den. Der Geheimrat habe sie als völlig ungenügend cha-rakterisiert und erklärt, sie der Fakultät weiterzugeben, halte er für Belästigung. Außerdem habe es keinen Zweck, meine Blamage populär zu machen. Fünf Jahre hat mich diese Schrift gekostet, es war die fünfjährige Arbeit an einer Blamage, die man nur aus Barmherzigkeit im eng-sten Kreise begraben will. Ich dachte daran, Dich anzurufen, aber ich schämte mich. Ich habe kein Talent zum Trostempfänger, auch hierin bin ich talentlos. Das Gespräch über Leda, das wir vor Tagen miteinander hatten, überzeugte mich davon. Du hättest mich über die mikroskopische Bedeutung meines wissen-schaftlichen Unfalls aufgeklärt, ich hätte Dir zum Schein recht gegeben, wir hätten einander belogen. Die Ablehnung meiner Arbeit ist, faktisch und psycholo-gisch, mein Ruin, vor allem psychologisch. Leda wies mich zurück, die Universität weist mich zurück, von allen Seiten erhalte ich die Zensur Ungenügend. Das hält mein Ehrgeiz nicht aus, das bricht meinem Kopf das Herz und meinem Herzen das Genick, Jakob. Mir hilft keine histo-rische Statistik, wie viele bedeutende Männer schlechte Schüler und unglückliche Liebhaber waren. Mein politischer Ausflug nach Frankfurt war auch zum Bespeien. Am Schluß prügelten wir uns. Als ich gestern wiederkam, lag die Selow mit der Bildhauerin in meinem Bett, ein paar andere Frauenzimmer gaben Hilfestellung. Und jetzt, während ich schreibe, schmeißen sie im Ne-benzimmer mit Gläsern und Blumenvasen. Ich kann, wenn ich meinen augenblicklichen Zustand betrachte, sagen: Die ganze Richtung paßt mir nicht! Aus den Bezirken, in die ich gehöre, wies man mich aus. Dort, wo man mich aufnehmen will, will ich nicht hin. Sei mir nicht böse, mein Guter, ich haue ab. Europa wird auch ohne mich weiterleben oder zugrunde gehen, es hat mich nicht nötig. Wir stecken in einer Zeit, wo der ökonomische Kuhhandel nichts ändert, er wird den Zusammenbrach nur beschleunigen oder vergrößern. Wir stehen an einem der seltenen geschichtlichen Wendepunkte, wo eine neue Weltanschauung konstituiert werden muß, alles andere ist nutzlos. Ich habe nicht mehr den Mut, mich von den politischen Fachleuten auslachen zu lassen, die mit ihren Mittelchen einen Kontinent zu Tode kurieren. Ich weiß, daß ich recht habe, doch heute genügt mir das nicht mehr. Ich bin eine lächerliche Figur geworden, ein in den Fächern Liebe und Beruf durchgefallener Menschheitskandidat. Laß mich den Kerl umbringen. Der Revolver, den ich neulich am Märkischen Museum dem Kommuni-sten abnahm, kommt zu neuen Ehren. Ich nahm ihn an mich, damit kein Unglück angerichtet würde. Lehrer hätte ich werden müssen, nur die Kinder sind für Ideale reif. Also, Jakob, leb wohl. Fast hätte ich ganz ernsthaft hingeschrieben: ich werde oft an Dich denken. Aber damit ist es ja nun aus. Trag es mir nicht nach, daß ich uns so enttäusche. Du bist der einzige Mensch, den ich liebhatte, obwohl ich ihn kannte. Grüße meine Eltern, und vor allem Deine Mutter. Wenn du Leda zufällig einmal begegnen solltest, sage ihr nicht, wie schwer mich ihr Betrug traf. Sie mag glauben, ich wäre nur gekränkt gewesen. Es braucht nicht jeder alles zu wissen. Ich würde Dich bitten, meine Angelegenheiten zu regeln, aber es gibt nichts, was der Regelung bedürfte. Die Wohnung Nummer zwei sollen meine Eltern auflösen, mit den Möbeln können sie tun, was sie wollen. Meine Bücher gehören Dir. Ich fand vorhin in meinem Schreib-tisch zweitausend Mark, nimm das Geld, viel ist es nicht, zu einer kleinen Reise wird es reichen. Leb wohl, mein Freund. Lebe besser als ich. Mach's gut. Dein Stephan." Fabian strich dem Toten behutsam über die Stirn. Der Unterkiefer war noch tiefer herabgesunken. Der Mund klaffte auf. "Daß man lebt, ist Zufall; daß man stirbt, ist gewiß", flüsterte Fabian und lächelte dem Freunde zu, als wolle er ihn jetzt noch trösten. Der Kommissar öffnete leise die Tür. "Entschuldigen Sie, daß ich schon wieder störe." Fabian reichte ihm den Brief. Der Beamte las und sagte: "Da kann ich ja die Mädchen nach Hause schicken." Er gab den Brief zurück und ging ins Nebenzimmer. "Die Sache ist erledigt, ich will Sie nicht länger aufhalten", rief er. "Nur noch einen Augenblick", sagte eine weibliche Stim-me. "Ich habe ein Faible für Tote." Die fünf Frauen drängten sich durch die Tür und standen schweigend vor dem Sofa. "Man müßte ihm die Kinnlade hochbinden", sagte schließlich ein Mädchen, das Fabian nicht kannte. Die Bildhauerin lief ins andere Zimmer und kehrte mit einer Serviette wieder. Sie band Labude den Unterkiefer hoch, so daß der Mund sich schloß, und knüpfte die Enden der Serviette auf seinem Kopfhaar zu einem Knoten. "Ein Toter mit Zahnschmerzen", bemerkte die Selow und lachte bösartig. Ruth Reiter sagte: "Es ist eine Schande. Bei mir im Atelier sitzt Wilhelmy und wird von Tag zu Tag gesünder, das Schwein, obwohl die Ärzte jede Hoffnung aufgegeben haben. Und dieser kräftige junge Kerl hier bringt sich um die Ecke." Dann schob der Assistent die Frauen aus dem Zimmer. Der Kommissar setzte sich an den Schreibtisch und entwarf einen Polizeibericht. Der Assistent kam zurück. "Ist es nicht das beste, wenn wir einen Wagen bestellen und den Toten in die Villa der Eltern bringen lassen?" fragte er. Dann bückte er sich. Die Geldscheine waren vom Sofa gefallen und lagen wieder auf der Erde. Er hob sie auf und steckte sie Fabian in die Tasche. "Sind die Eltern eigentlich schon verständigt?" fragte Fabian. "Sie sind leider nicht erreichbar", erwiderte der Assistent. "Justizrat Labude befindet sich auf einer kleinen Reise, das Hauspersonal weiß nichts Näheres. Die Mutter ist in Lugano. Man hat ihr depeschiert." "Also gut", sagte Fabian. "Bringen wir ihn nach Hause!" Der Assistent telefonierte der nächsten Feuerwache. Dann warteten sie alle drei stumm, bis der Wagen kam. Sanitäter packten Labude auf eine Bahre und trugen ihn die Treppe hinunter. Vor dem Haus standen Neugierige aus der Nachbarschaft. Die Bahre wurde in den Wagen geschoben. Fabian setzte sich neben den ausgestreckten Freund. Die Beamten verabschiedeten sich. Er gab ihnen die Hand. Ein Sanitäter klappte die Leiter hoch und schloß die Tür. Fabian und Labude fuhren zum letzten Male gemeinsam durch Berlin. Das Fenster war heruntergelassen, in seinem Rahmen zeigte sich der Dom. Dann wechselte das Bild. Fabian sah die Schinkelsche Wache, die Universität, die Staatsbiblio-thek. Wie lange war das her, daß sie hier miteinander im Autobus gefahren waren? Am selben Abend hatten sie, draußen am Märkischen Museum, zwei Raufbolden die Revolver abgenommen. Nun lag Labude auf der Bahre, fuhr durchs Brandenbur-ger Tor und wußte nichts mehr davon. Zwei straffe Gurte hielten ihn fest. Der Kopf rutschte langsam schräg. "Denkst du nach?" fragte Fabian leise, schob Labudes Kopf auf dem Kissen wieder zurecht und ließ die Hand dort. "Ein Toter mit Zahnschmerzen", hatte die Selow gesagt. Als das Krankenauto vor der Grunewaldvilla hielt, stand das Dienstpersonal an der Tür. Die Haushälterin schluchzte, der Diener ging würdevoll vor den Sanitätern her, die Mädchen folgten, ihre Füße hielten mit der ernsten Stunde Schritt. Labude wurde in sein Zimmer gebracht und auf das Sofa gelegt. Der Diener öffnete die Fenster weit. "Die Leichenfrau kommt morgen früh", sagte die Haus-hälterin, und nun schluchzten auch die Mädchen. Fabian gab den Sanitätern Geld. Sie grüßten militärisch und gingen. "Der Herr Justizrat ist noch immer nicht da", bemerkte der Diener. "Ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält. Aber er wird es ja in der Zeitung lesen." "Es steht schon in der Zeitung?" fragte Fabian. "Jawohl", entgegnete der Diener. "Die gnädige Frau ist benachrichtigt. Sie dürfte morgen mittag in Berlin eintref-fen, wenn ihr Zustand die Reise gestattet. Der FD-Zug ist um diese Stunde in Bellinzona." "Gehen Sie schlafen", sagte Fabian. "Ich bleibe die Nacht über hier." Er zog einen Stuhl zum Sofa. Die anderen verließen das Zimmer. Er war allein. In Bellinzona war Labudes Mutter jetzt? Fabian setzte sich neben den Freund und dachte: "Welch eine Strafe für eine schlechte Mutter!" NEUNZEHNTES KAPITEL Fabian verteidigt den Freund Ein Lessingporträt geht entzwei Einsamkeit in Halensee Labudes Gesicht wurde von der Serviette nur scheinbar zusammengehalten, es veränderte sich. Als werde das Fleisch dickflüssig und sickere allmählich ins Körperinne-re, so traten die Backenknochen hervor. Die Augen waren tief in die schwärzlichen Höhlen gesunken. Die Nasenflü-gel fielen ein und wirkten verkniffen. Fabian beugte sich vor und dachte: "Warum verwandelst du dich? Willst du mir den Abschied leicht machen? Ich wünschte, du könn-test reden, denn ich hätte viel zu fragen, mein Lieber. Ist dir jetzt wohl? Bist du auch jetzt noch, nachdem du starbst, damit zufrieden, daß du tot bist? Oder bereust du, was du tatest? Und möchtest du rückgängig machen, was für ewig geschah? Früher habe ich mir eingebildet, ich könne an der Leiche eines Menschen, den ich liebe, nie begreifen, daß er tot ist. Wie soll man verstehen, daß jemand nicht mehr da ist, obwohl er sichtbar vor einem liegt, mit Schlips und Kragen, im selben Anzug wie kurz vorher? dachte ich. Wie soll man glauben, daß einer, nur, weil er zu atmen vergaß, eine Portion Fleisch geworden ist, die man drei Tage später achtlos verscharrt? dachte ich. Wird man, wenn das geschieht, nicht aufschreien: Hilfe, er erstickt! Ich muß dir sagen, Stephan, ich verstehe meine Angst, man könnte am Tod und seiner Tragweite zweifeln, nicht mehr. Du bist tot, mein Guter, und du liegst da wie eine schlecht fixierte Fotografie von dir, die zusehends vergilbt. Man wird deine Fotografie in den Ofen werfen, den man Krematorium nennt. Du wirst verbrennen, und niemand wird um Hilfe rufen, und auch ich werde still sein." Fabian trat zum Schreibtisch und nahm aus dem gelben Holzkästchen, das seit Jahren dort stand, eine Zigarette. Ein Kupferstich hing an der Wand, es war ein Porträt von Lessing. "Sie sind schuld daran", sagte Fabian zu dem Mann mit dem Zopf und zeigte auf Labude. Aber Gott-hold Ephraim Lessing übersah und überhörte den Vor-wurf, der ihm, hundertfünfzig Jahre nach seinem Tode, gemacht wurde. Er blickte ernst und höchst charaktervoll geradeaus. Sein breites, bäuerisches Gesicht verzog keine Miene. "Schon gut", sagte Fabian, drehte dem Bild den Rücken und setzte sich wieder neben den Freund. "Siehst du", sagte er zu Labude, "das war ein Kerl", und er wies mit dem Daumen hinter sich. "Der biß zu und kämpfte und schlug mit dem Federhalter um sich, als sei der Gänsekiel ein Schleppsäbel. Der war zum Kämpfen da, du nicht. Der lebte gar nicht seinetwegen, den gab es gar nicht privat, der wollte gar nichts für sich. Und als er sich doch auf sich besann, als er vom Schicksal Frau und Kind verlangte, da brach alles über ihm zusammen und begrub ihn. Und das war in Ordnung. Wer für die anderen dasein will, der muß sich selber fremd bleiben. Er muß wie ein Arzt sein, dessen Wartezimmer Tag und Nacht voller Menschen ist, und einer muß mitten darunter sitzen, der nie an die Reihe kommt und nie darüber klagt: das ist er selber. Hättest du so zu leben vermocht?" Fabian strich dem Freund übers Knie und schüttelte den Kopf. "Ich wünsche dir Glück, denn du bist tot. Du warst ein guter Mensch, du warst ein anständiger Kerl, du warst mein Freund, aber das, was du vor allem sein wolltest, das warst du nicht. Dein Charakter existierte in deiner Vor-stellung, und als die zerstört wurde, blieb nichts mehr übrig als ein Schießeisen und das, was hier auf dem Sofa liegt. Siehst du, nächstens wird ein gigantischer Kampf einsetzen, erst um die Butter aufs Brot, und später ums Plüschsofa; die einen wollen es behalten, die anderen wollen es erobern, und sie werden sich wie die Titanen ohrfeigen, und sie werden schließlich das Sofa zerhacken, damit es keiner kriegt. Unter den Anführern werden auf allen Seiten Marktschreier stehen, die stolze Parolen erfinden und die das eigene Gebrüll besoffen macht. Vielleicht werden sogar zwei oder drei wirkliche Männer darunter sein. Sollten sie zweimal hintereinander die Wahrheit sagen, wird man sie aufhängen. Sollten sie zweimal hintereinander lügen, wird man sie aufhängen. Dich hätte man nicht einmal gehängt, dich hätte man totgelacht. Du warst kein Reformator, und du warst kein Revolutionär. Mach dir nichts draus." Labude lag, als höre er zu. Aber er tat nur so. Die Ansprache verhallte, Fabian wurde müde. "Warum ge-nügte es dir nicht, schön zu finden, was schön ist?" dachte er. "Dann hätte dich das Pech mit Herrn Lessing nicht so gekränkt. Dann säßest du vielleicht in Paris, statt hier zu liegen. Dann hättest du die Augen offen und blicktest glücklich von Sacré Cœur hinunter auf die schimmern-den Boulevards, über denen die Luft kocht. Oder wir beide spazierten durch Berlin. Die Bäume sind ganz frisch gestrichen, der blaue Himmel ist mit Gold ausgelegt; die Mädchen sind appetitlich zubereitet, und wenn die eine bei einem Filmdirektor übernachtet, sucht man sich eine bessere. Mein alter Erfinder, der liebte das Leben! Ich habe dir noch gar nicht erzählt, wie er bei mir im Schrank stand. Er hatte den Hut auf und hielt den Schirm in der Hand, als habe er Angst, es könne im Schrank regnen." Fabian konnte nicht lange geschlafen haben, als er aufschreckte. Er hörte Stimmen auf der Straße und trat ans Fenster. Ein Auto hielt vor der Tür, der Diener kam aus dem Haus und öffnete den Schlag. Der Justizrat stieg aus und hielt dem Diener eine Zeitung entgegen. Der Diener nickte und zeigte zu dem Fenster hinauf, an dem Fabian lehnte. Eine Frau wollte aus dem Wagen, der Justizrat stieß sie auf den Sitz zurück. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Die Frau preßte, während das Auto sie weg-führte, das Gesicht an die Scheibe. Der Justizrat ging ins Haus. Der Diener folgte und hielt die Arme besorgt angehoben, um, wenn es nötig werde, den Justizrat zu stützen. Fabian trat auf den Korridor hinaus, denn er wollte nicht zugegen sein, wenn der Vater den Sohn liegen sah. Der Justizrat kam die Treppe herauf, er klammerte sich am Geländer fest, und der alte Diener hinter ihm hielt die Hände schützend vorgestreckt, aber Labudes Vater sank nicht um. Er ging, ohne Fabian anzusehen, in das erleuch-tete Zimmer. Der Diener schloß die Tür und neigte den Kopf vor, um zu hören, ob er nötig sei. Doch es blieb still in dem Zimmer. Fabian und der Diener standen davor, jeder auf seinem Fleck, sie sahen einander nicht an und lauschten gespannt. Ihre Bereitschaft zum Mitleid wartete auf einen Klagelaut oder dergleichen. Aber sie vernahmen nichts. Die Szene hinter der Tür ließ sich nicht deuten. Es klingelte. Der Diener verschwand im Zimmer und kam wieder auf den Korridor. "Der Herr Justizrat möchte Sie sprechen." Fabian trat ein. Der alte Labude saß am Schreibtisch und hatte den Kopf in die Hand gestützt. Nach einer Weile richtete er sich hoch, stand auf, um den Freund seines Sohnes zu begrüßen und lächelte künstlich. "Ich habe keine Beziehung zu tragischen Erlebnissen", sagte er gepreßt. "Das bißchen Mitgefühl, das mein Egoismus zuläßt, hat durch die vielen Plädoyers, die ich hielt, und durch die prozessuale Routine überhaupt einen unechten Glanz angenommen, in dem sich alles andere eher spiegelt als wahre Teilnahme." Er drehte sich um, betrachtete seinen Sohn, und es sah aus, als ob er sich bei dem Toten entschuldigen wolle. "Es hat keinen Zweck, sich Vorwürfe zu machen", fuhr er fort. "Ich war kein Vater, der für den Sohn lebt. Ich bin ein vergnügungssüchtiger älterer Herr, der in das Leben verliebt ist. Und dieses Leben verliert seinen Sinn keineswegs durch diese Tatsache." Er zeigte mit dem vorgestreckten Arm auf die Leiche. "Er hat gewußt, was er tat. Und wenn er es für das Klügste hielt, brauchen die anderen nicht zu weinen." "Man könnte, gerade weil Sie so nüchtern darüber spre-chen, vermuten, daß Sie sich Vorwürfe machen", sagte Fabian. "Das wäre unangebracht. Der sichtbare Anlaß für Stephans Selbstmord liegt außerhalb unserer Sphäre." "Was wissen Sie darüber? Hat er Briefe hinterlassen?" fragte der Justizrat. Fabian verschwieg den Brief. "Eine kurze Notiz gab Auskunft. Der Geheimrat hat Stephans Habilitations-schrift als ungenügend abgelehnt." "Ich habe sie nicht gelesen. Man hat nie Zeit. War sie so schlecht?" fragte der andere. "Es ist eine der besten und originellsten literarhistorischen Arbeiten, die ich kenne", erwiderte Fabian. "Hier ist sie." Er nahm eine Kopie des Manuskripts vom Bücherbord und legte sie auf den Schreibtisch. Der Justizrat blätterte darin, dann klingelte er, ließ das Telefonbuch bringen und suchte eine Nummer. "Es ist zwar sehr spät", sagte er und ging ans Telefon, "aber das kann nichts helfen." Er bekam Anschluß. "Kann ich den Geheimrat sprechen?" fragte er. "Dann holen Sie die gnädige Frau an den Apparat. Ja, auch wenn sie schon schläft. Hier spricht Justizrat Labude." Er wartete. "Ent-schuldigen Sie die Störung", sagte er. "Ich höre, daß Ihr Gatte unterwegs ist. In Weimar? So, zur Tagung der Shakespeare-Gesellschaft. Wann kommt er zurück? Ich werde mir erlauben, ihn morgen im Institut aufzusuchen. Sie wissen nicht, ob er die Habilitationsschrift meines Sohnes schon gelesen hat?" Er hörte lange Zeit zu, dann verabschiedete er sich, legte den Hörer auf die Gabel, drehte sich zu Fabian herum und fragte: "Verstehen Sie das? Der Geheimrat hat neulich während des Essens gesagt, die Arbeit über Lessing sei außerordentlich inter-essant, und er sei auf die Schlußfolgerung, also auf das Ende der Arbeit, sehr gespannt. Von Stephans Tod scheint man noch nichts zu wissen." Fabian sprang erregt auf. "Er hat die Arbeit gelobt? Lehnt man Arbeiten ab, die man gelobt hat?" "Daß man Arbeiten, die man schlecht findet, annimmt, ist jedenfalls häufiger", antwortete der Justizrat. "Wollen Sie mich jetzt allein lassen? Ich bleibe bei meinem Jungen und werde sein Manuskript lesen. Fünf Jahre hat er daran gesessen, nicht?" Fabian nickte und gab ihm die Hand. "Da hängt ja die Todesursache", sagte der alte Labude und zeigte auf das Lessingporträt. Er nahm das Bild von der Wand, betrachtete es und zerschlug es, ohne jede sichtbare Aufregung, am Schreibtisch. Dann klingelte er. Der Die-ner erschien. "Kehre den Dreck fort und bringe Heftpflaster", befahl der Justizrat. Er blutete an der rechten Hand. Fabian blickte noch einmal auf den toten Freund. Dann ging er hinaus und ließ die beiden allein. Er war zu müde zum Schlafen, und er war zu müde, die Trauer aufzubringen, die dieser Tag von ihm forderte. Der Trikotagenreisende aus der Müllerstraße hielt sich die Backe, hieß er nicht Hetzer? Seine Frau lag unbefriedigt im Bett, Cornelia war zum zweiten Mal bei Makart, Fabian sah die Erlebnisse wie lebende Bilder, ohne dritte Dimension, weit weg am Horizont seines Gedächtnisses. Und auch, daß Labude in irgendeiner Villa draußen tot auf dem Sofa lag, beschäftigte ihn im Augenblick nur als Gedanke. Der Schmerz war wie ein Zündholz heruntergebrannt und erloschen. Er entsann sich aus seiner Kindheit eines ähnlichen Zustandes: wenn er damals eines Kummers wegen, der ihm riesenhaft und unheilbar erschien, lange Zeit geweint hatte, war das Reservoir, aus dem der Schmerz floß, leer geworden. Das Gefühl starb ab, wie später, nach jedem seiner Herzkrämpfe, das Leben in den Fingern erstarb. Die Trauer, die ihn ausfüllte, war empfindungslos, der Schmerz war kalt. Fabian ging die Königsallee entlang. Er kam an der Rathenau-Eiche vorbei. Zwei Kränze hingen an dem Baum. An dieser Straßenbiegung war ein kluger Mann ermordet worden. "Rathenau mußte sterben", hatte ein nationalsozialistischer Schriftsteller einmal zu ihm gesagt. "Er mußte sterben, seine Hybris trug die Schuld. Er war ein Jude und wollte deutscher Außenminister werden. Stellen Sie sich vor, in Frankreich kandidierte ein Kolonialneger für den Quai d'Orsay, das ginge genausowenig." Politik und Liebe, Ehrgeiz und Freundschaft, Leben und Tod, nichts berührte ihn. Er schritt, ganz allein mit sich selber, die nächtliche Allee hinunter. Über dem Lunapark stieg Feuerwerk in den Himmel und sank in bunten feurigen Garben zur Erde. Aber auf halbem Wege lösten sich die Garben auf, sie verschwanden spurlos, und neue Raketen drängten krachend in die Luft. Am Eingang zum Park hing ein Schild: "Fernando, der Weltmeister im Dauertanzen, überbietet seinen eigenen Rekord. Er will 200 Stunden tanzen. Kein Weinzwang." Fabian setzte sich in ein Bierlokal, dicht vor der Eisenbahnunterführung von Halensee. Die Gespräche der Umsitzenden erschienen ihm vollkommen sinnlos. Ein kleiner illuminierter Zeppelin, auf dem in großer Leuchtschrift "Trumpfschokolade" stand, flog über den Köpfen der Stadt zu. Ein Zug mit hellen Fenstern fuhr unter der Brücke hin. Autobusse und Straßenbahnen passierten in langer Kette die Straße. Am Nebentisch erzählte ein Mann, dem der Nacken über den Kragen gerutscht war, Witze, und ein paar Frauen, die bei ihm saßen, kreischten, als hätten sie Mäuse unterm Rock. "Was soll das alles?" dachte er, zahlte rasch und ging nach Hause. Auf dem Tisch lagen etliche Briefe. Die Bewerbungs-schreiben waren zurückgekommen. Nirgends war ein Posten frei, man bedauerte hochachtungsvoll. Fabian wusch sich. Später ertappte er sich dabei, daß er regungs-los, mit dem Handtuch vor dem nassen Gesicht, auf dem Sofa saß und, an der unteren Kante des Tuches vorbei, auf den Teppich stierte. Er trocknete sich ab, warf das Handtuch fort, legte sich um und schlief ein. Das Licht brannte die ganze Nacht. ZWANZIGSTES KAPITEL Cornelia im Privatauto Der Geheimrat weiß von nichts Frau Labude wird ohnmächtig Als er am nächsten Morgen erwachte und das Licht brennen sah, waren ihm die Ereignisse des Vortags nicht gegenwärtig. Er fühlte sich bedrückt und elend, doch er wußte noch nicht, warum. Er schloß die Augen, und erst jetzt, und nur ganz allmählich, vergegenständlichte sich sein Kummer. Das, was geschehen war, fiel ihm ein, als werfe es jemand von draußen her durch eine Scheibe. Er wußte wieder, was er vor Müdigkeit vergessen hatte, und vom Bewußtsein aus sanken die Erinnerungen tiefer, wuchsen und verwandelten sich im Fallen, es war, als erhöhe sich ihr spezifisches Gewicht, und dann rollten sie wie Steinschlag auf sein Herz. Er drehte sich zur Wand und hielt sich die Ohren zu. Frau Hohlfeld machte, als sie das Frühstück hereintrug, trotz des brennenden Lichts, und obwohl er statt im Bett auf dem Sofa lag, keinen Skandal. Sie setzte das Tablett auf den Tisch, löschte das Licht und vollzog sämtliche Hand-lungen nach dem Ritus, der in Krankenzimmern üblich ist. "Ich versichere Sie meines tiefsten Beileids", sagte sie, "ich las es vorhin in der Zeitung. Ein harter Schlag für Sie. Und die armen Eltern." Der Ton und die Stimmlage waren gut gemeint. Die Teilnahme war ehrlich. Es war nicht zum Aushalten. Er überwand sich und murmelte: "Danke." Bis sie das Zimmer verlassen hatte, blieb er liegen, dann stand er auf und fuhr in die Kleider. Er mußte den Geheimrat spre-chen. Seit gestern abend marterte ihn ein Verdacht, der, ohne jedes Zutun, immer quälender wurde. Er mußte in die Universität. Als er aus dem Haus trat, fuhr ein großer Privatwagen vor und hielt. "Fabian!" rief jemand. Es war Cornelia. Sie saß im Wagen und winkte. Während er nähertrat, stieg sie aus. "Mein armer Fabian", sagte sie und streichelte seine Hand. "Ich hielt es nicht bis zum Nachmittag aus, und er lieh mir den Wagen. Stör ich dich?" Dann senkte sie die Stimme. "Der Chauffeur paßt auf." Lauter sagte sie: "Wo willst du hin?" "Zur Universität. Er hat sich umgebracht, weil seine Arbeit abgelehnt worden ist. Ich muß den Geheimrat sprechen." "Ich bringe dich hin. Darf ich?" fragte sie. "Fahren Sie uns bitte zur Universität", sagte sie zu dem Chauffeur, sie stiegen in den Wagen und fuhren stadteinwärts. "Und wie war es gestern abend bei dir?" fragte Fabian. "Sprich nicht davon", bat sie. "Ich hatte immer das Gefühl, dir drohe ein Unheil. Makart erzählte mir von der Rolle, die ich spielen soll, ich hörte kaum zu, so bedrängte mich meine Vorahnung. Es war wie vor einem Gewitter." "Was für eine Rolle?" Auf Cornelias Vorahnungen ging er nicht ein. Er haßte die Angewohnheit, die Zukunft wie eine Bettdecke zu lüften, und noch mehr haßte er den nachträglichen Stolz, schon vorher recht gehabt zu haben. Wie plumpvertraulich war diese Art des Umgangs mit dem Schicksal! Seine Abneigung hatte damit, ob Vorah-nungen möglich seien oder nicht, nichts zu tun. Er empfand es als Anmaßung, sich mit dem, was noch verhüllt war, herumzuduzen. So passiv er auch zu sein pflegte: mit einer Fügung in Unvermeidliches hatte das nichts zu schaffen. "Eine sehr merkwürdige Rolle", sagte sie. "Stell dir vor, daß ich in dem Film die Frau eines Mannes zu sein habe, der, um seiner verschrobenen Phantasie Genüge zu tun, von mir verlangt, daß ich mich unablässig verwandle. Er ist ein pathologischer Mensch und nötigt mich, bald ein unerfahrenes Mädchen und bald eine raffinierte Frau zu spielen, bald ein ordinäres Weib und dann wieder ein hirnloses, elegantes Luxusgeschöpf. Dabei stellt sich, für mich später als für ihn und die Zuschauer, heraus, daß ich ein ganz anderes Wesen bin, als ich selber glaube. Beide, er und ich, werden überrascht sein, denn ich werde mich unaufhaltsam, schließlich gegen seinen Willen, verändern und erst dadurch das geworden sein, was ich schon immer war. Gemein und herrschsüchtig, stellt sich heraus, bin ich im Grunde, und in dem Konflikt, den er durch seine Befehle beschwor, wird er tragisch unterliegen." "Ist der Einfall von Makart? Sieh dich vor, Cornelia, der Mann ist gefährlich. Er wird dich diese Verwandlung zwar spielen lassen, aber insgeheim wird er mit sich selber wetten, ob du in Wirklichkeit so wirst." "Das wäre kein Unglück, Fabian. Solche Männer wollen überfahren werden. Der Film wird ein Privatkursus fürs ganze Leben." Er kramte in den Taschen, fand das Geldbündel, zählte tausend Mark ab und gab sie Cornelia. "Da, Labude hinterließ mir das Geld. Nimm die Hälfte. Es beruhigt mich." "Wenn wir vor drei Tagen zweitausend Mark gehabt hätten", sagte sie. Fabian beobachtete den Chauffeur, der fortwährend in den kleinen konkaven Sucherspiegel blickte und sie darin überwachte. "Deine Gouvernante wird uns noch an einen Baum fahren. Vorn ist die Musik!" schrie er, und der Chauffeur ließ sie vorübergehend mit dem Blick los. "Heute nachmittag komme ich ohne ihn", sagte sie. "Ich weiß nicht, ob ich zu Hause bin", erwiderte er. Sie lehnte sich flüchtig und schüchtern an ihn. "Ich komme auf alle Fälle, vielleicht kannst du mich brauchen." Vor der Universität stieg er aus. Sie fuhr mit ihrem Gefängnisinspektor weiter. Der Institutsdiener öffnete ihm. Der Geheimrat sei noch nicht da, werde aber jeden Augenblick von der Reise zurückerwartet. Ob der Assistent da sei? Jawohl. Im Vorzimmer saßen Justizrat Labude und seine Frau. Sie sah sehr alt aus, weinte, als Fabian sie begrüßte, und sagte: "Wir haben uns nicht um ihn gekümmert." "Es ist sinnlos, sich Vorwürfe zu machen", entgegnete Fabian. "War er nicht alt genug?" fragte der Justizrat. Seine Frau schluchzte laut auf, und er verzog die Stirn. "Ich habe heute nacht Stephans Arbeit gelesen", erzählte er. "Ich verstehe zwar nichts von eurem Fach, und ich weiß nicht, ob die Grundlagen der Untersuchung stimmen. Aber daß die Folgerungen klug und scharfsinnig sind, steht außer allem Zweifel." "Auch die Grundlagen der Untersuchungen sind in Ordnung", meinte Fabian. "Die Arbeit ist meisterhaft. Wenn nur der Geheimrat käme!" Frau Labude weinte vor sich hin. "Warum wollt ihr ihm, nun er tot ist, die Ursache rauben, derentwegen er starb?" fragte sie. "Kommt, wir wollen von hier fortgehen!" Sie stand auf und packte die zwei Männer. "Laßt ihn in Frieden!" Aber der Justizrat sagte: "Setz dich hin, Luise." Und dann kam der Geheimrat. Er war ein Mann von altväterlicher Eleganz, außerdem standen ihm die Augen etwas zu weit aus dem Kopf. Der Institutsdiener kletterte hinter ihm die Treppe hoch und trug einen Handkoffer. "Das ist ja fürchterlich", erklärte der Geheimrat und ging, mit seitlich geneigtem Kopf, auf Labudes Eltern zu. Die Frau des Justizrates weinte lauter, als er ihr die Hand drückte, und auch der Justizrat war ergriffen. "Wir kennen uns", sagte der alte Literaturhistoriker zu Fabian. "Sie waren sein Freund." Er schloß die Tür zu seinem Zimmer auf, bat näherzutreten, entschuldigte sich für einen Augen-blick und wusch sich, während die anderen stumm um den Tisch saßen, die Hände, wie vor einer ärztlichen Ordination. Der Diener hielt das Handtuch bereit. Der Geheimrat sagte, während er sich abtrocknete: "Ich bin für keinen Menschen zu sprechen." Der Diener entfernte sich, der Geheimrat nahm Platz. "Ich kaufte mir heute morgen in Naumburg eine Zeitung", berichtete er, "und das erste, was ich las, war die Meldung von dem tragischen Geschick Ihres Sohnes. Ist es allzu indiskret, wenn ich die nächstliegende Frage an Sie stelle? Was, um des Himmels willen, hat Ihren Sohn zu diesem äußersten Schritt bewogen?" Der Justizrat ballte die Hand, die auf dem Tisch lag, zur Faust. "Können Sie sich das nicht denken?" Der Geheimrat schüttelte den Kopf. "Ich habe nicht die geringste Ahnung." Labudes Mutter hob die Hände und faltete sie in der Luft. Ihr Blick bat die Männer, innezuhalten. Aber Labudes Vater beugte sich weit vor. "Mein Sohn hat sich erschossen, weil Sie seine Arbeit abgelehnt haben." Der Geheimrat zog das seidene Tuch aus der Tasche und fuhr sich damit über die Stirn. "Was?" fragte er tonlos. Er stand auf und starrte aus seinen vorgewölbten Augen die Umsitzenden an, als befürchte er, sie seien wahnsinnig. "Aber das ist ja gar nicht möglich", flüsterte er. "Doch, es ist möglich!" rief der Justizrat. "Nehmen Sie Ihren Mantel, kommen Sie mit, sehen Sie sich unseren Jungen an! Auf dem Sofa liegt er und ist so tot, wie man nur sein kann." Frau Labude blickte aus weitgeöffneten, unbeweglichen Augen und sagte: "Sie töten ihn zum zweiten Male." "Das ist ja grauenhaft", murmelte der Geheimrat. Er packte den Arm des Justizrates. "Ich hätte die Arbeit abgelehnt? Wer hat das behauptet? Wer hat das behaup-tet?" rief er. "Ich habe die Arbeit mit dem Bemerken bei der Fakultät in Umlauf gesetzt, daß sie die reifste literarhi-storische Leistung der letzten Jahre darstelle. Ich habe in meinem Votum geschrieben, Doktor Stephan Labude könne, infolge dieser Arbeit, auf das lebhafteste Interesse der Fachkreise Anspruch erheben. Ich habe geschrieben, Doktor Labude leiste mit diesem Beitrag zur Aufklärung der modernen Forschung unschätzbare Dienste. Ich habe geschrieben, noch nie sei mir aus Schülerkreisen eine Schrift von ähnlicher Bedeutung vorgelegt worden und ich ließe sie in der Schriftenreihe als Sonderdruck erschei-nen. Wer hat behauptet, die Arbeit sei von mir abgelehnt worden?" Labudes Eltern saßen regungslos. Fabian zitterte am ganzen Körper. "Einen Augenblick", sagte er heiser, "ich hole ihn." Dann rannte er hinaus, die Treppe hinunter, ins Katalogzimmer. Doktor Weckherlin, der wissenschaftliche Gehilfe des Instituts, saß über eine Kartothek gebückt und ordnete Kärtchen ein, auf denen die Neuanschaffungen der Bibliothek verzeichnet waren. Er blickte ungehalten hoch und kniff die kurz-sichtigen Augen zusammen. "Was wollen Sie?" fragte er. "Sie sollen sofort zum Geheimrat kommen", sagte Fa-bian, und als der andere keine Anstalten traf, sondern bloß nickte und in der Kartothek zu blättern fortfuhr, faßte er ihn am Kragen, zerrte ihn vom Stuhl und stieß ihn zur Tür hinaus. "Was erlauben Sie sich eigentlich?" fragte er. Aber Fa-bian schlug ihm, statt zu antworten, mit der Faust ins Gesicht. Weckherlin hob den Arm, um sich zu schützen, und stolperte, ohne länger zu widersprechen, die Treppe hinauf. Vor dem Zimmer des Geheimrats zögerte er wieder, aber Fabian riß die Tür auf. Der Geheimrat und Labudes Eltern fuhren zusammen. Der Assistent blutete aus der Nase. "Ich muß in Ihrer Gegenwart einige Fragen an diesen Herrn richten", sagte Fabian. "Doktor Weckherlin, ha-ben Sie gestern mittag meinem Freund Labude erzählt, seine Arbeit sei abgelehnt worden? Haben Sie erzählt, der Geheimrat habe geäußert, die Arbeit der Fakultät weiterzugeben, heiße die Professoren belästigen? Haben Sie ihm erzählt, der Geheimrat wolle ihm außerdem durch diese private Ablehnung eine öffentliche Blamage er-sparen?" Frau Labude stöhnte und glitt ohnmächtig vom Stuhl. Keiner der Männer kümmerte sich um sie. Weckherlin war bis zur Tür zurückgewichen. Die drei anderen Män-ner standen vorgeneigt und warteten auf Antwort. "Weckherlin", flüsterte der Geheimrat und stützte sich schwer auf die Stuhllehne. Der Assistent verzog das breite, blasse Gesicht, als wolle er lächeln, er öffnete wiederholt den Mund. "Wird's bald?" fragte der Justizrat drohend. Weckherlin legte die Hand auf die Klinke und sprach: "Es war nur ein Scherz!" Da schrie Fabian, es war ein unartikulierter Laut, er klang wie der Schrei eines Tieres. Im nächsten Augenblick sprang er vor und schlug auf den Assistenten ein, mit beiden Fäusten, unablässig, ohne zu überlegen, wohin er traf. Besinnungslos, wie ein automatischer Hammer, schlug er zu, immer wieder. "Du Schuft!" brüllte er und hieb dem anderen beide Fäuste mitten ins Gesicht. Weckherlin lächelte noch immer, als wolle er sich entschuldi-gen. Er hatte vergessen, daß er die Hand auf der Klinke hielt und aus dem Zimmer fliehen wollte. Er sank unter den Schlägen vorübergehend in die Knie. Er zog sich an der Klinke wieder hoch, die Tür schnappte auf. Jetzt erst besann er sich auf seinen Vorsatz, drängte durch die Tür auf den Korridor, Fabian folgte ihm, sie näherten sich, Schritt für Schritt, der Treppe, die ins Untergeschoß führte, der eine schlug, der andere blutete. Unten am Fuß der Treppe sammelten sich Studenten, die der Lärm aus den Institutsräumen gelockt hatte. Sie standen stumm und abwartend, als spürten sie, was dort oben geschah, sei gerecht. "Du Hund!" sagte Fabian und traf den Assistenten unterm Kinn. Weckherlin kippte hintenüber, schlug dumpf mit dem Kopf auf eine Stufe und rollte klappernd die Holztreppe hinunter. Fabian lief hinter ihm her und wollte sich über ihn stürzen. Da sprangen ein paar Studenten vor und hielten ihn fest. "Laßt mich los!" schrie er und riß wie ein Tobsüchtiger an den Armen, die ihn umklammerten. "Laßt mich los, ich schlag ihn tot!" Jemand hielt ihm den Mund zu. Der Institutsdiener kniete neben dem Assistenten. Der ver-suchte sich aufzurichten, sank aber stöhnend zurück. Man schleppte ihn ins Katalogzimmer. Im Obergeschoß, dicht an der Treppe, standen der Ge-heimrat und Labudes Vater. Durch die geöffnete Tür vernahm man langgezogene Klagelaute, Stephans Mutter war aus der Ohnmacht erwacht. "Ach so, es war nur ein Scherz!" rief der Justizrat und lachte verzweifelt. Der Geheimrat sagte markig, als habe er endlich einen Ausweg gefunden: "Doktor Weckherlin ist entlassen." Die Studenten gaben Fabian frei, er senkte den Kopf, vielleicht bedeutete es einen Abschiedsgruß, und verließ das Institut. EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL Juristin wird Filmstar Eine alte Bekannte Die Mutter verkauft Schmierseife Es war nur ein Scherz gewesen! Herr Weckherlin hatte einen dummen Witz gemacht, und Labude war daran gestorben. Es war nur scheinbar ein Selbstmord gewesen. Ein Subalternbeamter des Mittel-hochdeutschen hatte den Freund umgebracht. Er hatte ihm vergiftete Worte ins Ohr geträufelt, wie Arsenik ins Trinkglas. Er hatte, zum Spaß, auf Labude gezielt und abgedrückt. Und aus der ungeladenen Waffe war ein tödlicher Schuß gefallen. Fabian sah, während er durch die Friedrichstraße lief, immer noch Weckherlins feig lächelndes Gesicht vor Augen, und er fragte sich nachträglich überrascht: Warum habe ich auf den Kerl eingeschlagen, als müsse alles vernichtet werden? Warum war meine Wut auf ihn größer als die Trauer über Labudes unsinniges Ende? Verdient ein Mensch, der, wie jener, unabsichtlich solches Unheil anstiftet, nicht eher Mitleid als Haß? Wird er jemals wieder ruhig schlafen können? Fabian verstand allmählich seinen Instinkt. Weckherlin hatte es nicht absichtlich getan. Er hatte Labude treffen wollen, nicht töten, aber verwunden. Der talentlose Kon-kurrent hatte sich am Begabten gerächt. Seine Lüge war eine Sprengkapsel gewesen. Er hatte sie in Labude hineingeworfen und war davongelaufen, um, aus sicherer Ent-fernung, schadenfroh die Explosion zu beobachten. Weckherlin war entlassen, verprügelt worden war er auch. Aber wäre es nicht besser gewesen, er hätte seinen Posten nicht verloren und die Schläge nicht erhalten? Wäre es nicht besser gewesen, Weckherlins Lüge hätte, wenn Labude schon einmal tot war, weitergelebt? Gestern hatte ihn der Tod des Freundes mit Traurigkeit beseelt, heute erfüllte er ihn mit Unfrieden. Die Wahrheit war an den Tag gekommen, wem war damit gedient? Labudes Eltern etwa, die nun endlich wußten, daß ihr Sohn das Opfer einer Infamie geworden war? Bevor sie erfuhren, was die Wahrheit war, hatte es keine Lügen gegeben. Nun hatte die Gerechtigkeit gesiegt, und aus dem Selbstmord wurde nachträglich ein tragischer Witz. Fabian dachte an Labudes Begräbnis, und ihn schauderte: Er sah sich schon im Trauergefolge, am Sarg erkannte er Labudes Eltern, auch der Geheimrat war in der Nähe, und Labudes Mutter schrie laut auf. Sie riß sich den schwarzen Kreppschleier vom schwarzen Hut und sank jammernd vornüber. "Obacht!" sagte jemand ärgerlich. Fabian wurde gestoßen und stand still. Hätte er die Sache mit Weckherlin vertu-schen sollen, statt sie aufzuklären? Hätte er die Kenntnis des wahren Sachverhalts in sich einschließen sollen, um die Eltern davor zu bewahren? Warum war Labude bis in seine letzten Briefe so gründlich, warum war er so ord-nungsliebend gewesen? Warum hatte er sein Motiv beim Namen genannt? Fabian ging weiter. Er bog in die Leipziger Straße ein. Es war Mittag. Die Angestellten der Büros und die Verkäuferinnen umdrängten die Haltestel-len und stürmten die Autobusse, die Eßpause war kurz. Wenn dieser Weckherlin nicht dazwischengekommen wä-re, wenn Labude erfahren hätte, wie seine Arbeit wirklich eingeschätzt wurde, wäre er jetzt nicht gestorben, mehr noch, der Erfolg hätte ihn befeuert, hätte ihm die Enttäu-schung mit Leda erleichtert und seinem politischen Ehr-geiz Luft gemacht. Warum hatte er denn an der Arbeit fünf Jahre gesessen? Sich selbst hatte er beweisen wollen, daß er leistungsfähig war. Er hatte mit diesem Erfolg gerechnet, er hatte ihn psychologisch abwägend in seine Entwicklung einkalkuliert, und die Kalkulation war rich-tig gewesen. Und doch hatte er Weckherlins Lüge eher geglaubt als seiner eigenen Überzeugung. Nein, Fabian wollte nicht dabei sein, wenn man den Freund ins Jenseits beförderte. Er mußte fort aus dieser Stadt. Er starrte auf eines der vorüberfahrenden Autos. War es nicht Cornelia? Dort neben dem dicken Mann? Sein Herz setzte aus. Sie war es nicht. Er mußte fort, keine zehn Pferde hielten ihn länger. Er ging zum Bahnhof. Er fuhr nicht noch einmal zur Witwe Hohlfeld, er ließ in deren Zimmer alles, wie es stand und lag, stehen und liegen. Er besuchte Zacharias nicht mehr, diesen eitlen, verlogenen Menschen. Er ging zum Bahnhof. Der D-Zug ging in einer Stunde. Fabian besorgte sich eine Fahrkarte, kaufte Tageszeitungen, setz-te sich in den Wartesaal und durchflog die Blätter. Auf einer Wirtschaftstagung waren internationale Abkommen großen Stils gefordert worden. War dergleichen nur Schönrederei? Oder begriff man allmählich, was alle wußten? Erkannte man, daß die Vernunft das vernünftig-ste war? Vielleicht hatte Labude recht gehabt? Vielleicht war es wirklich nicht nötig, auf die sittliche Hebung der gefallenen Menschheit zu warten? Vielleicht war das Ziel der Moralisten, wie Fabian einer war, tatsächlich durch wirtschaftliche Maßnahmen erreichbar? War die morali-sche Forderung nur deswegen uneinlösbar, weil sie sinn-los war? War die Frage der Weltordnung nichts weiter als eine Frage der Geschäftsordnung? Labude war tot. Ihn hätte so etwas begeistert. In seine Pläne hätte es sich eingefügt. Fabian saß im Wartesaal, dachte des Freundes Gedanken und blieb apathisch. Woll-te er die Besserung der Zustände? Er wollte die Besserung der Menschen. Was war ihm jenes Ziel ohne diesen Weg dahin? Er wünschte jedem Menschen pro Tag zehn Hüh-ner in den Topf, er wünschte jedem sein Wasserklosett mit Lautsprecher, er wünschte jedem sieben Automobile, für jeden Tag der Woche eins. Aber was war damit erreicht, wenn damit nichts anderes erreicht wurde? Wollte man ihm etwa weismachen, der Mensch würde gut, wenn es ihm gutginge? Dann mußten ja die Beherrscher der Ölfelder und der Kohlengruben wahre Engel sein! Hatte er nicht zu Labude gesagt: "Noch in dem Paradies, das du erträumst, werden sich die Menschen gegenseitig die Fresse vollhauen?" War das Elysium, mit zwanzigtausend Mark Durch-schnittseinkommen pro Barbaren, ein menschenwürdiger Abschluß? Während er, sitzenderweise, seine moralische Haltung gegen die Konjunkturforscher verteidigte, regten sich wieder jene Zweifel, die seit langem in seinem Gefühl wie Würmer wühlten. Waren jene humanen, anständigen Normalmenschen, die er herbeiwünschte, in der Tat wünschenswert? Wurde dieser Himmel auf Erden, ob er nun erreichbar war oder nicht, nicht schon in der bloßen Vorstellung infernalisch? War ein derartig mit Edelmut vergoldetes Zeitalter überhaupt auszuhalten? War es nicht viel eher zum Blödsinnigwerden? War vielleicht jene Planwirtschaft des reibungslosen Eigennutzes nicht nur der eher zu verwirklichende, sondern auch der eher erträgliche Idealzustand? Hatte seine Utopie bloß regula-tive Bedeutung, und war sie als Realität ebensowenig zu wünschen wie zu schaffen? War es nicht, als spräche er zur Menschheit, ganz wie zu einer Geliebten: "Ich möchte dir die Sterne vom Himmel holen!" Dieses Versprechen war lobenswert, aber wehe, wenn der Liebhaber es wahr-machte. Was finge die bedauernswerte Geliebte mit den Sternen an, wenn er sie angeschleppt brächte! Labude hatte auf dem Boden der Tatsachen gestanden, hatte marschieren wollen und war gestolpert. Er, Fabian, schwebte, weil er nicht schwer genug war, im Raum und lebte weiter. Warum lebte er denn noch, wenn er nicht wußte, wozu? Warum lebte der Freund nicht mehr, der das Wozu gekannt hatte? Es starben und es lebten die Verkehrten. Im Feuilleton des Boulevardblattes, das auf seinen Knien lag, sah er Cornelia wieder. "Juristin wird Filmstar", stand groß unter dem Foto. "Fräulein Dr. jur. Cornelia Battenberg", war weiterhin zu lesen, "wurde von Edwin Makart, dem bekannten Filmindustriellen, entdeckt und beginnt schon in den nächsten Tagen mit den Aufnahmen zu dem Film "Die Masken der Frau Z"." "Alles Gute", flüsterte Fabian und nickte dem Bild zu. In der anderen Zeitung sah er sie noch einmal. Sie trug einen imposanten Sommerpelz und saß in dem Auto, das er schon kannte, am Steuer. Neben ihr hockte ein dicker, großer Mensch, anscheinend der Entdecker persönlich. Die Unterschrift bestätigte die Vermutung. Der Mann wirkte brutal und verschlagen, wie ein Teufel ohne Gymnasialbildung. Edwin Makart, der Mann mit der Wün-schelrute, wurde vom Redakteur behauptet; seine neueste Entdeckung heiße Cornelia Battenberg. Sie repräsentiere als ehemaliger Referendar einen neuen Modetyp, die intelligente deutsche Frau. "Alles Gute", wiederholte Fabian und starrte auf das Foto. Wie lange war das her! Er blickte auf das Bild, als betrachte er ein Grab. Eine unsichtbare gespenstische Schere hatte sämtliche Bande, die ihn an diese Stadt fesselten, zerschnitten. Der Beruf war verloren, der Freund tot, Cornelia in fremder Hand, was hatte er hier noch zu suchen? Er trennte die Fotografien sorgfältig aus den Zeitungen, verwahrte die Ausschnitte im Notizbuch und warf die Zeitungen fort. Nichts hielt ihn zurück, er verlangte dorthin, woher er gekommen war: nach Hause, in seine Vaterstadt, zu seiner Mutter. Er war schon lange nicht mehr in Berlin, obwohl er noch immer auf dem Anhalter Bahnhof saß. Würde er wiederkommen? Als sich ein paar Leute an seinem Tisch breitmachten, stand er auf, durch-schritt die Sperre und setzte sich in den Zug, der auf das Signal zur Abfahrt wartete. Nur fort von hier! Der Minutenzeiger der Bahnhofsuhr rückte weiter. Nur fort! Fabian saß am Fenster und blickte hinaus. Die Felder und Wiesen schwangen wie auf einer Drehscheibe. Die Tele-graphenstangen machten Kniebeugen. Manchmal standen kleine barfüßige Bauernkinder mitten in der tanzenden Landschaft und winkten mechanisch. Auf einer Weide graste ein Pferd. Ein Fohlen hüpfte den Zaun entlang und schwenkte den Kopf. Dann fuhren sie durch einen düsteren Fichtenwald. Die Stämme waren von grauen Flechten bewachsen. Die Bäume standen da, als seien sie aussätzig und als habe man ihnen verboten, den Wald zu verlassen. Ihm war, als suche jemand seine Augen. Er wandte sich um und blickte ins Abteil. Die Mitreisenden, gleichgülti-ge, gleichgültig dasitzende Leute, waren mit sich beschäf-tigt. Wer sah ihn an? Da entdeckte er, draußen im Gang, Frau Irene Moll. Sie rauchte eine Zigarette und lächelte ihm zu. Als er sich nicht rührte, winkte sie. Er trat hinaus. "Es ist skandalös, wie wir beiden einander nachlaufen", sagte sie. "Wo fährst du hin?" "Nach Hause." "Sei höflich", meinte sie. "Frage mich gefälligst, wo ich hin will." "Wo wollen Sie hin?" Sie lehnte sich an ihn und flüsterte: "Ich türme. Einer der Schlafburschen hat mein Etablissement verpfiffen. Ich erfuhr es heute morgen von einem Polizeibeamten, dessen Monatsgehalt ich verdoppelt habe. Kommst du mit nach Budapest?" "Nein", sagte er. "Ich habe hunderttausend Mark bei mir. Wir brauchen nicht nach Budapest zu fahren. Wollen wir über Prag nach Paris? Wir werden im Claridge wohnen. Oder wir gehen nach Fontainebleau und mieten eine kleine Villa." "Nein", sagte er. "Ich fahre nach Hause." "Komm mit", bat sie. "Ich habe Schmuck bei mir. Wenn wir blank sind, erpressen wir die alten Schachteln, die sich bei mir beschlummern ließen. Ich kenne interessante Einzelheiten, Gucklöcher haben ihr Gutes. Oder willst du lieber nach Italien? Was hältst du von Bellagio?" "Nein", sagte er, "ich fahre zu meiner Mutter." "Du verdammter Esel", flüsterte sie ärgerlich. "Soll ich vor dir niederknien und dir eine Liebeserklärung machen? Was hast du gegen mich? Bin ich dir zu aufgeklärt? Ist dir eine dumme Gans lieber? Ich habe es endlich satt, nach der ersten besten Hose zu greifen. Du gefällst mir. Wir begegnen einander immer wieder. Das kann kein Zufall sein." Sie faßte seine Hand und streichelte seine Finger. "Ich bitte dich, komm mit." "Nein", sagte er. "Ich komme nicht mit. Reisen Sie gut." Er wollte wieder in sein Abteil. Sie hielt ihn zurück. "Schade, jammerschade. Vielleicht ein andres Mal." Sie öffnete ihre Handtasche. "Brauchst du Geld?" Sie wollte ihm ein paar Banknoten m die Hand stecken. Er schloß die Hand zur Faust, schüttelte den Kopf und ging ins Kupee. Sie blieb noch eine Weile vor der Tür des Abteils und sah ihn an. Er blickte durchs Fenster. Man fuhr durch ein Dorf. Es war gegen sechs Uhr abends, als er ankam. Er trat aus dem Bahnhof und sah die Dreikönigskirche. Ihm schien, sie musterte ihn von oben herunter: Warum holt dich heute niemand ab und warum kommst du ohne Koffer? Er ging den Dammweg entlang und durchschritt den alten Viadukt. Ein endlos langer Güterzug ratterte drüber hin, die Steinwölbung dröhnte. Das Haus, in dem früher der Lehrer Schanze gewohnt hatte, war frisch gestrichen. Die anderen Häuser standen unverändert in ihrer grauen, ihm seit Kindheit bekannten Front. In dem Eckhaus, das der Hebamme Schröder gehörte, war ein neues Geschäft eröffnet worden, ein Fleischer-laden, noch standen die Blumenstöcke im Schaufen-ster. Langsam näherte er sich dem Haus, in dem er geboren war. Wie vertraut ihm die Straße war. Er kannte die Fassade, er kannte die Höfe, Keller und Böden, überall war er hier beheimatet. Aber die Menschen, die aus den Häusern traten, waren ihm fremd. Er blieb stehen. "Seifengeschäft" stand über dem Laden. Ein Zettel klebte am Fenster. Er las: "Nun auch Feinseifen herab-gesetzt. Hausmarke Lavendel zwanzig statt zweiundzwanzig Pfennige. Torpedoseife fünfundzwanzig statt achtundzwanzig Pfennige." Er ging bis zur Tür. Seine Mutter stand hinter dem Ladentisch, zwei Frauen standen davor. Die Mutter bückte sich gerade und stellte ein Paket Waschpulver auf den Tisch, dann schnitt sie einen Riegel Kernseife mittendurch. Dann nahm sie einen Bogen Packpapier und einen Holzlöffel, schaufelte Schmierseife aus dem Faß, wog sie ab und wickelte sie ein. Er spürte den Seifengeruch bis auf die Straße. Dann klinkte er die Ladentür auf. Die Glocke bimmelte. Die alte Frau sah auf und ließ erschrocken die Hän-de sinken. Er ging auf sie zu und sagte mit zitternder Stimme: "Mutter, Labude hat sich erschossen." Und plötzlich liefen ihm die Tränen aus den Augen. Er öffnete die Tür, die ins Hinterzimmer führte, schloß sie wieder, setzte sich in den Lehnstuhl vorm Fenster, blickte in den Hof hinaus, legte langsam den Kopf aufs Fensterbrett und weinte. ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL Besuch in der Kinderkaserne Kegelschieben im Park Die Vergangenheit biegt um die Ecke "Was hat er denn?" fragte der Vater am nächsten Morgen. "Seine Stellung hat er verloren", sagte die Mutter. "Und sein Freund hat sich umgebracht, Labude, weißt du, den er seinerzeit in Heidelberg kennenlernte." "Ich wußte gar nicht, daß er einen Freund hatte", meinte der Vater. "Man erfährt ja nichts." "Du hörst nur nicht zu", sagte die Mutter. Da läutete die Ladenglocke. Als Frau Fabian wieder ins Zimmer trat, las der Mann die Zeitung. "Außerdem hat er mit einem jungen Mädchen Pech gehabt", fuhr sie fort. "Aber darüber spricht er sich nicht näher aus. Sie hat Rechtsanwalt studiert und geht zum Film." "Schade um das Geld fürs Studium", erklärte der Mann. "Ein hübsches Mädchen", sagte Fabians Mutter. "Aber sie lebt mit einem dicken Kerl zusammen, einem Filmdi-rektor, das reinste Brechmittel." "Wird er lange hierbleiben?" fragte der Vater. Die Mutter zuckte die Achseln und goß sich Kaffee ein. "Tausend Mark hat er mir gegeben. Labude hat ihm das Geld hinterlassen. Ich werde es aufheben. Der Junge hat einen Knacks wegbekommen, ich kann mir nicht helfen. Und das hat nichts mit Labude zu tun, und nichts mit der Filmschauspielerin. Er glaubt nicht an Gott, es muß damit zusammenhängen. Ihm fehlt der ruhende Punkt." "Als ich so alt war wie er, war ich schon fast zehn Jahre verheiratet", sagte der Vater. Fabian lief die Heerstraße entlang, an der Garnisonskirche und den Kasernen vorüber. Der runde kiesbestreute Platz vor der Kirche war leer. Wann war das denn gewesen, daß er hier gestanden hatte, ein Soldat unter Tausenden, die Hosen lang, den Helm auf dem Kopf, gerüstet zur feldgrauen Predigt, siebzehnjährig, bereit zu hören, was der deutsche Gott seinen Armeen mitteilen ließ? Er blieb am Tor der ehemaligen Fußartilleriekaserne stehen und lehnte sich an die Eisenstäbe. Antreten zum Dienstverle-sen, Geschützexerzieren, Ausmarsch zum Nachtdienst, Vortrag über Kriegsanleihe, Löhnungfassen, was war alles auf diesem blöden Hof geschehen. Hatte er hier nicht gehört, wie die alten Soldaten, ehe sie zum dritten und vierten Male feldmarschmäßig abgeführt wurden, mitein-ander um ein Kommißbrot wetteten, wer am schnellsten zurück sein werde? Und waren sie nicht, eine Woche später, in lumpiger Uniform wieder aufgetaucht, einen Tripper echt Brüsseler Abstammung am Leibe? Fabian ließ das Gitter los und ging weiter an den alten protzigen Grenadier- und Infanteriekasernen vorbei. Hier war der Park und die Schule, in der er jahrelang gesessen und gelebt hatte, ehe er mit Linksdrall, Scherenfernrohr und Lafettenschwanz bekanntgemacht wurde. Die Straße, die sich zu der Stadt hinuntersenkte, abends war er sie heimlich entlanggerannt, nach Hause, zur Mutter, auf wenige Minuten. Ob Schule, Kadettenanstalt, Lazarett oder Kirche, an der Peripherie dieser Stadt war jedes Gebäude eine Kaserne gewesen. Noch immer lag das große, graue Gebäude mit den schiefergedeckten spitzen Ecktürmen da, als sei es bis unters Dach mit Kindersorgen angefüllt. Die Fenster der Direktionswohnung waren noch immer mit weißen Gar-dinen geziert, im Gegensatz zu den vielen schwarzen schmucklosen Fenstern, hinter denen die Klassenzimmer, die Wohnräume der Schüler, die Schrankzimmer und die Schlafsäle lagen. Früher hatte er immer geglaubt, das riesige Haus müsse nach der Seite, auf der die Direktorwohnung lag, tief in die Erde sinken, so schwerwiegend war ihm die Tatsache erschienen, daß hier Gardinen an den Fenstern hingen. Er ging durch das Tor und stieg die Stufen hinauf. Aus den Klassenzimmern drangen dunkle und helle Stimmen. Der leere Korridor war erfüllt davon. Aus der ersten Etage wehten Chorgesang und Klavier-spiel. Fabian verschmähte die breite Freitreppe, er kletter-te im Seitenflügel die schmalen Stufen hinan, zwei kleine Schüler kamen ihm entgegen. "Heinrich", rief der eine, "du sollst sofort zum Storch kommen und die Hefte holen." "Der wird's wohl erwarten können", sagte Heinrich und ging krampfhaft langsam durch die schwankende Glastür. "Der Storch", dachte Fabian, "es hat sich nichts geän-dert." Dieselben Lehrer waren noch da, die Spitznamen waren geblieben. Nur die Schüler wechselten. Ein Jahr-gang nach dem ändern wurde erzogen und gebildet. Früh läutete der Hausmeister. Die Jagd begann: Schlafsaal, Waschsaal, Schrankzimmer, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch, holten die Butterdosen aus dem Eis-schrank und die emaillierten Kaffeekannen aus dem Auf-zug. Die Jagd ging weiter: Wohnzimmer, Staubwischen, Klassenzimmer, Unterricht, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch fürs Mittagessen. Die Jagd ging weiter: Freizeit, Gartendienst, Fußballspiel, Wohnzimmer, Schularbeiten, Klassenzimmer, Speisesaal. Die Jüngsten deckten den Tisch fürs Abendbrot. Die Jagd ging weiter: Wohnzimmer, Schularbeiten, Waschsaal, Schlafsaal. Die Primaner durften zwei Stunden länger aufbleiben und rauchten im Park Zigaretten. Es hatte sich nichts geändert, nur die Jahrgänge wechselten. Fabian stand in der dritten Etage und öffnete die Tür zur Aula. Morgenandacht, Abendandacht, Orgelspiel, Kai-sers Geburtstag, Sedanfeier, Schlacht bei Tannenberg, Fahnen im Turm, Osterzensuren, Entlassung der Einbe-rufenen, Eröffnung der Kriegsteilnehmerkurse, immer wieder Orgelspiel und Festreden voller Frömmigkeit und Würde. Einigkeit und Recht und Freiheit hatte sich in der Atmosphäre dieses Raumes festgebissen. Ob es noch so wie früher war, daß man, kam ein Lehrer vorüber, strammstehen mußte? Mittwochs gab es zwei und sonn-abends drei Stunden Ausgang. Ob man immer noch, wenn der Ausgang entzogen worden war, vom Inspektor angehalten wurde, Zeitungen mit Hilfe einer Schere in Abortpapiere zu verwandeln? War es denn nicht auch manchmal schön gewesen? Hatte er immer nur die Lüge gespürt, die hier umging, und die böse heimliche Gewalt, die aus ganzen Kindergenerationen gehorsame Staatsbe-amte und bornierte Bürger machte? Es war manchmal schön gewesen, aber nur trotzdem. Er verließ die Aula und stieg die düstere Wendeltreppe zu den Wasch- und Schlafsälen hinauf. In langer Front standen die eisernen Bettstellen. An den Wänden hingen die Nachthemden militärisch ausgerichtet. Ordnung mußte sein. Nachts waren die Primaner aus dem Park herausgekommen und hatten sich zu erschrockenen Quintanern und Quartanern ins Bett gelegt. Die Kleinen hatten ge-schwiegen. Ordnung mußte sein. Er trat ans Fenster. Unten im Flußtal schimmerte die Stadt mit ihren alten Türmen und Terrassen. Wie oft war er, wenn die anderen schliefen, hierher geschlichen, hatte hinabgeblickt und das Haus gesucht, in dem die Mutter krank lag. Wie oft hatte er den Kopf gegen die Scheiben gepreßt und das Weinen unterdrückt. Es hatte ihm nichts geschadet, das Gefängnis nicht und das unterdrückte Heulen nicht, das war richtig. Damals hatte man ihn nicht kleingekriegt. Ein paar hatten sich erschos-sen. Es waren nicht viele gewesen. Im Krieg hatten schon mehr daran glauben müssen. Später waren noch etliche gestorben. Heute war die Hälfte der Klasse tot. Er stieg die Treppen hinunter, verließ das Gebäude und ging in den Park. Mit Reisigbesen und Schaufeln und spitzen Stöcken waren sie hinter einem Handwagen hergetrabt, hatten welkes Laub zusammengekehrt und Papier, das herumlag, aufgespießt. Der Park war groß, er senkte sich zu einem kleinen Bach hinab. Fabian lief auf den alten, vertrauten Pfaden, setzte sich auf eine Bank, blickte in die Wipfel der Bäume, ging weiter und wehrte sich vergeblich dagegen, daß ihn das, was er sah, zurückverwandelte. Die Säle und Zimmer und Bäu-me und Beete, die ihn umgaben, waren keine Wirklichkeit, sondern Erinnerungen. Hier hatte er seine Kindheit zurückgelassen, und nun fand er sie wieder. Sie sank von den Zweigen und Wänden und Türmen auf ihn herab und bemächtigte sich seiner. Er schritt immer tiefer hinein in den melancholischen Zauber. Er kam zur Kegelbahn, die Kegel standen schußfertig. Fabian sah sich um, er war allein, da nahm er eine große Kugel aus dem Kasten, holte aus, lief vor und ließ die Kugel über die Bahn rollen. Sie machte ein paar kleine Sprünge. Die Bahn war immer noch uneben. Sechs Kegel fielen klappernd um. "Was soll denn das?" fragte jemand ärgerlich. "Fremde haben hier nichts zu suchen!" Es war der Direktor. Er hatte sich kaum verändert. Sem assyrischer Bart war nur noch grauer geworden. "Entschuldigen Sie", sagte Fabian, zog den Hut und wollte sich entfernen. "Einen Augenblick", rief der Direktor. Fabian drehte sich um. "Sind Sie nicht ein ehemaliger Schüler von uns?" fragte der Mann. Dann streckte er die Hand aus. "Natür-lich, Jakob Fabian! Herzlich willkommen! Das ist nett. Haben Sie Sehnsucht nach Ihrer alten Schule gehabt?" Sie begrüßten sich. "Eine böse Zeit", sagte der Direktor. "Eine gottlose Zeit. Die Gerechten müssen viel leiden." "Wer sind die Gerechten?" fragte Fabian. "Geben Sie mir ihre Adresse." "Sie sind immer noch der alte", meinte der Direktor. "Sie waren immer einer der besten Schüler und einer der frechsten. Und wie weit haben Sie es damit gebracht?" "Der Staat ist im Begriff, mir eine kleine Pension zu bewilligen", sagte Fabian. "Arbeitslos?" fragte der Direktor streng. "Ich hatte mehr von Ihnen erwartet." Fabian lachte. "Die Gerechten müssen viel leiden", er-klärte er. "Hätten Sie nur damals Ihr Staatsexamen gemacht", sagte der Direktor. "Dann stünden Sie jetzt nicht ohne Beruf da." "Ich stünde in jedem Fall ohne Beruf da", entgegnete Fabian erregt. "Auch wenn ich ihn ausübte. Ich kann Ihnen verraten, daß die Menschheit mit Ausnahme der Pastoren und Pädagogen nicht mehr weiß, wo ihr der Kopf steht. Der Kompaß ist kaputt, aber hier, in diesem Haus, merkt das niemand. Ihr fahrt nach wie vor in eurem Lift rauf und runter, von der Sexta bis zur Prima, wozu braucht ihr einen Kompaß?" Der Direktor schob die Hände unter die Flügel seines Gehrocks und sagte: "Ich bin entsetzt. Es gäbe keine Aufgabe für Sie. Gehen Sie hin und bilden Sie Ihren Charakter, junger Mensch! Wozu haben wir Geschichte getrieben? Wozu haben wir die Klassiker gelesen? Runden Sie Ihre Persönlichkeit ab!" Fabian betrachtete den wohlgenährten, selbstgefälligen Herrn und lächelte. Dann sagte er: "Sie mit Ihrer abgerun-deten Persönlichkeit!" und ging. Auf der Straße traf er Eva Kendler. Sie kam mit zwei Kindern daher und war ziemlich dick geworden. Er wunderte sich, daß er sie überhaupt erkannte. "Jakob!" rief sie und wurde rot. "Du hast dich gar nicht verändert. Sagt dem Onkel guten Tag!" Die Kinder gaben ihm die Hand und machten Knickse. Es waren zwei Mädchen. Sie sahen ihrer Mutter ähnlicher als sie sich selber. "Wir sind uns mindestens zehn Jahre nicht begegnet", sagte er. "Wie geht's dir? Wann hast du geheiratet?" "Mein Mann ist Oberarzt im Carolahaus", erzählte sie. "Da kann man keine großen Sprünge machen. Zu einer eigenen Praxis reicht es nicht. Vielleicht geht er mit Professor Wandsbeck nach Japan. Wenn es sich lohnt, fahre ich mit den Kindern nach." Er nickte und betrachte-te die beiden kleinen Mädchen. "Damals war es schöner", sagte sie leise. "Weißt du noch, wie meine Eltern verreist waren? Siebzehn Jahre war ich alt. Wie die Zeit vergeht." Sie seufzte und strich den kleinen Mädchen die Matrosenkragen glatt. "Ehe man recht dazu kommt, sein eigenes Leben zu haben, trägt man schon wieder Verantwortung für sei-ne Kinder. Dieses Jahr fahren wir nicht einmal an die See." "Das ist natürlich schrecklich", meinte er. "Ja", sagte sie, "da wollen wir mal gehen. Auf Wiederse-hen, Jakob." "Auf Wiedersehen." "Gebt dem Onkel die Hand!" Die kleinen Mädchen machten Knickse, drängten sich an die Mutter und zogen mit ihr davon. Fabian blieb noch eine Weile stehen. Die Vergangenheit bog um die Ecke, mit zwei Kindern an der Hand, fremd geworden, kaum wiederzuerkennen. "Du hast dich gar nicht verändert", hatte die Vergangenheit zu ihm gesagt. "Wie war's?" fragte die Mutter. Sie standen, nach dem Mittagessen, im Laden und packten eine Kiste mit Bleichpulver aus. "Ich war oben bei den Kasernen. In der Schule war ich auch. Und dann habe ich die Eva getroffen. Zwei kleine Kinder hat sie. Der Mann ist Arzt." Die Mutter zählte die Pakete, die sie ins Regal geräumt hatte. "Die Eva? Das war einmal ein hübsches Mädchen. Wie war das gleich? Du kamst doch damals zwei Tage nicht nach Hause." "Ihre Eltern waren verreist, und ich mußte einen mehrtä-gigen Aufklärungskursus abhalten. Es war ihr erster, und ich löste meine Aufgabe sehr gewissenhaft und mit wahr-haft sittlichem Ernst." "Ich war damals in Sorge", sagte die Mutter. "Aber ich schickte dir doch eine Depesche!" "Depeschen sind etwas Unheimliches", erklärte sie. "Über eine halbe Stunde saß ich davor und traute mich nicht, sie zu öffnen." Er reichte die Pakete, die Mutter schichtete auf. "Wäre es nicht besser, wenn du hier eine Stellung suchtest?" fragte sie. "Gefällt es dir gar nicht mehr bei uns? Du könntest in die Wohnstube ziehen. Hier sind auch die Mädchen netter und nicht so verrückt. Vielleicht findest du doch eine Frau." "Ich weiß noch nicht, was ich mache", sagte er. "Es kann sein, daß ich hierbleibe. Ich will arbeiten. Ich will mich betätigen. Ich will endlich ein Ziel vor Augen haben. Und wenn ich keines finde, erfinde ich eines. So geht es nicht weiter." "Zu meiner Zeit gab es das nicht", behauptete sie. "Da war Geldverdienen ein Ziel und Heiraten und Kinder-kriegen." "Vielleicht gewöhne ich mich daran", meinte er. "Wie sagst du immer?" Sie hielt im Packen inne und sagte mit Nachdruck: "Der Mensch ist ein Gewohnheitstier." DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL Pilsner Bier und Patriotismus Türkisches Biedermeier Fabian wird gratis behandelt Gegen Abend ging Fabian in die Altstadt hinüber. Von der Brücke aus sah er die weltberühmten Gebäude wieder, die er, seit er denken konnte, kannte: das ehemalige Schloß, die ehemalige königliche Oper, die ehemalige Hofkirche, alles war hier wunderbar und ehemalig. Der Mond rollte ganz langsam von der Spitze des Schloß-turms, als gleite er auf einem Draht. Die Terrasse, die sich am Flußufer erstreckte, war mit alten Bäumen und ehrwürdigen Museen bewachsen. Diese Stadt, ihr Leben und ihre Kultur befanden sich im Ruhestand. Das Panorama glich einem teuren Begräbnis. Auf dem Altmarkt traf er Wenzkat. "Nächsten Freitag ist Klassenzusammenkunft im Ratskeller", erzählte Wenzkat. "Bist du dann noch hier?" "Ich hoffe", sagte Fabian. "Wenn es irgend geht, erscheine ich." Er wollte rasch weiter, aber der andere lud ihn ein. Seine Frau sei seit vierzehn Tagen im Bad. Sie gingen zu Gaßmeier und tranken Pilsner. Nach dem dritten Glas wurde Wenzkat politisch. "So geht das nicht weiter", schimpfte er. "Ich bin im Stahlhelm. Das Abzeichen trage ich nicht. Ich kann mich, bei meiner Zivilpraxis, öffentlich nicht festlegen. Doch das ändert nichts an der Sache. Es gilt einen Verzweiflungskampf." "Zum Kampf kommt es gar nicht erst, wenn ihr anfangt", sagte Fabian. "Es kommt gleich zur Verzweiflung." "Vielleicht hast du recht", rief Wenzkat und schlug auf die Tischplatte. "Dann gehen wir eben unter, kreuznochmal!" "Ich weiß nicht, ob das dem ganzen Volk recht ist", wandte Fabian ein. "Wo nehmt ihr die Dreistigkeit her, sechzig Millionen Menschen den Untergang zuzumuten, bloß weil ihr das Ehrgefühl von gekränkten Truthähnen habt und euch gern herumhaut?" "So war es immer in der Weltgeschichte", sagte Wenzkat entschieden und trank sein Glas leer. "Und so sieht sie auch aus von vorn bis hinten, die Weltgeschichte!" rief Fabian. "Man schämt sich, derglei-chen zu lesen, und man sollte sich schämen, den Kindern dergleichen einzutrichtern. Warum muß es immer so gemacht werden, wie es früher gemacht wurde? Wenn das konsequent geschehen wäre, säßen wir heute noch auf den Bäumen." "Du bist kein Patriot", behauptete Wenzkat. "Und du bist ein Hornochse", rief Fabian. "Das ist noch viel bedauerlicher." Dann tranken sie noch ein Bier und wechselten vorsichts-halber das Thema. "Ich habe einen glänzenden Einfall", meinte Wenzkat. "Wir gehen ein bißchen ins Bordell." "Gibt es denn so etwas noch? Ich denke, sie sind gesetz-lich verboten." "Freilich", sagte Wenzkat. "Verboten sind sie, aber es gibt noch welche. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Du wirst dich amüsieren." "Ich denke gar nicht daran", erklärte Fabian. "Wir trinken eine Flasche Sekt mit den Mädchen. Das übrige ist fakultativ. Sei nett. Komm mit. Gib gut auf mich acht, damit ich meiner Frau keinen Kummer mache." Das Haus lag in einer kleinen schmalen Gasse. Fabian erinnerte sich, als sie davorstanden, daß hier die Offiziere der Garnison ihre Orgien gefeiert hatten. Das war zwan-zig Jahre her. Das Haus sah unverändert aus. Wenn alles gutging, wohnten noch dieselben Mädchen drin. Wenz-kat läutete. Im Haus näherten sich Schritte. Ein Auge blickte starr durchs Guckloch. Die Tür ging auf. Wenz-kat sah sich besorgt um. Die Gasse war leer. Sie traten ein. Sie gingen an einer alten Frau vorbei, die einen Gruß murmelte, und stiegen eine schmale hölzerne Treppe hinauf. Die Haushälterin erschien und sagte: "Guten Tag, Gustav, läßt du dich auch wieder mal bei uns blicken?" "Flasche Sekt!" rief Wenzkat. "Ist die Lilly noch bei euch?" "Nein, aber die Lotte. Ihr Hintern ist breit genug für dich. Nehmt Platz!" Das Zimmer, in das sie geführt wurden, war sechseckig und in türkischem Biedermeier eingerichtet. Die Lampe gab rotes Licht. Die Wände waren getäfelt und mit ornamentalen Intarsien und nackten Frauen geschmückt, und zu beiden Seiten zogen sich niedrige Polster hin. Die zwei setzten sich. "Anscheinend schlechter Geschäftsgang", sagte Fabian. "Kein Mensch hat Geld", erklärte Wenzkat. "Außerdem hat sich die Branche überlebt." Dann traten drei junge Frauen ins Zimmer und begrüßten den Stammgast. Fabian saß in einer Ecke und betrachtete die Szene. Die Haushälterin brachte einen Kübel, goß Sekt ein, rief "Prost!", und man trank. "Lotte", sagte Wenzkat, "zieht euch aus!" Lotte war eine dicke Person mit lustigen Augen. "Gut", erklärte sie und ging mit den anderen aus dem Zimmer. Eine Minute später kamen sie nackt zurück und setzten sich zwischen die Gäste. Wenzkat sprang auf und schlug mit der flachen Hand auf Lottes Hinterteil. Sie kreischte, küßte ihn und drängte ihn, Beschwörungen murmelnd, aus dem Zimmer. Sie verschwanden. Nun saß Fabian mit der Haushälterin und zwei nackten Frauen am Tisch, trank Sekt und unterhielt sich. "Ist hier immer so wenig los?" fragte er. "Neulich, zum Sängerfest, waren wir gut besucht", sagte die Blondine und spielte nachdenklich mit ihren Brust-warzen. "Da hatte ich an einem Tag achtzehn Männer. Aber sonst ist es zum Sterben langweilig." "Wie im Kloster", meinte die kleine Dunkle verloren und schob sich näher. "Noch eine Flasche?" fragte die Haushälterin. "Ich glaube nicht", sagte er. "Ich habe nur ein paar Mark eingesteckt." "Ach Quatsch!" rief die Blondine. "Gustav hat Geld genug. Außerdem hat er hier Kredit." Die Haushälterin entfernte sich, um die zweite Flasche zu holen. "Kommst du zu mir rauf?" fragte die Blondine. "Ich bemerkte schon ganz richtig, daß ich kein Geld habe", sagte er und war froh, daß er nicht zu lügen brauchte. "Es ist zum Verzweifeln", rief die Blondine. "Bin ich dazu in den Puff gegangen, daß ich wieder zuwachse? Komm, bring das Geld in den nächsten Tagen vorbei!" Er lehnte ab. Wenig später kam Wenzkat wieder aus dem Zimmer und placierte sich neben die Blondine. "Jetzt brauchst du dich auch nicht zu mir zu setzen", sagte sie beleidigt. Nun erschien auch Lotte. Sie hielt mit beiden Händen ihre Sitzfläche. "So ein Schwein!" jammerte sie. "Immer diese Prügelei! Jetzt kann ich wieder drei Tage nicht sitzen." "Da hast du noch zehn Mark", sagte Wenzkat. Sie steckte das Geld in den Halbschuh, und er schlug ihr, während sie sich bückte, wieder hintendrauf. Sie machte böse Augen und wollte auf ihn losgehen. "Setz dich hin!" befahl er. Dann legte er den Arm um die Hüfte der Blondine und fragte: "Na, wollen wir?" Sie betrachtete ihn prüfend und sagte: "Aber geprügelt wird bei mir nicht. Ich bin für die richtige Machart." Er nickte. Sie erhob sich und ging, die Anatomie schwenkend, voran. "Ich sollte auf dich Obacht geben", meinte Fabian. "Ach, Mensch", sagte der andere, "wer Sorgen hat, hat auch Likör." Dann folgte er der Frau. Die Haushälterin brachte die zweite Flasche und schenkte ein. Lotte schimpfte auf Wenzkat und zeigte die Striemen. Die kleine Dunkelhaarige zupfte Fabian an der Jacke und flüsterte: "Komm mal mit in mein Zimmer." Er sah sie an, ihre Augen waren groß und ernst auf ihn gerichtet. "Ich will dir was zeigen", erklärte sie ruhig, und dann gingen sie zusammen hinaus. Das Zimmer der kleinen nackten Person war genauso türkisch und geschmacklos eingerich-tet wie der Salon, aus dem sie kamen. Das Bett war über und über geblümt und mit Spitzen besät. Die Bilder an der Wand waren sehr lächerlich. Ein elektrischer Ofen er-wärmte die Luft. Das Fenster war offen. Drei blühende Blumenstöcke standen davor. Die Frau schloß das Fenster, trat zu Fabian, umarmte ihn und streichelte sein Gesicht. "Was wolltest du mir denn zeigen?" fragte er. Sie zeigte nichts. Sie sagte nichts. Sie sah ihn an. Er klopfte ihr freundlich auf den Rücken. "Ich habe doch aber kein Geld", sagte er. Sie schüttelte den Kopf, knöpfte ihm die Weste auf, legte sich aufs Bett und betrachtete ihn abwartend, ohne sich zu rühren. Er zuckte die Achseln, zog den Anzug aus und legte sich zu ihr. Sie umfing ihn aufatmend. Sie gab sich ganz behutsam hin und ihre Augen hingen ernst an seinem Gesicht. Er wurde verlegen, als habe er eine Jungfer zur Leichtfertigkeit überredet. Sie blieb stumm. Nur etwas später öffnete sich ihr Mund, und sie stöhnte, doch auch das tat sie voller Zurückhaltung. Hinterher brachte sie Wasser, träufelte aus zwei Flaschen Chemikalien in die Schüssel und hielt dienstfertig ein Handtuch bereit. Wenzkat saß zwischen Lotte und der Blondine, nickte Fabian zu und war müde. Sie tranken die Flasche leer und verabschiedeten sich. Fabian drückte der kleinen Dunkel-haarigen zwei Zweimarkstücke in die Hand. "Ich habe nicht mehr bei mir", sagte er leise. Sie sah ihn ernst an. Dann gingen alle miteinander zur Treppe. Wenzkat wurde wieder laut, er war beschwipst. Plötzlich spürte Fabian eine Hand in seiner Tasche. Als er auf der Straße stand, griff er in die Tasche und fand seine zwei Zweimarkstücke wieder. "Hältst du das für möglich?" fragte er den anderen. "Ich habe der Kleinen ein paar Mark gegeben, und nun hat sie mir das Geld wieder zugesteckt." Wenzkat gähnte laut und sagte: "Wo die Liebe hinfällt. Sie hat es wahrscheinlich nötig gehabt. Übrigens, Jakob, wenn du zur Klassenzusammenkunft kommen solltest, daß du nichts erzählst! Und vergiß nicht, Freitag abend im Ratskeller." Dann ging er. Fabian machte noch einen Spaziergang. Die Straßen wa-ren kaum besucht. Die Straßenbahnen fuhren leer in die Depots. Auf der Brücke blieb er stehen und sah in den Fluß hinunter. Die Bogenlampen spiegelten sich zitternd und waren wie eine Serie kleiner ms Wasser gefallener Monde. Der Fluß war breit. Es mußte im Gebirge gereg-net haben. Auf den Hügeln, welche die Stadt umgaben, brannten viele zwinkernde Lichter. Während er hier stand, lag Labude aufgebahrt in einer Grunewaldvilla, und Cornelia lag bei Herrn Makart im Himmelbett. Sehr weit weg lagen sie beide. Fabian stand unter einem anderen Himmel. Hier hatte Deutschland kein Fieber. Hier hatte es Untertemperatur. VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL Herr Knorr bat Hühneraugen Die "Tagespost" sucht tüchtige Leute Lernt schwimmen! Tags darauf war er beim Bäcker und rief von dort aus im Büro von Wenzkat an. Der hatte wenig Zeit. Er mußte aufs Gericht. Fabian fragte, ob er keinen wüßte, der einen Direktionsposten zu vergeben hätte. "Geh doch mal zu Holzapfel", meinte Wenzkat. "Der ist in der "Tagespost"." "Was treibt er denn dort?" "Erstens ist er Sportredakteur, zweitens schreibt er Mu-sikkritiken. Vielleicht weiß er etwas. Und erinnere ihn an Freitag abend. Auf Wiedersehen." Fabian ging nach Hause und erzählte, er wolle mal in die Altstadt zu Holzapfel, der sei bei der "Tagespost" Redakteur. Vielleicht könne ihm der behilflich sein. Die Mutter stand im Laden und wartete auf Kunden. "Das wäre sehr schön, mein Junge", sagte sie. "Geh mit Gott!" Auf der Straßenbahn karambolierte er, infolge einer Kurve, mit einem baumlangen Herrn. Sie sahen einan-der mißgelaunt an. "Wir kennen uns doch", meinte der Herr und streckte die Hand hin. Es war ein gewisser Knorr, ehemaliger Oberleutnant der Reserve. Ihm hatte die Ausbildung jener Einjährigen-Kompanie obgelegen, der Fabian angehört hatte. Er hatte die Siebzehnjährigen geschunden und schinden lassen, als bezöge er von Tod und Teufel Tantiemen. "Stecken Sie rasch Ihre Hand wieder weg", sagte Fabian, "oder ich spuck Ihnen drauf." Herr Knorr, Spediteur von Beruf, befolgte den ernstge-meinten Rat und lachte betreten. Denn sie waren nicht allein auf der Plattform. "Was hab ich Ihnen denn getan?" fragte er, obwohl er das wußte. "Wenn Sie nicht so groß wären, würde ich Ihnen jetzt eine herunterhauen", sagte Fabian. "Da ich aber nicht bis zu Ihrer geschätzten Wange hinaufreiche, muß ich mich anders behelfen." Und damit trat er Herrn Knorr derartig auf die Hühneraugen, daß der die Lippen zusammenpreß-te und ganz blaß wurde. Die Umstehenden lachten, Fabian stieg ab und lief den Rest des Wegs. Holzapfel, der Klassenkamerad von einst, wirkte außerordentlich erwachsen, trank Flaschenbier und versah ein paar Bürstenabzüge mit Hieroglyphen. "Setz dich, Ja-kob", sagte er. "Ich muß die Vorschau fürs Rennen korrigieren und einen Sammelbericht über Klavierkon-zerte. Lange nicht gesehen. Wo hast du gesteckt? Berlin, wie? Ich führe gern mal wieder hinüber. Man kommt nicht dazu. Dauernd viel zu tun und dauernd Bier. Schwielen im Gehirn, Schwielen am Gesäß, die Kinder werden immer älter, die Freundinnen werden immer jünger, wenn das mal keine Lungenentzündung gibt." Während er so vor sich hinfaselte, korrigierte und trank er ruhig weiter. "Koppel hat sich scheiden lassen, er kam dahinter, daß ihn seine Frau mit zwei anderen betrog. Er war ja immer schon ein guter Mechaniker. Bretschneider hat die Apotheke verkauft und sich eine Klitsche ange-schafft. Er züchtet rote Grütze und Salzkartoffeln. Jedem für sein Geld, was ihm schmeckt. So, die Klavierkonzerte können warten." Er klingelte nach dem Boten und schick-te die Fahne mit der Rennvorschau in die Setzerei. Dann erzählte Fabian, daß er eine Stellung suche, zuletzt habe er Propaganda gemacht. Aber ihm sei schon alles gleich, Hauptsache, er finde hier in der Stadt Arbeit. "Von Musik verstehst du nichts. Vom Boxen auch nicht", stellte Holzapfel fest. "Vielleicht kann man dich im Feuilleton brauchen, für die zweite Theaterkritik oder etwas Ähnliches." Er hängte sich ans Telefon und sprach mit dem Direktor. "Geh mal hin zu dem Kerl", schlug er vor. "Erzähl ihm was Hübsches. Er ist eingebildet, aber gelehrig." Fabian bedankte sich, erinnerte den anderen an die Klas-senzusammenkunft und ließ sich bei Direktor Hanke melden. "Doktor Holzapfel ist ein Klassenkamerad von Ihnen?" fragte der Direktor. "Sie haben Literaturge-schichte studiert? Augenblicklich ist keine Stellung frei. Doch das besagt nichts. Sollten Sie tüchtig sein, tüchtige Leute kann ich immer brauchen. Arbeiten Sie vierzehn Tage auf eigenes Risiko. Ich mache Sie mit dem Feuille-tonchef bekannt. Wenn er Ihre Beiträge ablehnt, haben Sie Pech gehabt. Sonst sind Sie mir als externer Mitarbeiter willkommen." Er wollte auf die Klingel drücken. "Einen Moment, Herr Direktor", sagte Fabian. "Ich danke Ihnen für die Chance. Noch lieber würde ich als Propagandist arbeiten. Man könnte beispielsweise eine Beratungsstelle für Inserenten einrichten, der Kundschaft zugkräftige Texte vorschlagen und eventuell ganze Werbefeldzüge organisieren. Man könnte die Auflageziffer des Blattes durch geschickte und systematische Reklame vorteilhaft beeinflussen. Man könnte, in Kompanie mit Großinserenten, lohnende Preisausschreiben durchfüh-ren. Man könnte für die Abonnenten Boxabende und ähnliche Volksfeste veranstalten." Der Direktor hörte aufmerksam zu. Dann sagte er: "Unse-re Großaktionäre sind nicht für die Berliner Methoden." "Aber die Herren sind dafür, daß die Auflageziffer wächst!" "Nicht mit Hilfe von Fisimatenten", erklärte der Direk-tor. "Immerhin, ich werde mit unserem Insertionschef sprechen. In bescheidener Dosierung sollte man vielleicht doch Maßnahmen ergreifen, denen wir uns auf die Dauer nicht völlig werden entziehen können. Kommen Sie mor-gen um elf wieder. Ich will sehen, was ich tun kann. Bringen Sie ein paar Arbeiten mit. Und Zeugnisse, falls Sie solches Gemüse auf Lager haben." Fabian stand auf und bedankte sich für das erwiesene Interesse. "Wenn wir Sie engagieren", sagte der Direktor, "erwarten Sie keine phantastischen Summen. Zweihundert Mark sind heute sehr viel Geld." "Für die Angestellten?" fragte Fabian neugierig. "Nein", sagte der Direktor, "für die Aktionäre." Fabian saß im Café Limberg, trank einen Kognak und machte sich Gedanken. Es war hirnverbrannt, was er plante. Er wollte, falls man die Gnade hatte, ihn zu nehmen, einer rechtsstehenden Zeitung behilflich sein, sich auszubreiten. Wollte er sich etwa einreden, ihn reize die Propaganda schlechthin, ganz gleich, welchen Zwecken sie diente? Wollte er sich so betrügen? Wollte er sein Gewissen, wegen zweier Hundertmarkscheine im Monat, Tag für Tag chloroformieren? Gehörte er zu Münzer und Konsorten? Die Mutter würde sich freuen. Sie wünschte, daß er ein nützliches Glied der Gesellschaft würde. Ein nützliches Glied dieser Gesellschaft, dieser G.m.b.H.! Es ging nicht. So marode war er noch nicht. Geldverdienen war für ihn noch immer nicht die Hauptsache. Er beschloß, den Eltern zu verschweigen, daß er bei der "Tagespost" unterkriechen konnte. Er wollte nicht unter-kriechen. Zum Donnerwetter, er kroch nicht zu Kreuze! Er beschloß, dem Direktor abzusagen, und kaum hatte er sich dazu entschieden, wurde ihm wohler. Er konnte die restlichen tausend Mark von Labude nehmen, ins Erzge-birge hinauffahren und in irgendeinem stillen Gehöft bleiben. Das Geld reichte ein halbes Jahr oder länger. Er konnte wandern, soweit sein krankes Herz nichts dagegen hatte. Er kannte den Gebirgskamm, die Gipfel und die Spielzeugstädte von Schülerfahrten her. Er kannte die Wälder, die Bergwiesen, die Seen und die armen geduck-ten Dörfer. Andere Leute fuhren in die Südsee, das Erzgebirge war billiger. Vielleicht kam er dort oben zu sich. Vielleicht wurde er dort oben so etwas Ähnliches wie ein Mann. Vielleicht fand er auf den einsamen Waldpfaden ein Ziel, das den Einsatz lohnte. Vielleicht reichten sogar fünfhundert Mark. Die andere Hälfte konnte er der Mutter lassen. Also los, an den Busen der Natur, marschmarsch! Bis Fabian wied