auml;chsten Krankenhaus
zu bringen.
Das Auto fuhr los.
"Tut's sehr weh?" fragte Labude.
"Es geht", antworteten die beiden Verwundeten gleichzeitig und
musterten sich finster.
"Volksverräter!" sagte der Nationalsozialist. Er war größer als
der Arbeiter, etwas besser gekleidet und sah etwa wie ein Handlungsgehilfe
aus.
"Arbeiterverräter!" sagte der Kommunist.
"Du Untermensch!" rief der eine.
"Du Affe!" rief der andere. Der Kommis griff in die Tasche.
Labude faßte sein Handgelenk. "Geben Sie den Revolver her!"
befahl er. Der Mann sträubte sich. Fabian holte die Waffe heraus und steckte
sie ein.
"Meine Herren", sagte er. "Daß es mit Deutschland so nicht
weitergehen kann, darüber sind wir uns wohl alle einig. Und daß man
jetzt versucht, mit Hilfe der kalten Diktatur unhaltbare Zustände zu
verewigen, ist eine Sünde, die bald genug ihre Strafe finden wird. Trotzdem
hat es keinen Sinn, wenn Sie einander Reservelöcher in die entlegensten
Körperteile schießen. Und wenn Sie besser getroffen hätten und nun ins
Leichenschauhaus führen, statt in die Klinik, wäre auch nichts Besonderes
erreicht. Ihre Partei", er meinte den Faschisten, "weiß nur, wogegen
sie kämpft, und auch das weiß sie nicht genau. Und Ihre Partei", er
wandte sich an den Arbeiter, "Ihre Partei..."
"Wir kämpfen gegen die Ausbeuter des Proletariats", erklärte dieser,
"und Sie sind ein Bourgeois." "Freilich", antwortete Fabian, "ich bin ein
Kleinbürger, das ist heute ein großes Schimpfwort."
Der Handlungsgehilfe hatte Schmerzen, saß, zur Seite geneigt, auf
der heilen Sitzfläche und hatte Mühe, mit seinem Kopf nicht an den des
Gegners zu stoßen.
"Das Proletariat ist ein Interessenverband", sagte Fabian. "Es ist der
größte Interessenverband. Daß ihr euer Recht wollt, ist eure
Pflicht. Und ich bin euer Freund, denn wir haben denselben Feind, weil ich
die Gerechtigkeit liebe. Ich bin euer Freund, obwohl ihr darauf pfeift.
Aber, mein Herr, auch wenn Sie an die Macht kommen, werden die Ideale der
Menschheit im verborgenen sitzen und weiterweinen. Man ist noch nicht gut
und klug, bloß weil man arm ist."
"Unsere Führer..." begann der Mann.
"Davon wollen wir lieber nicht reden", unterbrach ihn Labude.
Das Auto hielt. Fabian klingelte am Portal des Krankenhauses. Der
Portier öffnete. Krankenwärter kamen und trugen die Verletzten aus dem
Wagen. Der wachhabende Arzt gab den Freunden die Hand.
"Sie bringen mir zwei Politiker?" fragte er lächelnd. "Heute nacht sind
insgesamt neun Leute eingeliefert worden, einer mit einem schweren
Bauchschuß. Lauter Arbeiter und Angestellte. Ist Ihnen auch schon
aufgefallen, daß es sich meist um Bewohner von Vororten handelt, um
Leute, die einander kennen? Diese politischen Schießereien gleichen
den Tanzbodenschlägereien zum Verwechseln. Es handelt sich hier wie dort um
Auswüchse des deutschen Vereinslebens. Im übrigen hat man den Eindruck, sie
wollen die Arbeitslosenziffer senken, indem sie einander totschießen.
Merkwürdige Art von Selbsthilfe."
"Man kann es verstehen, daß das Volk erregt ist", meinte Fabian.
"Ja, natürlich." Der Arzt nickte. "Der Kontinent hat den Hungertyphus.
Der Patient beginnt bereits zu phantasieren und um sich zu schlagen. Leben
Sie wohl!" Das Portal schloß sich.
Labude gab dem Chauffeur Geld und schickte den Wagen weg. Sie gingen
schweigend nebeneinander. Plötzlich blieb Labude stehen und sagte: "Ich kann
jetzt noch nicht nach Hause gehen. Komm, wir fahren ms Kabarett der
Anonymen."
"Was ist das?"
"Ich kenne es auch noch nicht. Ein findiger Kerl hat Halbverrückte
aufgelesen und läßt sie singen und tanzen. Er zahlt ihnen ein paar
Mark, und sie lassen sich dafür vom Publikum beschimpfen und auslachen.
Wahrscheinlich merken sie es gar nicht. Das Lokal soll sehr besucht sein.
Das ist ja auch verständlich. Es gehen sicher Leute hin, die sich darüber
freuen, daß es Menschen gibt, die noch verrückter sind als sie
selber."
Fabian war einverstanden. Er blickte noch einmal zum Krankenhaus
zurück, über dem der Große Bär funkelte.
"Wir leben in einer großen Zeit", sagte er, "und sie wird jeden
Tag größer."
SIEBENTES KAPITEL
Verrückte auf dem Podium
Die Todesfahrt von Paul Müller
Ein Fabrikant in Badewannen
Vor dem Kabarett parkten viele Privatautos. Ein rotbärtiger Mann, der
einen Pleureusenhut trug und eine riesige Hellebarde hielt, lehnte an der
Tür des Lokals und rief: "Immer herein in die Gummizelle!" Labude und Fabian
traten ein, gaben die Garderobe ab und fanden nach langem Suchen in dem
überfüllten, verqualmten Raum an einem Ecktisch Platz.
Auf der wackligen Bühne machte ein zwecklos vor sich hinlächelndes
Mädchen Sprünge. Es handelte sich offenbar um eine Tänzerin. Sie trug ein
giftgrünes selbstge-schneidertes Kleid, hielt eine Ranke künstlicher Blumen
und warf sich und die Ranke in regelmäßigen Zeitabständen in die Luft.
Links von der Bühne saß ein zahnloser Greis an einem verstimmten
Klavier und spielte die Ungarische Rhapsodie.
Ob der Tanz und das Klavierspiel miteinander in Beziehung standen, war
nicht ersichtlich. Das Publikum, ausnahmslos elegant gekleidet, trank Wein,
unterhielt sich laut und lachte.
"Fräulein, Sie werden dringend am Telefon verlangt!" schrie ein
glatzköpfiger Herr, der mindestens Generaldirektor war. Die anderen lachten
noch mehr als vorher. Die Tänzerin ließ sich nicht aus der Ruhe
bringen und fuhr fort zu lächeln und zu springen. Da hörte das Klavierspiel
auf. Die Rhapsodie war zu Ende. Das Mädchen auf der Bühne warf dem
Klavierspieler einen bösen Blick zu und hüpfte weiter, der Tanz war noch
nicht aus. "Mutter, dein Kind ruft!" kreischte eine Dame, die ein Monokel
trug.
"Ihr Kind auch", bemerkte jemand von einem entfernten Tisch.
Die Dame drehte sich um. "Ich habe keine Kinder." "Da können Sie aber
lachen!" rief man aus dem Hintergrund.
"Ruhe!" brüllte jemand anders. Der Wortwechsel hörte auf.
Das Mädchen tanzte noch immer, obwohl ihr längst die Beine wehtun
mußten. Schließlich fand sie selber, es sei genug, landete in
einem mißlungenen Knicks, lächelte noch alberner als vorher und
breitete die Arme aus. Ein dicker Herr im Smoking stand auf. "Gut, sehr gut!
Sie können morgen zum Teppichklopfen kommen!"
Das Publikum lärmte und klatschte. Das Mädchen knickste wieder und
wieder.
Da kam ein Mann aus der Kulisse, zog die Tänzerin, die sich heftig
sträubte, von der Bühne und trat selber an die Rampe.
"Bravo, Caligula!" rief eine Dame aus der ersten Tischreihe.
Caligula, ein rundlicher junger Jude mit Hornbrille, wandte sich an den
Herrn, der neben der Ruferin saß. "Ist das Ihre Frau?" fragte er.
Der Herr nickte.
"Dann sagen Sie Ihrer Frau, sie soll die Schnauze halten!" sagte
Caligula. Man applaudierte. Der Mann m der ersten Tischreihe wurde rot.
Seine Frau fühlte sich geschmeichelt. "Ruhe, ihr Armleuchter!" rief Caligula
und hob die Hände. Es wurde ruhig. "War die Tanzdarbietung nicht geradezu
ein Erlebnis?"
"Jawohl", brüllten alle.
"Aber es kommt noch besser. Jetzt schicke ich einen heraus, der Paul
Müller heißt. Er ist aus Tolkewitz. Das liegt in Sachsen. Paul Müller
spricht sächsisch und gibt vor, Rezitator zu sein. Er wird Ihnen eine
Ballade vortragen. Machen Sie sich auf das Äußerste gefaßt. Paul
Müller aus Tolkewitz ist, wenn nicht alles täuscht, verrückt. Ich habe keine
Kosten gescheut, diese wertvolle Kraft für mein Kabarett zu gewinnen. Denn
ich kann es nicht dulden, daß nur im Zuschauerraum Verrückte sind."
"Das geht entschieden zu weit!" rief ein Besucher, dessen Gesicht mit
Schmißnarben verziert war. Er war aufgesprungen und zog sich empört
das Jackett straff. "Hin-setzen!" sagte Caligula und verzog den Mund.
"Wissen Sie, was Sie sind? Ein Idiot!"
Der Akademiker rang nach Luft.
"Im übrigen", fuhr der Kabarettinhaber fort, "im übrigen meine ich
Idiot nicht in beleidigendem Sinn, sondern als Charakteristikum."
Die Leute lachten und klatschten. Der Herr mit den Schmissen und der
Empörung wurde von seinen Bekannten auf den Stuhl gezogen und beschwichtigt.
Caligula nahm eine Klingel in die Hand, schellte wie ein Nachtwächter und
rief: "Paul Müller, erscheine!" Dann ver-schwand er.
Aus dem Hintergrund nahte ein langaufgeschossener, ungewöhnlich blasser
Mensch in abgerissener Kleidung. "Tag, Müller!" brüllte man.
"Er ist zu schnell gewachsen", meinte jemand.
Paul Müller verbeugte sich, zeigte herausfordernden Ernst im Gesicht,
fuhr sich durch die Haare und preßte dann die Hände vor die Augen. Er
sammelte sich. Plötzlich zog er die Hände vom Gesicht fort, streckte sie
weit von sich, spreizte die Finger, riß die Augen auf und sagte: "Die
Todesfahrt von Paul Müller." Dann trat er noch einen Schritt vor.
"Fall nicht runter!" rief die Dame, der von Caligula eigentlich
befohlen worden war, die Schnauze zu halten. Paul Müller machte aus Trotz
noch ein Schrittchen, blickte verächtlich auf das Publikum da unten und
begann wieder: "Die Todesfahrt von Paul Müller."
"Das war der Graf von Hohenstein.
Der sperrte seine Tochter ein.
Sie liebte einen Offizier.
Der Vater sprach: "Du bleibst bei mir"!"
In diesem Augenblick warf jemand aus dem Publikum ein Stück
Würfelzucker auf die Bühne. Paul Müller bückte sich, steckte den Zucker ein
und fuhr mit unheilschwangerer Stimme fort:
"Da half nur Flucht, und die Komteß
entfloh in ihrem zehn PS.
Sie steuerte durch Nacht und Not.
Doch auf dem Kühler saß der Tod!"
Wieder warf man Zucker auf die Bühne. Vermutlich saßen Stammgäste
in dem Raum, die den Gewohnheiten der Künstler Rechnung trugen. Andere Gäste
folgten dem Beispiel, und allmählich kam ein Würfelzuckerbombardement
zustande, dem Müller dadurch zu begegnen wußte, daß er sich
dauernd bückte.
Es entwickelte sich ein Balladenvortrag mit Kniebeugen. Auch mit
aufgerissenem Mund versuchte Müller, den ihm zufliegenden Zucker
aufzufangen. Sein Gesicht wurde immer drohender. Seine Stimme klang immer
schwärzer. Man entnahm der Rezitation, daß in jener schrecklichen
Nacht nicht nur die Komteß Hohenstein Auto fuhr, um zu ihrem Offizier
zu gelangen, sondern daß auch der Geliebte in seinem Wagen unterwegs
war und sich dem Schloß näherte, wo er das Fräulein vermutete, während
sie ihm doch entgegeneilte. Da die zwei Liebenden die gleiche
Landstraße benutzten, da es sich ferner um eine ausgesprochen
regnerische, neblige Nacht handelte, und da das Gedicht "Todesfahrt"
hieß, war mit großer Wahrscheinlichkeit zu befürchten, daß
die beiden Autos zusammen-stoßen würden. Paul Müller beseitigte auch
den letzten Zweifel darüber.
"Mach den Mund zu, sonst fallen dir die Sägespäne aus dem Schädel!"
brüllte eine Stimme. Aber das Autounglück war nicht mehr aufzuhalten.
"Das Auto jenes Offiziers
kam links gefahren, rechts kam ihrs.
Der Nebel war entsetzlich dick.
Und so vollzog sich das Geschick.
Von links ein Schrei,
von rechts ein Schrei - "
"Das macht nach Adam Riese zwei!" schrie jemand. Die Leute johlten und
klatschten. Sie hatten von Paul Müller genug und waren auf den Ausgang der
Tragödie nicht länger neugierig.
Er deklamierte weiter. Aber man sah nur, daß er den Mund bewegte.
Zu hören war nichts, die Todesfahrt ging im Lärm der Überlebenden unter. Da
packte den dürren Balladendichter die blasse Wut. Er sprang vom Podium und
rüttelte die Dame derartig an den Schultern, daß ihr die Zigarette aus
dem Mund und in den blauseidenen Schoß fiel. Sie sprang schreiend auf.
Ihr Begleiter erhob sich ebenfalls und schimpfte. Es klang, als belle ein
Hund. Paul Müller gab dem Kavalier einen Stoß, daß er in den
Stuhl zurücktaumelte.
Da tauchte Caligula auf. Er war wütend und glich einem knirschenden
Tierbändiger, zog den Mann aus Tolkewitz an der Krawatte und führte ihn ins
Künstler-zimmer.
"Pfui Teufel", sagte Labude, "unten Sadisten und oben Verrückte."
"Dieser Sport ist international", meinte Fabian, "in Paris gibt es
dieselbe Sache. Dort schreien die Zuschauer: "Tue-le!" und dann schiebt sich
eine riesengroße hölzerne Hand aus der Kulisse und schaufelt den
Ärmsten aus dem Gesichtskreis. Er wird weggefegt!"
"Caligula nennt sich der Bursche. Er kennt sich aus. Sogar in der
römischen Geschichte." Labude stand auf und ging. Er hatte genug. Auch
Fabian erhob sich. Da schlug ihn jemand derb auf die Schulter. Er drehte
sich um. Der Mann strahlte über das ganze Gesicht und rief vergnügt: "Alter
Junge, wie geht's dir denn?"
"Danke, gut."
"Nein, wie ich mich freue, dich altes Haus mal wiederzusehen!" Der
Akademiker gab Fabian einen Freuden-stoß vor den Brustkasten, genau
auf einen der Hemdknöpfe. "Kommen Sie", meinte Fabian, "prügeln wir uns
draußen weiter!" Dann drängte er sich, zwischen Stühlen hindurch, in
den Vorraum. "Mein Lieber", sagte er zu Labude, der sich den Mantel anzog,
"wir wol-len schnell machen. Eben hat mich einer ununterbrochen geduzt." Sie
nahmen die Hüte. Aber es war schon zu spät.
Der Mann mit den Schmissen schob eine sommersprossige Frau vor sich
her, als könne sie nicht allein laufen, und sagte zu ihr: "Siehst du, Meta,
der Herr war auf dem Pennal unser Primus." Und zu Fabian sagte er: "Das ist
meine Frau, alter Knabe. Meine bessere Hälfte gewissermaßen. Wir leben
in Remscheid. Ich habe den Assessor an den Nagel gehängt und bin im Geschäft
meines Schwiegervaters. Wir machen Badewannen. Wenn du mal eine brauchen
solltest, kannst du sie zum Engrospreis haben! Haha! Ja, es geht mir gut.
Danke, glückliche Ehe, Wohnung in einem Zweifamilienhaus, großer
Garten dahinter, nicht ganz ohne Bargeld, Kind haben wir auch, aber noch
nicht lange."
"Es ist erst so groß", entschuldigte sich Meta und zeigte mit den
Händen, wie klein das Kind war. "Es wird schon noch wachsen", tröstete
Labude. Die Frau blickte ihn dankbar an und hängte sich bei ihrem Mann ein.
"Also, alter Schwede", fing der Akademiker wieder an, "nun erzähle mal, was
du die ganze Zeit über gemacht hast."
"Nichts Besonderes", bemerkte Fabian. "Augenblicklich bastle ich an
einer Weltraumrakete. Ich will mir mal den Mond ansehen."
"Ausgezeichnet", rief der Mann, der in die Badewannen eingeheiratet
hatte. "Deutschland allen voran! Und wie geht's deinem Bruder?"
"Sie überschütten mich mit frohen Neuigkeiten, mein Herr", sagte
Fabian. "Ein Brüderchen habe ich mir schon lange gewünscht. Nur eine
bescheidene Zwischenfrage: Wo sind Sie eigentlich aufs Gymnasium gegangen?"
"In Marburg natürlich."
Fabian hob bedauernd die Schultern. "Es soll eine bezaubernde Stadt
sein, aber ich kenne Marburg leider gar nicht."
"Dann entschuldigen Sie vielmals", knarrte der andere. "Kleine
Verwechslung, täuschende Ähnlichkeit, nichts für ungut." Er knallte die
Absätze zusammen, befahl: "Komm, Meta!" und entfernte sich. Meta blickte
Fabian verlegen an, nickte Labude zu und folgte dem Gemahl. "So ein
dämlicher Affe!" Fabian war entrüstet. "Spricht wildfremde Leute an und tut
familiär. Ich habe diesen Caligula im Verdacht, daß die Anpöbelei zu
seiner Kabarettregie gehört."
"Das glaube ich nicht", meinte Labude. "Die Badewannen waren sicher
echt, und das entsetzlich kleine Kind auch." Sie gingen heimwärts. Labude
schaute trübselig aufs Pflaster. "Es ist eine Schande", sagte er nach einer
Weile. "Dieser gewesene Assessor hat eine Wohnung, einen Garten, einen
Beruf, eine Frau mit Sommersprossen und was noch alles. Und unsereins
vegetiert herum wie ein Landstreicher ohne Land, man hat noch keinen festen
Beruf, man hat kein festes Einkommen, man hat kein festes Ziel und nicht mal
eine feste Freundin."
"Du hast doch Leda."
"Und was mich besonders aufbringt", fuhr Labude fort, "so ein Kerl hat
ein eigenes, selbstgemachtes Kind."
"Sei nicht neidisch", sagte Fabian, "dieser juristisch vorgebildete
Badewannenfabrikant ist ein Ausnahmefall. Wer von den Leuten, die heute
dreißig Jahre alt sind, kann heiraten? Der eine ist arbeitslos, der
andere verliert morgen seine Stellung. Der dritte hat noch nie eine gehabt.
Unser Staat ist darauf, daß Generationen nachwachsen, momentan nicht
eingerichtet. Wem es dreckig geht, der bleibt am besten allein, statt Frau
und Kind an seinem Leben proportional zu beteiligen. Und wer trotzdem andere
mit hineinzieht, der handelt mindestens fahrlässig. Ich weiß nicht,
von wem der Satz stammt, daß geteiltes Leid halbes Leid sei, aber wenn
der Quatschkopf noch leben sollte, dann wünsche ich ihm zweihundert Mark
monatlich und eine achtköpfige Familie. Da soll er sein Leid so lange durch
acht dividieren, bis er schwarz wird." Fabian sah den Freund von der Seite
an. "Übrigens, wozu bedrückt dich das? Dein Vater gibt dir doch Geld. Und
wenn du die Venia legendi hast, wirst du noch ein paar Groschen
dazuverdienen. Dann heiratest du Leda, und deinen Vaterfreuden steht nichts
mehr im Wege."
"Es gibt ja auch andere Schwierigkeiten außer den ökonomischen",
sagte Labude, blieb stehen und winkte einem Taxi. "Sei mir nicht böse, wenn
ich jetzt allein sein will. Kannst du mich morgen bei meinen Eltern abholen?
Ich muß dir verschiedenes erzählen." Er drückte dem Freund etwas in
die Hand und stieg in den wartenden Wagen.
"Handelt es sich um Leda?" fragte Fabian durchs offene Fenster. Labude
nickte und senkte den Kopf. Das Auto fuhr an. Der andere blickte dem Wagen
nach. "Ich komme!" rief er. Doch das Auto war schon weit weg, und das rote
Schlußlicht konnte ein Glühwürmchen sein. Dann besann er sich und
stellte fest, was er in der Hand hielt. Es war ein Fünfzigmarkschein.
ACHTES KAPITEL
Studenten treiben Politik
Labude sen. liebt das Leben
Die Ohrfeige an der Außenalster
Labudes Eltern bewohnten im Grunewald einen großen griechischen
Tempel. Eigentlich war es kein Tempel, sondern eine Villa. Und eigentlich
bewohnten sie die Villa gar nicht. Die Mutter war viel auf Reisen, meist im
Süden, in einem Landhaus bei Lugano. Erstens gefiel es ihr am Lago di Lugano
besser als am Grunewaldsee. Und zweitens fand Labudes Vater, die zarte
Gesundheit seiner Frau erfordere südlichen Aufenthalt. Er liebte seine Frau
sehr, besonders in ihrer Abwesenheit. Seine Zuneigung wuchs im Quadrat der
Entfernung, die zwischen ihnen lag. Er war ein bekannter Verteidiger. Da
seine Klienten viel Geld und viele Prozesse hatten, hatte auch er viele
Prozesse und viel Geld. Die Aufregungen des Berufs, den er liebte, genügten
ihm nicht. Fast jede Nacht saß er in Spielklubs. Die Ruhe, die sein
Haus verbreitete, war ihm höchst zuwider. Und die vorwurfsvollen Augen
seiner Frau brachten ihn zur Verzweiflung. Da beide befürchteten, den
anderen anzutreffen, mieden beide die Villa, sooft das möglich war. Und
Stephan, der Sohn, mußte, wenn er seinen Eltern begegnen wollte, auf
die Gesellschaften gehen, die sie im Winter gaben. Da ihn diese
Veranstaltungen von Jahr zu Jahr mehr abstießen, bis er sie endlich
nicht mehr besuchte, traf er seine Eltern nur noch aus Versehen.
Das meiste, was er über den Vater wußte, hatte er einmal von
einer jungen Schauspielerin erfahren. Das war auf einem Maskenball gewesen,
und sie hatte ihm sehr eingehend den Mann geschildert, der sie damals
finanzierte. Leichtfertige Frauen versuchen ja gelegentlich, Liebhaber zu
erwerben, indem sie die intimen Sitten und Gebräuche der ehemaligen Besitzer
ausplauderten. Im Laufe des Gesprächs hatte es sich herausgestellt,
daß von Justizrat Labude die Rede gewesen war, und Stephan hatte das
Fest fluchtartig verlassen. Fabian kam nicht gern m die Grunewaldvilla. Er
empfand den Aufwand, den solche Häuser mit sich treiben lassen, als albern.
Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß man mitten in
derartigem Luxus das Gefühl, man sei nur auf Besuch, jemals loswerden könne.
Und er fand es, von allen anderen Gründen abgesehen, schon deshalb
vollkommen in Ordnung, daß sich Labudes Eltern in dem Wohnmuseum
entfremdet hatten.
"Schrecklich", sagte er zu dem Freund, der am Schreibtisch saß,
"jedesmal, wenn ich hierher komme, erwarte ich, daß mir euer Diener
Filzpantoffeln überzieht und mit einer Schloßführung beginnt. Falls du
mir erzählen solltest, daß der Große Kurfürst auf diesem Stuhl
hier in die Schlacht von Fehrbellin geritten ist, könnte ich mich bereit
erklären, es zu glauben. Im übrigen danke ich dir für das Geld."
Labude winkte ab. "Du weißt, daß ich mehr davon habe, als
notwendig ist. Lassen wir das. Ich bat dich hierher, weil ich dir erzählen
will, was mir in Hamburg passiert ist."
Fabian stand auf und setzte sich aufs Sofa. Jetzt befand er sich hinter
Labudes Rücken, und der Freund brauchte ihn während des Sprechens nicht
anzusehen. Sie blickten beide zum Fenster hinaus, auf grüne Bäume und auf
rote Villendächer. Das Fenster war offen, und manchmal kam ein Vogel,
spazierte auf dem Fensterbrett hin und her, musterte mit schiefgehaltenem
Kopf das Zimmer und flog wieder in den Garten zurück. Außerdem hörte
man, wie jemand mit einem Rechen die Kieswege harkte.
Labude sah starr in die Zweige des nächsten Baumes. "Rassow schrieb
mir, er spräche im Hamburger Auditorium Maximum, vor Studenten aller
Richtungen, über das Thema "Tradition und Sozialismus". Und er schlug mir
vor, als Korreferent oder im Rahmen der Diskussion von meinen politischen
Plänen zu erzählen. Ich fuhr hinüber. Der Vortrag begann. Rassow berichtete
den Studenten von seiner Rußlandreise und von seinen Erfahrungen und
Gesprächen mit russischen Künstlern und Wissenschaftlern. Er wurde von den
Vertretern der sozialistischen Studentenschaft wiederholt unterbrochen.
Anschließend sprach ein Kommunist und wurde seinerseits von den
Bürgerlichen gestört. Dann kam ich an die Reihe. Ich skizzierte die
kapitalistische Situation Europas und stellte die Forderung auf, daß
die bürgerliche Jugend sich radikalisieren und daß sie den
kontinentalen Ruin, der von allen Seiten, passiv oder aktiv, vorbereitet
wird, aufhalten müsse. Diese Jugend, sagte ich, sei im Begriff, in
absehbarer Zeit die Führerschaft in Politik, Industrie, Grundbesitz und
Handel zu übernehmen, die Väter hätten abgewirtschaftet, und es sei unsere
Aufgabe, den Kontinent zu reformieren: durch freiwillige Kürzung des
privaten Profits, durch Zurückschraubung des Kapitalismus und der Technik
auf ihre vernünftigen Maße, durch Steigerung der sozialen Leistungen,
durch kulturelle Vertiefung der Erziehung und des Unterrichts. Ich sagte,
diese neue Front, diese Querverbindung der Klassen sei möglich, da die
Jugend wenigstens die Elite, den hemmungslosen Egoismus verabscheue und
außerdem klug genug sei, eine Zurückführung in organische Zustände
einem unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems vorzuziehen. Wenn es schon
ohne Klassenherrschaft nicht abgehe, sagte ich, dann solle man sich für das
Regime unserer Altersklasse entscheiden. Bei den Vertretern der extremen
Gruppen erntete mein Vortrag die übliche Heiterkeit. Aber als Rassow den
Antrag zur Bildung einer radikal-bürgerlichen Initiative einbrachte, fand
das doch Beifall. Die Gruppe kam zustande. Wir entwarfen einen Aufruf, der
an alle europäischen Universitäten verschickt werden wird. Rassow, ich und
ein paar andere wollen die deutschen Hochschulen besuchen, Vorträge halten
und analoge Gruppen bilden. Wir hoffen, mit den sozialistischen Studenten
eine Art Kartellverbindung einzugehen. Wenn wir an allen Universitäten
Gruppen gebildet haben, werden von diesen auch andere intellektuelle
Körperschaften bearbeitet. Die Sache kommt in Gang. Ich habe dir gestern
nichts davon erzählt, weil ich ja deine Skepsis zur Genüge kenne."
"Ich freue mich", sagte Fabian, "ich freue mich sehr, daß du nun
an die Verwirklichung deines Planes herangehen kannst. Hast du dich schon
mit der Gruppe der unabhängigen Demokraten in Verbindung gesetzt? In
Kopenhagen ist ein "Club Europa" gebildet worden, notiere es dir. Und ärgere
dich nicht zu sehr über meine Zweifel an der Gutartigkeit der Jugend. Und
sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, daß sich Vernunft und Macht
jemals heiraten werden. Es handelt sich leider um eine Antinomie. Ich bin
der Überzeugung, daß es für die Menschheit, so wie sie ist, nur zwei
Möglichkeiten gibt. Entweder ist man mit seinem Los unzufrieden, und dann
schlägt man einander tot, um die Lage zu verbessern, oder man ist, und das
ist eine rein theoretische Situation, im Gegenteil mit sich und der Welt
einverstanden, dann bringt man sich aus Langeweile um. Der Effekt ist
derselbe. Was nützt das göttliche System, solange der Mensch ein Schwein
ist? Aber was meinte Leda dazu?"
"Sie enthielt sich jeder Meinung. Denn sie war gar nicht dabei."
"Warum denn nicht?"
"Sie wußte nicht, daß ich in Hamburg war."
Fabian erhob sich erstaunt, setzte sich aber schweigend wieder hin.
Labude breitete die Arme aus und hielt sich an den Ecken der
Schreibtischplatte fest. "Ich wollte Leda überraschen. Ich wollte sie
heimlich beobachten. Denn ich war mißtrauisch geworden. Wenn man in
jedem Monat nur zwei Tage und eine Nacht beisammen ist, dann wird die
Beziehung unterminiert, und wenn so ein Zustand, wie bei uns, jahrelang
dauert, geht die Beziehung in die Brüche. Das hat mit der Qualität der
Partner nicht sehr viel zu tun, der Vorgang ist zwangsläufig. Ich machte dir
vor Monaten einmal Andeutungen, daß Leda sich verändert habe. Sie fing
an, sich zu verstellen. Sie markierte. Die Begrüßung auf dem Bahnhof,
die Zärtlichkeit des Gesprächs, die Leidenschaft im Bett, alles war nur noch
Theater."
Labude hob den Kopf kerzengerade. Er sprach sehr leise. "Natürlich
entfremdet man sich. Man weiß nicht mehr, welche Sorgen der andere
hat. Man kennt die Bekannten nicht, die er findet. Man sieht nicht,
daß er sich verwandelt, und weswegen er's tut. Briefe sind zwecklos.
Und dann reist man hin, gibt sich einen Kuß, geht ins Theater, fragt
nach Neuigkeiten, verbringt eine Nacht miteinander und trennt sich wieder.
Vier Wochen später vollzieht sich derselbe Unfug. Seelische Nähe,
anschließend Geschlechtsverkehr nach dem Kalender, mit der Uhr in der
Hand. Es ist unmöglich, sie in Hamburg, ich in Berlin, die Liebe krepiert an
der Geographie."
Fabian nahm eine Zigarette und strich das Zündholz behutsam an, als
fürchte er, der Reibfläche weh zu tun. "Ich habe in den letzten Monaten vor
jeder dieser Zusammenkünfte Angst gehabt. Ich hätte Leda, wenn sie mit
geschlossenen Augen dalag, sich zitternd unter mir bewegte und mich mit den
Armen umklammerte, das Gesicht wie eine Maske abreißen mögen. Sie log.
Aber wen wollte sie belügen? Nur mich, oder sich selber auch? Da sie, obwohl
ich sie brieflich wiederholt dazu aufforderte, Erklärungen vermied,
mußte ich tun, was ich tat. Ich verabschiedete mich in der Nacht, in
der wir die Initiativgruppe gegründet hatten, von Rassow und den anderen
sehr bald und begab mich zu dem Haus, in dem Leda wohnt. Die Fenster waren
dunkel. Vielleicht schlief sie schon. Aber mir war nicht nach Logik zumute.
Ich wartete." Labudes Stimme schwankte. Er griff auf den Schreibtisch, nahm
mehrere Bleistifte und rollte sie nervös zwischen den Händen. Das hölzerne,
klappernde Geräusch begleitete den Fortgang des Berichts. "Die Straße
ist breit und nur an einer Stelle bebaut. Die andere Seite grenzt an
Blumenbeete, Wiesen, Wege und Gebüsch, und dahinter liegt die
Außenalster. Dem Haus gegenüber steht eine Bank. Dorthin setzte ich
mich, rauchte zahllose Zigaretten und wartete. So oft jemand die
Straße entlang kam, dachte ich, das müsse Leda sein. So saß ich
von zwölf Uhr nachts bis drei Uhr morgens, ersann heftige Gespräche und böse
Bilder. Und die Zeit verging. Kurz nach drei bog ein Taxi in die
Straße und hielt vor dem Haus. Ein großer schlanker Mann stieg
aus und bezahlte den Chauffeur. Dann sprang eine Frau aus dem Wagen, eilte
zur Tür, schloß auf, trat ins Haus, hielt die Tür, bis der Mann
gefolgt war, und schloß von innen wieder zu. Das Auto fuhr in die
Stadt zurück."
Labude war aufgestanden. Er warf die Bleistifte auf den Schreibtisch,
ging rasch im Zimmer auf und ab und machte in der äußersten Ecke,
dicht vor der Wand, halt. Er blickte auf das Tapetenmuster und zeichnete es
mit dem Finger nach. "Es war Leda. In ihren Fenstern wurde Licht. Ich sah,
wie sich zwei Schatten hinter den Gardinen bewegten. Das Wohnzimmer wurde
wieder dunkel. Jetzt erhellte sich das Schlafzimmer. Die Balkontür stand
halb offen. Manchmal hörte ich Leda lachen. Du entsinnst dich, sie lacht so
merkwürdig hoch. Manchmal war es ganz still, droben im Haus und unten auf
meiner Straße, und ich hörte bloß, wie mein Herz schlug."
In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Justizrat Labude trat
ein, ohne Hut und Mantel. "Tag, Stephan!" sagte er, kam näher und gab seinem
Sohn die Hand. "Lange nicht gesehen, was? War ein paar Tage unterwegs.
Mußte mal ausspannen. Die Nerven, die Nerven. Komme eben zurück. Wie
geht's? Siehst schlecht aus. Sorgen? Was über die Habilitationsschrift
gehört? Nein? Langweilige Bande. Hat Mutter geschrieben? Mag noch ein paar
Wochen bleiben. Heißt mit Recht Paradiso, das Nest. Hat's die Frau
gut. Tag, Herr Fabian. Seriöse Gespräche, wie? Gibt es ein Fortleben nach
dem Tode? Im Vertrauen gesagt, es gibt keins. Muß alles vor dem Tode
erledigt werden. Alle Hände voll zu tun. Tag und Nacht."
"Fritz, nun komm aber endlich!" rief im Treppenhaus eine Frauenstimme.
Der Justizrat zuckte die Achseln. "Da habt ihr's. Kleine Sängerin,
großes Talent, keine Beschäftigung. Kann sämtliche Opern auswendig.
Bißchen laut auf die Dauer. Na, Wiedersehen. Amüsiert euch lieber,
statt die Menschheit zu erlösen. Wie gesagt, das Leben muß noch vor
dem Tode erledigt werden. Zu näheren Auskünften bin ich gerne bereit. Nicht
so ernst, mein Junge." Er gab beiden die Hand, ging und warf die Tür ins
Schloß. Labude hielt sich nachträglich die Ohren zu, trat an den
Schreibtisch, dachte eine Weile nach und fuhr dann in seiner Erzählung fort:
"Gegen fünf Uhr früh begann es zu regnen. Nach sechs hörte es auf. Der
Himmel wurde hell, und der Tag fing an. In dem Schlafzimmer brannte noch
immer Licht. Das sah im Morgengrauen seltsam aus. Um sieben Uhr
verließ der Mensch das Haus. Er pfiff, als er aus der Tür trat, und
blickte nach oben. Leda stand in ihrem japanischen Schlafrock auf dem Balkon
und winkte. Er winkte wieder. Sie breitete den Schlafrock für einen Moment
noch einmal auseinander, damit er ihren Körper noch einmal sehe. Er warf ein
Kußhändchen, es war zum Speien. Er ging pfeifend die Straße
hinunter. Ich senkte den Kopf. Oben wurde die Balkontür geschlossen."
Fabian wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Er blieb
sitzen. Plötzlich hob Labude den Arm und schlug mit der Faust auf den
Schreibtisch. "Diese Kanaille!" schrie er. Fabian sprang vom Sofa, aber der
andere winkte ab und sagte ganz ruhig: "Schon gut. Höre weiter. Mittags
telefonierte ich. Sie war erfreut, daß ich wieder einmal bei ihr sei.
Warum ich nicht geschrieben habe. Ob ich um fünf Uhr kommen wolle. Die
wissenschaftlichen Arbeiter hörten seit ein paar Wochen früher auf. Ich lief
durchs Hafenviertel, bis es soweit war. Dann fuhr ich hin. Sie hatte Tee und
Kuchen zurechtgestellt und begrüßte mich zärtlich. Ich trank eine
Tasse Tee und sprach über gleichgültige Dinge. Dann begann sie sich
automatisch zu entkleiden, nahm den Kimono um und legte sich auf die Couch.
Da fragte ich, wie sie darüber dächte, wenn wir unsere Beziehung lösten. Sie
fragte, was mit mir los sei. Es gelte doch für ausgemacht, daß wir
heiraten, sobald ich mich habilitiert habe. Ob ich sie nicht mehr liebe. Ich
erklärte, daß es sich darum jetzt nicht handle. Die zunehmende
Entfremdung, an der sie die Schuld trage, lasse das Auseinandergehen ratsam
erscheinen.
Sie rekelte sich, gab dem Schlafrock Gelegenheit, zur Seite zu gleiten,
und meinte mit kindlicher Stimme, ich sei so kalt. Und die Entfremdung
scheine, wie die unzweideutige Situation eindeutig beweise, eher an mir als
an ihr zu liegen. Sie gab zu, daß es schwer sei, die Strecke zwischen
Hamburg und Berlin seelisch zu überbrücken. Und in sexueller Beziehung gebe
es Konflikte. Wenn sie mich haben wolle, sei ich nicht da, und wenn ich da
sei, müsse die Liebe wie ein Mittagbrot erledigt werden, ob man Hunger hat
oder nicht. Aber wenn wir erst verheiratet wären, würde das anders. Ich
solle übrigens nicht böse sein. Sie habe vor mehreren Wochen einen
ärztlichen Eingriff vornehmen lassen. Sie wolle unsere Kinder als meine Frau
zur Welt bringen, nicht vorher. Mitgeteilt habe sie mir diesen kleinen
Unfall nicht, um mich nicht zu ängstigen. Sie sei aber wieder auf dem
Posten, und ich solle mich endlich neben sie setzen. Sie habe Sehnsucht.
"Von wem war das wieder rückgängig gemachte Kind?" fragte ich. Sie
setzte sich auf und zog ein gekränktes Gesicht.
"Und wer war der Mann, der heute nacht bei dir schlief ?" fragte ich
weiter.
"Du siehst Gespenster", sagte sie. "Du bist eifersüchtig, es ist
geradezu albern."
Da gab ich ihr eine Ohrfeige und ging fort. Sie lief hinter mir her,
die Treppe hinunter, bis vor die Tür. Dort stand sie, nackt, im wehenden
Schlafrock, nachmittags gegen sechs, und rief, ich solle bleiben. Aber ich
rannte davon und fuhr zur Bahn."
Fabian trat hinter Labude und legte die Hände auf die Schultern des
Freundes. "Warum hast du mir das nicht schon gestern erzählt?"
"Na, ich komme schon darüber weg", sagte Labude.
"Mich so zu belügen."
"Aber was hätte sie tun sollen? Die Wahrheit sagen?"
"Ich kann nicht mehr darüber nachdenken. Mir ist, als sei ich schwer
krank gewesen!"
"Du bist noch krank", meinte Fabian. "Du hast sie noch lieb."
"Das ist wahr", sagte Labude. "Aber ich bin schon mit ganz anderen
Kerlen fertig geworden als mit mir."
"Wenn sie dir nun schreibt?"
"Der Fall ist erledigt. Ich habe fünf Jahre damit zugebracht, unter
einer falschen Voraussetzung zu leben, das reicht. Das Schlimmste habe ich
dir noch nicht gesagt. Sie liebt mich nicht, und sie hat mich noch nie lieb
gehabt! Erst jetzt, nach dem Schlußstrich, geht plötzlich die Rechnung
auf. Erst als sie neben mir lag und mich kaltblütig belog, verstand ich die
vergangenen Jahre. In fünf Minuten verstand ich alles. Zu den Akten!" Labude
schob den Freund zur Tür. "Jetzt gehen wir. Ruth Reiter hat uns eingeladen.
Komm, ich habe verschiedenes nachzuholen."
"Wer ist Ruth Reiter?"
"Ich lernte sie heute kennen. Sie hat ein Atelier und bildhauert, wenn
man ihr glauben darf." "Modellstehen wollte ich schon immer mal", sagte
Fabian und zog den Mantel an.
NEUNTES KAPITEL
Sonderbare junge Mädchen
Ein Todeskandidat wird lebendig
Das Lokal heißt "Cousine"
"Endlich ein paar Männer!" rief die Reiter. "Macht's euch bequem. Die
Kulp hat gerade gestöhnt, so ginge das nicht weiter. Sie hat zwei Tage
keinen Mann gehabt, und der letzte war auch bloß ein Verkehrsunfall.
Sie ist Modezeichnerin, und der Kerl hätte ihr, ohne die kleine
Gegenleistung, keinen Auftrag gegeben. Ein beinahe impotenter Lebegreis
war's, sagte sie."
"Das sind die Schlimmsten", meinte Labude. "Sie probieren
ununterbrochen, um nachzusehen, ob sich der Scha-den inzwischen behoben
hat." Er blickte sich nach dem Mädchen um, das Kulp hieß.
Sie hockte, mit hochgezogenen Beinen, auf einer Chaiselongue und winkte
ihm.
l.abude setzte sich neben die Kulp. Fabian wartete unschlüssig. Das
Atelier war groß. In der Mitte des Raumes, unter der Lampe, vor einer
Reihe von Skulpturen, stand ein holzgezimmerter Tisch, und auf dem Tisch
saß eine nackte, dunkelhaarige Frau. Die Reiter kauerte auf einem
Schemel, nahm den Skizzenblock und zeichnete. "Abendakt", erläuterte sie,
ohne sich umzudrehen. "Heißt Selow. Neue Position, mein Schatz!
Stehend, Beine breit, Oberkörper rechtwinklig drehen. So, Hände im Nacken
ver-schränken. Halt!" Die nackte Frau, die Selow hieß, hatte sich
aufgerichtet und stand nun breitbeinig auf dem Tisch. Sie war vorzüglich
gebaut und blickte gleichgültig, aus schwermütigen Augen, vor sich hin.
"Baron, was zu trinken, mich friert", sagte sie plötzlich.
"Wahrhaftig, Fräulein Selow hat überall Gänsehaut", pflichtete Fabian
bei. Er war nähergetreten und stand vor dem Modell wie ein Kunstkenner vor
einer weiblichen Bronze.
"Berühren verboten!" Die Stimme der Bildhauerin klang äußerst
unfreundlich.
Fräulein Kulp, die sich in Labudes Armen wie in warmem Badewasser
dehnte, rief Fabian zu: "Hand von der Butter. Der Baron ist eifersüchtig.
Sie hat mit dem Abendakt ein gutgehendes Verhältnis."
"Halt den Rand!" knurrte die Reiter. "Labude, wenn Sie mit der Kulp
etwas Unaufschiebbares vorhaben sollten, genieren Sie sich nicht. Ich habe
nur diesen Raum, aber der ist an Kummer gewöhnt."
Labude äußerte, er habe moralische Bedenken.
"Was es so alles gibt", meinte die Kulp traurig. Die Reiter blickte
vorübergehend von ihrem Block hoch und sah Fabian an. "Falls Sie sich an der
Kulp beteiligen wollen, halten Sie sich ran! Ihr braucht weiter nichts dazu
als einen Groschen. Labude wählt Wappen. Sie nehmen Zahl. Die Kulp wirft den
Groschen hoch, das regt ihr Sonnengeflecht an. Wer oben liegt, hat den
Vortritt."
"Welche tiefe Wahrheit!" rief die Kulp. "Aber einen Groschen? Du
verdirbst die Preise!"
Fabian sagte höflich, er sei kein Freund von Glücksspielen. Die nackte
Frau stampfte mit dem Fuß auf: "Was zu trinken!"
"Battenberg, neben deinem Lehnstuhl steht ein Tischchen, und auf dem
Tischchen steht Gin. Gib doch mal was rüber."
"Gern", sagte eine Stimme. Hinter den Statuen klirrte es. Dann trat ein
fremdes Mädchen in den Lichtkreis der Lampe und reichte dem Abendakt ein
gefülltes Glas. Fabian war überrascht. "Wie viele weibliche Wesen sind
eigentlich hier?" fragte er.
"Ich bin das einzige", erklärte Fräulein Battenberg und lachte. Fabian
sah ihr ins Gesicht und fand, sie passe nicht in das Milieu. Sie spazierte
wieder hinter die Plastiken. Er folgte ihr. Sie setzte sich in den
Lehnstuhl. Er stellte sich neben eine Diana aus Gips, legte den Arm um die
Hüfte der trainierten Göttin und schaute durch das Atelierfenster auf die
Bogen und Veduten der Jugendstilgiebel. Man hörte den Baron kommandieren.
"Letzte Position, mein Schatz, Rumpfbeuge vorwärts, Knie einknicken,
Gesäß heraus, Hände auf die Knie, gut, halt!" Und aus der vorderen
Hälfte des Ateliers klangen kleine, zugespitzte Schreie. Fräulein Kulp litt
vorübergehend an Atemnot. "Wie kommen Sie eigentlich in diesen Saustall?"
fragte Fabian.
"Ruth Reiter und ich sind aus derselben Stadt. Wir gingen in die
gleiche Schule. Neulich trafen wir uns zufällig auf der Straße. Und
weil ich noch nicht lange in Berlin bin, lud sie mich zu Informationszwecken
ein. Ich bin das letzte Mal hier oben. Die Information hat genügt."
"Das freut mich", sagte er. "Ich bin kein ausgesprochener
Tugendbewahrer, und trotzdem betrübt es mich, wenn ich sehen muß,
daß eine Frau unter ihrem Niveau lebt." Sie sah ihn ernst an. "Ich bin
kein Engel, mein Herr. Unsere Zeit ist mit den Engeln böse. Was sollen wir
anfangen? Wenn wir einen Mann liebhaben, liefern wir uns ihm aus. Wir
trennen uns von allem, was vorher war, und kommen zu ihm. "Da bin ich",
sagen wir freundlich lächelnd. "Ja", sagt er, "da bist du", und kratzt sich
hinterm Ohr. Allmächtiger, denkt er, nun habe ich sie auf dem Hals. Leichten
Herzens schenken wir ihm, was wir haben. Und er flucht. Die Geschenke sind
ihm lästig. Erst flucht er leise, später flucht er laut. Und wir sind allein
wie nie zuvor. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und von zwei Männern wurde
ich stehengelassen. Stehengelassen wie ein Schirm, den man absichtlich
irgendwo vergißt. Stört Sie meine Offenheit?"
"Es geht vielen Frauen so. Wir jungen Männer haben Sorgen. Und die
Zeit, die übrigbleibt, reicht fürs Vergnügen, nicht für die Liebe. Die
Familie liegt im Sterben. Zwei Möglichkeiten gibt es ja doch nur für uns.
Verantwortung zu zeigen. Entweder der Mann verantwortet die Zukunft einer
Frau, und wenn er in der nächsten Woche die Stellung verliert, wird er
einsehen, daß er verantwortungslos handelte. Oder er wagt es, aus
Verantwortungs-gefühl, nicht, einem zweiten Menschen die Zukunft zu
versauen, und wenn die Frau darüber ins Unglück gerät, wird er sehen,
daß auch diese Entscheidung verantwortungslos war. Das ist eine
Antinomie, die es früher nicht gab."
Fabian setzte sich aufs Fensterbrett. Gegenüber war ein Fenster
erleuchtet. Er blickte in ein mäßig möbliertes Zimmer. Eine Frau
saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Und ein Mann stand
davor, gestikulierte mit den Armen, bewegte schimpfend den Mund, riß
den Hut von einem Haken und verließ den Raum. Die Frau nahm die Hände
vom Gesicht und starrte auf die Tür. Dann legte sie den Kopf auf den Tisch,
ganz langsam und ganz ruhig, als warte sie auf ein niederfallendes Beil.
Fabian wandte sich ab und betrachtete das Mädchen, das neben ihm im
Lehnstuhl saß. Auch sie hatte die Szene drüben im anderen Haus
beobachtet und sah ihn traurig an.
"Schon wieder ein verhinderter Engel", meinte er.
"Der zweite Mann, den ich liebte und damit belästigte", sagte sie
leise, "ging eines schönen Abends aus der Wohnung, um einen Brief in den
Kasten zu werfen. Er ging die Treppe hinunter und kam nicht wieder." Sie
schüttelte den Kopf, als verstehe sie das Erlebnis noch immer nicht. "Ich
wartete drei Monate darauf, daß er vom Briefkasten zurückkehre.
Komisch, nein? Dann schickte er eine Ansichtskarte aus Santiago, mit vielen
herzlichen Grüßen. Meine Mutter sagte: "Du bist eine Dirne!", und als
ich zu bedenken gab, daß sie ihren ersten Mann mit achtzehn Jahren und
das erste Kind mit neunzehn Jahren gehabt habe, rief sie entrüstet: "Das war
etwas ganz anderes!" Freilich, das war etwas ganz anderes."
"Warum sind Sie nach Berlin gekommen?"
"Früher verschenkte man sich und wurde wie ein Geschenk bewahrt. Heute
wird man bezahlt und eines Tages, wie jede bezahlte und benutzte Ware,
weggetan. Bezahlung ist billiger, denkt der Mann."
"Früher war das Geschenk etwas ganz anderes als die Ware. Heute ist das
Geschenk eine Ware, die null Mark kostet. Diese Billigkeit macht den Käufer
mißtrauisch. Sicher ein faules Geschäft, denkt er. Und meist hat er
recht. Denn später präsentiert ihm die Frau die Rechnung. Plötzlich soll er
den moralischen Preis des Geschenks rückvergüten. In seelischer Valuta. Als
Lebensrente zu zahlen."
"Genauso ist es", sagte sie. "Genauso denken die Männer. Aber warum
nennen Sie dann dieses Atelier einen Saustall? Hier sind doch die Frauen so
ähnlich, wie ihr sie haben wollt! Oder etwa nicht? Ich weiß, was euch
zu eurem Glück noch fehlt. Wir sollen zwar kommen und gehen, wann ihr es
wollt. Aber wir sollen weinen, wenn ihr uns fortschickt. Und wir sollen
selig sein, wenn ihr uns winkt. Ihr wollt den Warencharakter der Liebe, aber
die Ware soll verliebt sein. Ihr zu allem berechtigt und zu nichts
verpflichtet, wir zu allem verpflichtet und zu nichts berechtigt, so sieht
euer Paradies aus. Doch das geht zu weit!" Fräulein Battenberg putzte sich
die Nase. Dann fuhr sie fort: "Wenn wir euch nicht behalten dürfen, wollen
wir euch auch nicht lieben. Wenn ihr uns kaufen wollt, dann sollt ihr teuer
dafür bezahlen." Sie schwieg. Ihr liefen kleine Tränen übers Gesicht.
"Sie sind deswegen nach Berlin gekommen?" fragte Fabian.
Sie weinte geräuschlos.
Er trat neben sie und streichelte ihre Schulter. "Sie verstehen auch
nichts von Geschäften", sagte er und blickte zwischen zwei Gipsfiguren in
den anderen Teil des Ateliers. Der Abendakt saß auf dem Tisch und
trank Gin. Die Bildhauerin beugte sich über die nackte Frau und küßte
sie auf den wenig gewölbten Bauch und auf die Brust. Die Selow trank
inzwischen das Glas leer und strich der Freundin gleichgültig über den
Rücken. Diese küßte, jene trank, keine schien recht zu wissen, was die
andere tat. Und im Hintergrund, auf der Chaiselongue, lagen die Kulp und
Labude, zu einem flüsternden Knäuel verwickelt.
Jetzt klingelte es draußen. Die Reiter richtete sich auf und ging
mit schweren Schritten hinaus. Die Selow zog die Strümpfe an. Ein riesiger
Mann kam durch die Tür. Er atmete keuchend, hatte ein Holzbein und ging an
einem Stock.
"Ist die Kulp da?" fragte er. Die Reiter nickte. Er zog ein paar
Geldscheine aus der Tasche, gab sie der Bildhauerin und sagte: "Ihr anderen
solltet eine Stunde fortgehen. Die Selow kannst du mir eventuell noch
dalassen." Er sank auf einen Stuhl und lachte schwerfällig. "Nein, nein,
Baron, es war nur Spaß."
Die Kulp kroch von der Chaiselongue, strich sich das Kleid glatt und
gab dem Mann die Hand. "Tag, Wilhelmy, noch immer nicht tot?"
Wilhelmy wischte sich den Schweiß von der Stirn und schüttelte
den Kopf.
"Lange kann's aber nicht mehr dauern. Sonst ist das Geld früher zu Ende
als ich." Er gab ihr ein paar Geldscheine. "Selow!" rief er, "sauf den Gin
nicht aus! Und zieh dich schneller an."
"Geht in die "Cousine". Ich komme nach", sagte die Kulp. Dann rüttelte
sie Labude munter. "Mein Lieber, du wirst rausgeschmissen. Hier ist einer,
dem die Ärzte erzählt haben, daß er noch in diesem Monat stirbt. Er
lauert auf den Tod wie unsereins auf die Periode. Ich helf ihm bloß
ein Viertelstündchen warten. Später treff ich euch wieder." Labude stand
auf. Die Reiter holte ihren Mantel. Fabian kam mit Fräulein Battenberg
hinter den Plastiken vor. Die Selow war mit Anziehen fertig. Sie gingen. Der
Todeskandidat und die Kulp blieben zurück.
"Hoffentlich prügelt er sie nicht so sehr wie beim letzten Mal", sagte
die Bildhauerin auf der Treppe. "Es bringt ihn auf, daß andere länger
leben dürfen als er."
"Die hat nichts dagegen, die liebt die Keile", meinte die Selow. "Und
außerdem, von ihrer Zeichnerei kann sie nicht leben und nicht
sterben."
"Feine Berufe haben wir!" Die Reiter lachte wütend.
Die "Cousine" war ein Klublokal, in dem vorwiegend Frauen verkehrten.
Sie tanzten miteinander. Sie saßen Arm in Arm auf kleinen grünen
Sofas. Sie sahen einander tief in die Augen. Sie tranken Schnaps, und manche
trugen Smokingjacken und hochgeschlossene Blusen, um den Männern recht
ähnlich zu sein. Die Inhaberin hieß wie ihr Lokal, rauchte schwarze
Zigarren und vermittelte Bekanntschaften. Sie ging von Tisch zu Tisch,
begrüßte die Gäste, erzählte handfeste Witze und soff wie ein Budiker.
Labude schien sich vor Fabian und vor sich selber zu schämen. Er tanzte mit
dem Abendakt, setzte sich dann mit der Frau an die Theke und drehte dem
Freund den Rücken.
Ruth Reiter war eifersüchtig, nahm sich aber zusammen. Sie blickte ganz
selten nach der Bar, sah blaß aus und begann zu trinken. Später schob
sie an einen anderen Tisch und unterhielt sich dort mit einer älteren Dame,
die schrecklich geschminkt war und, wenn sie lachte, derartig gackerte,
daß man dachte: Gleich legt sie ein Ei.
"Ich kann unser Gespräch noch nicht vergessen", sagte Fabian zu
Fräulein Battenberg. "Halten Sie wirklich alle Frauen, die hier versammelt
sind, für gebürtige Abnormitäten? Die Blondine da drüben war jahrelang die
Freundin eines Schauspielers, bis er sie ruckartig an die Luft setzte. Dann
ging sie ins Büro und schlief mit dem Prokuristen. Sie kriegte ein Kind und
verlor den Prozeß. Der Prokurist leugnete die Vaterschaft. Das Kind
wurde aufs Land gegeben. Die Blondine bekam eine neue Stellung. Aber sie
hat, vielleicht für immer, mindestens vorübergehend, von den Männern genug,
und mancher, die außer ihr hier sitzt, erging es ähnlich. Die eine
findet keinen Mann, die andere zu viele, die dritte hat panische Angst vor
den Folgen. Hier sitzen viele Frauen, die mit den Männern nur böse sind. Die
Selow, die mit meinem Freunde zusammenhockt, gehört auch zu dieser Sorte.
Sie ist nur lesbisch, weil sie mit dem anderen Geschlecht schmollt."
"Wollen Sie mich nach Hause bringen?" fragte Fräulein Battenberg.
"Es gefällt Ihnen hier nicht?"
Sie schüttelte den Kopf.
Da ging die Tür auf, die Kulp taumelte ins Lokal. Vor dem Tisch, an dem
die Bildhauerin saß, blieb sie stehen und öffnete den Mund. Sie schrie
nicht, sie sprach nichts. Sie brach zusammen. Die Frauen drängten sich
neugierig um die Ohnmächtige. Die Cousine brachte Whisky. "Der Wilhelmy hat
sie wieder geschlagen", sagte die Reiter.
"Ein Hoch auf die Männer!" schrie ein Mädchen und lachte hysterisch.
"Holt den Doktor aus dem Hinterzimmer!" rief die Cousine. Man rannte
durcheinander. Der Klavierspieler, der ebenso witzig wie betrunken war,
intonierte den Trauermarsch von Chopin.
"Das soll der Doktor sein?" fragte Fräulein Battenberg. Durch die
Seitentür trat eine große, hagere Dame im Abendkleid, das Gesicht
glich einem weißgepuderten Totenkopf.
"Ja, das ist ein medizinisch vorgebildeter Mann", sagte Fabian. "Er war
sogar einmal Korpsstudent. Sehen Sie die Schmisse unterm Puder? Jetzt ist er
Morphinist und hat polizeiliche Erlaubnis, Frauenkleidung zu tragen. Er lebt
davon, daß er Morphiumrezepte verschreibt. Eines Tages werden sie ihn
erwischen, dann vergiftet er sich." Man trug die Kulp ins Hinterzimmer. Der
Doktor im Abendkleid folgte. Der Klavierspieler begann einen Tango. Die
Bildhauerin holte den Abendakt zum Tanz, preßte die Freundin eng an
sich und sprach heftig auf sie ein. Die Selow war völlig betrunken, hörte
kaum zu und schloß die Augen. Plötzlich riß sie sich los,
überquerte schwankend das Parkett, schlug den Klavierdeckel zu, daß
das Instrument jammerte, und brüllte: "Nein!"
Es wurde totenstill. Die Bildhauerin stand allein auf der Tanzfläche
und hatte die Hände ineinandergekrampft.
"Nein!" brüllte die Selow noch einmal. "Ich habe genug davon! Bis
dahin! Ich will einen Mann haben! Einen Mann will ich haben! Steig mir doch
den Buckel runter, du geile Ziege!" Sie zerrte Labude von seinem Hocker, gab
ihm einen Kuß, hieb sich den Hut auf den Kopf und zog den jungen Mann,
kaum daß er den Mantel mitnehmen konnte, zur Tür. "Es lebe der kleine
Unterschied!" schrie sie. Dann waren die beiden ver-schwunden.
"Es ist wirklich besser, wenn wir gehen." Fabian erhob sich, legte Geld
auf den Tisch und half der Battenberg beim Anziehen. Als sie gingen, stand
Ruth Reiter, auch der Baron genannt, noch immer auf dem Tanzparkett. Niemand
wagte es, sich ihr zu nähern.
ZEHNTES KAPITEL
Topographie der Unmoral
Die Liebe höret nimmer auf!
Es lebe der kleine Unterschied!
"Wieso ist dieser Mensch Ihr Freund?" fragte sie auf der Straße.
"Sie kennen ihn doch gar nicht!" Er ärgerte sich über ihre Frage und
ärgerte sich über seine Antwort. Sie gingen schweigend nebeneinander. Nach
einer Weile sagte er: "Labude hat Pech gehabt. Er ist nach Hamburg gefahren
und hat zugesehen, wie ihn seine zukünftige Gattin betrügt. Er organisiert
gern. Seine Zukunft war, nach der familiären Seite, bis auf die fünfte
Stelle nach dem Komma ausgerechnet. Und nun stellt sich über Nacht heraus,
es war alles falsch. Er will das rasch vergessen und versucht es zunächst
auf horizontale Art."
Sie blieben vor einem Geschäft stehen. Der Laden war trotz der
nächtlichen Stunde hell erleuchtet, und die Kleider und Blusen und
Lackgürtel lagen zwischen den dunklen Häusern wie auf einer kleinen, von der
Sonne beschienenen Insel.
"Können Sie mir sagen, wie spät es ist?" fragte jemand neben ihnen.
Fräulein Battenberg erschrak und faßte den Arm ihres Begleiters.
"Zehn nach zwölf", sagte Fabian.
"Danke schön. Da muß ich mich beeilen." Der junge Mann, der sie
angesprochen hatte, bückte sich und nestelte umständlich an einem
Schnürsenkel. Dann richtete er sich wieder auf und fragte verlegen lächelnd:
"Haben Sie zufällig fünfzig Pfennige, die Sie entbehren könnten?" "Zufällig
ja", antwortete Fabian und gab ihm ein Zweimarkstück.
"Oh, das ist schön. Haben Sie vielen Dank, mein Herr. Da brauche ich
nicht bei der Heilsarmee zu übernachten." Der Fremde zuckte entschuldigend
die Achseln, lüftete den Hut und lief hastig davon.
"Ein gebildeter Mensch", meinte Fräulein Battenberg.
"Ja, er fragte nach der Zeit, ehe er uns anbettelte."
Sie setzten ihren Weg fort. Fabian wußte nicht, wo das Mädchen
wohnte. Er ließ sich führen, obwohl er die Gegend besser kannte als
sie. "Das Schlimmste an der ganzen Geschichte ist das", sagte er, "Labude
hat, allerdings fünf Jahre zu spät, bemerkt, daß ihn Leda, eben jene
Frau aus Hamburg, niemals lieb hatte. Sie hat ihn nicht betrogen, weil er zu
selten bei ihr war. Sie betrog ihn, weil sie ihn nicht liebte. Er stand ihr
nur individuell nahe, er war nicht ihr Typus. Es gibt auch den umgekehrten
Fall. Man kann jemanden mögen, weil er den rechten Typus verkörpert, aber
man kann seine Individualität nicht leiden."
"Und daß jemand in jeder Beziehung der Richtige ist, kommt das
nicht vor?"
"Man soll nicht gleich das Äußerste hoffen", erwiderte Fabian.
"Und was führt Sie, außer Ihrem kriegerischen Vorsatz, nach Sodom und
Gomorrha?"
"Ich bin Referendar", erklärte sie. "Meine Dissertation betraf eine
Frage zum internationalen Filmrecht, und eine große Berliner
Filmgesellschaft will mich in ihrer Vertragsabteilung volontieren lassen.
Hundertfünfzig Mark im Monat."
"Werden Sie doch Filmschauspielerin!"
"Wenn es sein muß, auch das", sagte sie entschlossen. Und beide
lachten. Sie gingen durch die Geisbergstraße. Nur selten durchquerte
ein Auto die Nachtruhe. In den Vorgärten dufteten Blumenbeete. In einer
Haustür streichelte sich ein Liebespaar.
"Sogar der Mond scheint in dieser Stadt", bemerkte die Kennerin des
internationalen Filmrechts. Fabian drückte ihren Arm ein wenig. "Ist es
nicht fast wie zu Hause?" fragte er. "Aber Sie täuschen sich. Der Mondschein
und der Blumenduft, die Stille und der kleinstädtische Kuß im Torbogen
sind Illusionen. Dort drüben, an dem Platz, ist ein Café, in dem Chinesen
mit Berliner Huren zusammensitzen, nur Chinesen. Da vorn ist ein Lokal, wo
parfümierte homosexuelle Burschen mit eleganten Schauspielern und smarten
Engländern tanzen und ihre Fertigkeiten und den Preis bekanntgeben, und zum
Schluß bezahlt das Ganze eine blondgefärbte Greisin, die dafür
mitkommen darf. Rechts an der Ecke ist ein Hotel, in dem nur Japaner wohnen,
daneben liegt ein Restaurant, wo russische und ungarische Juden einander
anpumpen oder sonstwie übers Ohr hauen. In einer der Nebenstraßen gibt
es eine Pension, wo sich nachmittags minderjährige Gymnasiastinnen
verkaufen, um ihr Taschengeld zu erhöhen. Vor einem halben Jahr gab es einen
Skandal, der nur schlecht vertuscht wurde; ein älterer Herr fand in dem
Zimmer, das er zu Vergnügungszwecken betrat, zwar, wie er erwartet hatte,
ein sechzehnjähriges entkleidetes Mädchen vor, aber es war leider
seineTochter, und das hatte er nicht erwartet... Soweit diese riesige Stadt
aus Stein besteht, ist sie fast noch wie einst. Hinsichtlich der Bewohner
gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im Osten residiert das Verbrechen, im
Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in
allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang."
"Und was kommt nach dem Untergang?"
Fabian pflückte einen kleinen Zweig, der über ein Gitter hing, und gab
zur Antwort: "Ich fürchte, die Dummheit."
"In der Stadt, aus der ich bin, ist die Dummheit schon eingetroffen",
sagte das Mädchen. "Aber was soll man tun?"
"Wer ein Optimist ist, soll verzweifeln. Ich bin ein Melancholiker, mir
kann nicht viel passieren. Zum Selbstmord neige ich nicht, denn ich verspüre
nichts von jenem Tatendrang, der andere nötigt, so lange mit dem Kopf gegen
die Wand zu rennen, bis der Kopf nachgibt. Ich sehe zu und warte. Ich warte
auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen.
Aber ich warte darauf wie ein Ungläubiger auf Wunder. Liebes Fräulein, ich
kenne Sie noch nicht. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, möchte ich
Ihnen für den Umgang mit Menschen eine Arbeitshypothese anvertrauen, die
sich bewährt hat. Es handelt sich um eine Theorie, die nicht richtig zu sein
braucht. Aber sie führt in der Praxis zu verwendbaren Ergebnissen."
"Und wie lautet Ihre Hypothese?"
"Man halte hier jeden Menschen, mit Ausnahme der Kinder und Greise,
bevor das Gegenteil nicht unwiderleglich bewiesen ist, für verrückt. Richten
Sie sich danach, Sie werden bald erfahren, wie nützlich der Satz sein kann."
"Soll ich bei Ihnen damit beginnen?" fragte sie.
"Ich bitte darum", meinte er.
Sie schwiegen und überquerten den Nürnberger Platz. Ein Auto bremste
dicht vor ihnen. Das Mädchen zitterte. Sie gingen in die
Schaperstraße. In einem verwahrlosten Garten schrien Katzen. An den
Rändern der Fußsteige standen Alleebäume, bedeckten den Weg mit
Dunkelheit und verbargen den Himmel. "Ich bin angelangt", sagte sie und
machte vor dem Hause Nummer 17 halt. In dem Hause, in dem auch Fabian
wohnte! Er verbarg seine Verwunderung und fragte, ob er sie wiedersehen
dürfe.
"Wollen Sie es wirklich?"
"Unter einer Bedingung: daß auch Sie es wünschen." Sie nickte und
legte einen Augenblick lang den Kopf an seine Schulter. "Diese Stadt ist
groß", flüsterte sie und schwieg unschlüssig. "Werden Sie mich falsch
verstehen, wenn ich Sie bitte, für eine halbe Stunde zu mir hinaufzukommen?
Das Zimmer ist mir noch so fremd. Kein Wort klingt nach und keine
Erinnerung, denn ich habe darin noch mit niemandem gesprochen, und nichts
ist da, woran es mich erinnern könnte. Und vor den Fenstern schwanken des
Nachts schwarze Bäume."
Fabian sagte lauter, als er wollte: "Ich komme gern mit.
Schließen Sie nur auf." Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und
drehte um. Doch ehe sie die Tür aufschob, wandte sie sich noch einmal zu
ihm. "Ich bin sehr in Sorge, daß Sie mich mißverstehen." Er
drückte die Tür auf und schaltete die Treppenbeleuchtung ein. Dann ärgerte
er sich, daß er sich dadurch verraten haben könnte. Aber sie wurde
nicht stutzig, schloß hinter ihm ab und ging voraus. Er folgte und
amüsierte sich über die Heimlichkeit, mit der er heute dieses Haus betrat.
In welcher Etage mochte sie wohnen? Sie blieb tatsächlich vor der Tür seiner
Wirtin, vor der Tür der Witwe Hohlfeld, stehen und öffnete. Im Flur brannte
Licht. Zwei junge Mädchen in rosa Hemdhöschen spielten mit einem grünen
Luftballon Fußball. Sie erschraken und begannen vor Schreck zu
kichern. Fräulein Battenberg stand starr. Da ging die Toilettentür auf, und
Herr Dröger, der sinnliche Stadtreisende, erschien im Pyjama.
"Halten Sie Ihren Harem besser unter Verschluß", brummte Fabian.
Herr Dröger grinste, trieb die Mädchen in sein Serail und riegelte ab.
Fabian legte die Hand versehentlich auf die Klinke zu seinem eigenen Zimmer.
"Um Gottes willen", flüsterte Fräulein Battenberg. "Da wohnt jemand
anderes."
"Pardon", sagte Fabian und folgte ihr durch den Korridor in den letzten
Raum. Er legte Hut und Mantel aufs Sofa, sie hängte ihren Mantel in den
Schrank. "Eine fürchterliche Bude", sagte sie lächelnd. "Und achtzig Mark im
Monat."
"Ich zahle genausoviel", tröstete er. Nebenan wurde gelärmt.
Die Sprungfedern knirschten unwillig. "Die Nachbarschaft habe ich
gratis", meinte sie.
"Bohren Sie ein Loch in die Wand und verlangen Sie Eintritt."
"Ach, ich bin so froh", sie rieb sich die Hände wie vor einem Kamin.
"Wenn ich allein bin, wirkt dieser Salon noch viel häßlicher. Ich bin
Ihnen sehr dankbar. Wollen Sie sich mal die schaurigen Bäume anschauen?"
Sie traten ans Fenster. "Heute sind sogar die Bäume freundlicher",
stellte sie fest. Dann sah sie ihn an und murmelte: "Das macht, weil ich
sonst allein bin." Er zog sie behutsam an sich und gab ihr einen Kuß.
Sie küßte ihn wieder. "Nun wirst du denken, daß ich dich deshalb
bat, mitzukommen."
"Freilich denke ich das", gab er zur Antwort. "Aber du wußtest es
selber noch nicht."
Sie rieb ihre Wange an der seinen und blickte durchs Fenster. "Wie
heißt du eigentlich?" fragte er.
"Cornelia."
Als sie nebeneinander im Bett lagen, sagte er ehrlich bekümmert,
während er ihr mit den Händen übers Gesicht strich und dabei die Augen
schloß, um das Gepräge des Gesichts zu spüren: "Weißt du noch,
daß wir heute abend einmal in einem Atelier saßen, hinter
Göttinnen aus Gips, und daß du erzähltest, wie du die Männer für ihren
Egoismus bestrafen willst?"
Sie drückte lauter kleine Küsse auf seine Hände. Dann holte sie tief
Atem und antwortete: "An dem Vorsatz hat sich nichts geändert, wirklich
nicht. Aber mit dir mach ich eine Ausnahme. Mir ist ganz so, als ob ich dich
liebhabe."
Er setzte sich hoch. Aber sie zog ihn wieder zu sich herab. "Vorhin,
als wir uns umarmten, hab ich geweint", flüsterte sie. Und als sie sich
dessen erinnerte, traten ihr von neuem Tränen in die Augen, aber sie
lächelte unter diesen Tränen, und er war seit langem wieder einmal beinahe
glücklich. "Ich habe geweint, weil ich dich liebhabe. Aber daß ich
dich liebhabe, das ist meine Sache, hörst du? Und es geht dich nichts an. Du
sollst kommen und gehen, wann du willst. Und wenn du kommst, will ich mich
freuen, und wenn du gehst, will ich nicht traurig sein. Das verspreche ich
dir." Sie drängte sich an ihn und preßte ihren Körper an den seinen,
daß beiden der Atem verging.
"So", rief sie, "und jetzt hab ich Hunger!"
Er zog ein so verdutztes Gesicht, daß sie lachte.
Sie erklärte ihm die Sache. "Das ist so: wenn ich wen liebhabe, ich
meine, wenn mich jemand liebgehabt hat - aber du verstehst mich schon, ja?
-, dann habe ich hinterher immer fürchterlichen Hunger. Der Hunger hat nur
einen Haken. Ich habe nichts zu essen da. Ich konnte ja nicht wissen,
daß ich in dieser fürchterlichen Stadt so bald solchen Hunger bekäme."
Sie lag auf dem Rücken und lächelte die Zimmerdecke an, die Engelsköpfe aus
Stuck inbegriffen.
Fabian stand auf und meinte: "Da müssen wir eben einbrechen." Dann hob
er sie aus dem Bett, öffnete die Tür und zog die widerstrebende Cornelia in
den Korridor. Sie sträubte sich, aber er faßte sie unter, und sie
spazierten, Adam und Eva zum Verwechseln ähnlich, den Flur entlang, bis vor
Fabians Tür.
"Das ist ja entsetzlich", jammerte sie und wollte entfliehen. Aber er
drückte die Klinke nieder und transportierte das Mädchen in sein Zimmer. Sie
klapperte kläglich mit den Zähnen. Er machte Licht, verbeugte sich und
äußerte feierlich: "Herr Doktor Fabian erlaubt sich, Fräulein Doktor
Battenberg in seinen Gemächern willkommen zu heißen." Dann warf er
sich auf sein Bett und biß vor Vergnügen ins Kopfkissen.
"Nein!" sagte sie hinter ihm. "Das ist nicht möglich." Aber dann
glaubte sie es doch und begann Schuhplattler zu tanzen.
Er stand auf und sah ihr zu. "Du darfst dir nicht so laut hintendrauf
klatschen", erklärte er würdevoll.
"Das ist beim Schuhplattler nicht anders", meinte sie und tanzte
weiter, so echt und so laut es ging. Dann schritt sie gemessen zum Tisch,
setzte sich auf einen Stuhl, tat dabei, als ob sie ihr Kleid glattstriche,
obwohl sie, augenfällig genug, nichts Derartiges anhatte, und sagte: "Bitte,
die Speisekarte."
Er schleppte Teller, Messer, Gabel, Brot und Wurst und Keks herbei und
markierte, während sie aß, den aufmerksamen Oberkellner. Später
stöberte sie auf seinem Bücherbrett herum, klemmte sich Lektüre unter den
Arm, bot ihm den linken und befahl majestätisch: "Bringen Sie mich
unverzüglich in mein Appartement zurück."
Bevor sie das Licht auslöschten, verabredeten sie noch, daß sie
ihn am nächsten Morgen wecken solle. Man entschied sich dafür, daß sie
ihn, bis er munter sei, am Ohr zupfen werde. Abends wollten sie sich dann
wieder in der Wohnung treffen. Wer zuerst da wäre, würde neben seine
Türklinke ein Bleistiftkreuz kritzeln. Man nahm sich vor, die Witwe Hohlfeld
nach Möglichkeit nichts merken zu lassen.
Dann löschte Cornelia das Licht aus. Sie bettete sich neben ihn und
sagte: "Komm!" Er streichelte ihren Körper. Sie nahm seinen Kopf in ihre
Hände, preßte den Mund auf sein Ohr und flüsterte: "Komm! Was rief die
Selow? Es lebe der kleine Unterschied!"
ELFTES KAPITEL
Die Überraschung in der Fabrik
Der Kreuzberg und ein Sonderling
Das Leben ist eine schlechte Angewohnheit
Am anderen Morgen war Fabian schon eine Viertelstunde vor Bürobeginn an
der Arbeit. Er pfiff vor sich hin und überflog die Notizen zu dem
Preisausschreiben, das die Direktion von ihm erwartete.
Die Fabrik sollte dem Einzelhandel hunderttausend sehr billige
Sonderpackungen zugänglich machen. Die Schachteln sollten numeriert sein und
Zigaretten sechs verschie-dener Sorten ohne jeden Schriftaufdruck enthalten.
Die Käuferschaft sollte erraten, wieviel Zigaretten der sechs bekannten
Marken der Firma in der Packung enthalten wären. Wer eine billige Schachtel
erwarb, mußte, wenn er die Aufgabe lösen und einen der Preise gewinnen
wollte, notgedrungen je eine der sechs Spezialpackungen kaufen, die seit
langem im Handel waren, also sechs Packungen außer der billigen
Sonderschachtel. Wenn sich hunderttausend Interessenten fanden, konnten
automatisch sechshunderttausend andere Packungen, insgesamt
siebenhunderttausend Schachteln, umgesetzt werden. Dazu kam die allgemeine
Absatzsteigerung, die einem geschickt propagierten Kundenfang zu folgen
pflegt. Fabian begann eine Kalkulation aufzustellen.
Da erschien Fischer, rief: "Nanu?" und blickte dem Kollegen neugierig
über die Schulter.
"Der Entwurf fürs Preisausschreiben", sagte Fabian. Fischer zog das
graue Lüsterjackett an, das er im Büro trug, und fragte: "Darf ich Ihnen
nachher mal meine Zweizeiler zeigen?"
"Gern. Heute habe ich Sinn für Lyrik."
Da klopfte es. Der Hausbote Schneidereit, ein ältliches, wackliges
Faktotum, auch "der Erfinder des Plattfußes" geheißen, schob
sich ins Zimmer. Er legte mürrisch einen großen gelben Brief auf
Fabians Schreibtisch und entfernte sich wieder. Der Brief enthielt Fabians
Papiere, eine Anweisung an die Hauptkasse und ein kurzes Schreiben mit
diesem Inhalt:
"Sehr geehrter Herr, die Firma sieht sich veranlaßt, Ihnen unter
dem heutigen Tage die Kündigung auszusprechen. Das am Monatsende zahlbare
Gehalt wird Ihnen schon heute an der Kasse ausgefolgt werden. Wir haben uns
erlaubt, aus freien Stücken in der Anlage ein Zeugnis beizufügen, und wollen
auch an dieser Stelle gern bekunden, daß Sie für die propagandistische
Tätigkeit besonders qualifiziert erscheinen. Die Kündigung ist eine
bedauerliche Folge der vom Aufsichtsrat beschlossenen Senkung des
Reklamebudgets. Wir danken Ihnen für die dem Unternehmen geleistete Arbeit
und wünschen Ihnen für Ihr weiteres Fortkommen das Beste." Unterschrift.
Aus.
Fabian saß minutenlang, ohne sich zu rühren. Dann stand er auf,
zog sich an, steckte den Brief in den Mantel und sagte zu Fischer: "Auf
Wiedersehen. Lassen Sie sich's gutgehen."
"Wo wollen Sie denn hin?"
"Man hat mir eben gekündigt."
Fischer sprang auf. Er war grün im Gesicht. "Was Sie nicht sagen!
Mensch, da hab ich aber nochmal Glück gehabt!"
"Ihr Gehalt ist kleiner", meinte Fabian. "Sie dürfen bleiben."
Fischer trat auf den gekündigten Kollegen zu und drückte ihm mit
feuchter Hand sein Bedauern aus. "Na, zum Glück läßt Sie die Sache
kalt. Sie sind ein patenter Kerl, und zweitens haben Sie keine Frau am
Hals."
Plötzlich stand Direktor Breitkopf im Zimmer, zögerte, als er sah,
daß Fischer nicht allein war, und wünschte schließlich einen
guten Morgen.
"Guten Morgen, Herr Direktor", grüßte Fischer und verbeugte sich
zweimal. Fabian tat, als sehe er Breitkopf nicht, wandte sich dem Kollegen
zu und sagte: "Auf dem Schreibtisch liegt mein Preisausschreibenprojekt. Ich
vermache es Ihnen." Damit verließ Fabian seine Wirkungs-stätte und
holte sich an der Kasse zweihundertsiebzig Mark. Bevor er auf die
Straße trat, blieb er minutenlang im Tor stehen. Lastautos ratterten
vorbei. Ein Depeschenbote sprang vom Rad und eilte ins gegenüberliegende
Ge-bäude. Das Nebenhaus war von einem Gerüst vergittert. Maurer standen auf
den Laufbrettern und verputzten den grauen, bröckeligen Bewurf. Eine Reihe
bunter Möbelwagen bog schwerfällig in die Seitenstraße. Der
Depe-schenbote kam zurück, stieg hastig auf sein Rad und fuhr weiter. Fabian
stand im Torbogen, griff in die Tasche, ob das Geld noch drin sei, und
dachte: "Was wird mit mir?" Dann ging er, da er nicht arbeiten durfte,
spazieren.
Er lief kreuz und quer durch die Stadt, trank gegen Mittag, Hunger
hatte er nicht, bei Aschinger eine Tasse Kaffee und setzte sich von neuem in
Bewegung, obwohl er sich lieber traurig in den tiefen Wald verkrochen hätte.
Aber wo war hier ein tiefer Wald? Er lief und lief und rannte sich den
Kummer in den Stiefelsohlen ab. Auf der Belle-Alliance-Straße erkannte
er das Haus wieder, in dem er zwei Semester lang als Student gelebt hatte.
Es stand wie ein alter Bekannter da, den man lange nicht gesehen hat und der
verlegen abwartet, ob man ihn grüßen wird oder nicht. Fabian stieg die
Treppe hinauf und sah nach, ob die alte Geheimratswitwe noch immer hier
wohnte. Aber da war ein fremdes Schild an der Tür. Er kehrte um. Die alte
Dame war ganz weißhaarig und sehr schön gewesen. Er entsann sich des
regelmäßigen dummen Greisinnenge-sichts. Im Inflationswinter hatte er
kein Geld zum Heizen gehabt. Er hatte, im Mantel vergraben, dort oben
gehockt und an einem Vortrag über Schillers moralästhetisches System
gearbeitet. Sonntags war er gelegentlich von der alten Dame zum Mittagessen
eingeladen und über die familiären Vorgänge in ihrem umfangreichen
Bekannten-kreis aufgeklärt worden. Vorher, damals und heute, er war stets
ein armes Luder gewesen, und er hatte große Aussichten, eines zu
bleiben. Seine Armut war schon eine schlechte Angewohnheit, wie bei anderen
das Krummsit-zen oder das Nägelkauen.
Gestern nacht, bevor er einschlief, hatte er noch gedacht: Vielleicht
sollte man doch eine kleine Tüte Ehrgeiz säen in dieser Stadt, wo Ehrgeiz so
rasch Früchte trug; vielleicht sollte man sich doch ein wenig ernster nehmen
und in dem wackligen Weltgebäude, als ob alles in Ordnung sei, eine
lauschige Dreizimmerwohnung einrichten; vielleicht war es Sünde, das Leben
zu lieben und kein seriöses Verhältnis mit ihm zu haben. Cornelia, der
weibliche Referendar, hatte danebengelegen und ihm noch im Schlaf die Hand
gedrückt. Mitten in der Nacht, hatte sie ihm am Morgen berichtet, sei sie
zusammengefahren und erwacht. Denn er habe sich im Bett aufgesetzt und
energisch erklärt: "Ich werde die Annoncen leuchten lassen!" Dann sei er
wieder zurückgesunken.
Er stieg langsam auf das Plateau des Kreuzberges und setzte sich auf
eine Bank, die der Pflege des Publikums empfohlen war. Auf einem Schild
stand: "Bürger, schont eure Anlagen!" Der Magistrat hatte den
außerordentlich zweideutigen Satz unterschrieben, der Magistrat
mußte es wissen. Fabian betrachtete den riesigen Stamm eines Baumes.
Die Rinde war von tausend senkrechten Falten zerpflückt. Sogar die Bäume
hatten Sorgen. Zwei kleine Schüler gingen an der Bank vorbei. Der eine, der
die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt, fragte gerade empört: "Soll man
sich das gefallen lassen?" Der andere ließ sich mit der Antwort Zeit:
"Gegen die Bande kannst du gar nichts machen", meinte er schließlich.
Was sie weiter sprachen, war nicht mehr zu hören.
Von der anderen Seite des Platzes näherte sich eine merkwürdige
Gestalt: ein alter Herr, mit einem weißen Knebelbart und mit einem
schlechtgerollten Schirm. Statt eines Mantels trug er eine grünliche,
verschossene Pelerine, und der Kopf gipfelte in einem steifen grauen Hut,
der vor Jahren schwarz gewesen sein mochte. Der Pelerinen-träger steuerte
auf die Bank zu, ließ sich, eine Begrü-ßungsformel murmelnd,
neben Fabian nieder, hustete umständlich und zeichnete mit dem Schirm Kreise
in den Sand. Er machte einen der Kreise zu einem Zahnrad, brachte dessen
Mittelpunkt mit dem Zentrum eines ande-ren Kreises durch eine Gerade in
Verbindung, kompli-zierte die Skizze durch Kurven und Linien immer mehr,
schrieb Formeln daneben und darüber, rechnete, strich durch, rechnete von
neuem, unterstrich eine Zahl zweimal und fragte: "Verstehen Sie was von
Maschinen?"
"Bedaure", sagte Fabian. "Wer mich sein Grammophon aufziehen
läßt, kann sicher sein, daß es nie mehr funktio-niert.
Mechanische Feuerzeuge, mit denen ich mich befas-se, brennen nicht. Bis zum
heutigen Tage halte ich den elektrischen Strom, wie mir der Name zu
bestätigen scheint, für eine Flüssigkeit. Und wie es möglich ist, auf der
einen Seite geschlachtete Ochsen in elektrisch betrie-bene Metallgehäuse zu
sperren und auf der Rückseite Cornedbeef herauszudestillieren, werde ich
niemals be-greifen. - Übrigens erinnert mich Ihre Pelerine an meine
Internatszeit. Jeden Sonntag marschierten wir in solchen Pelerinen und mit
grünen Mützen nach der Martin-Luther-Kirche zum Gottesdienst. Während der
Predigt schliefen wir alle bis auf den, der die anderen wecken mußte,
wenn der Organist den Choral intonierte oder wenn der Hauslehrer auf die
Empore kam." Fabian blickte auf die Pelerine des Nachbarn und spürte, wie
dieses Kleidungsstück die Vergangenheit alarmierte. Er sah den blassen,
dicken Direktor vor sich, wie der jeden Morgen, zu Beginn der Andacht, bevor
er sich setzte und das Gesangbuch aufschlug, die Knie einknickte und mit der
Hand an die Hose faßte, um sich zu vergewissern, ob der sündige
Erdenrest noch anwesend sei. Und er sah sich selber abends durchs Tor der
Anstalt schleichen, durch die dämmerigen Straßen, an den Kasernen
vorbei, über den Exerzierplatz rennen, die Treppe eines Mietshauses
hin-aufjagen und auf eine Klingel drücken. Er hörte die zitternde Stimme
seiner Mutter hinter der Tür: "Wer ist denn draußen?" Und er hörte
sich, außer Atem, rufen: "Ich bin's, Mama! Ich wollte bloß mal
nachsehen, ob's dir heute besser geht."
Der alte Herr fuhr mit der Spitze seines schlechtgerollten Schirmes so
lange über den Sand, bis die Rechnung weggewischt war. "Vielleicht verstehen
Sie mich, da Sie von Maschinen nichts verstehen", sagte er. "Ich bin ein
sogenannter Erfinder, Ehrenmitglied von fünf wissen-schaftlichen Akademien.
Die Technik verdankt mir er-hebliche Fortschritte. Ich habe der
Textilindustrie dazu verholfen, pro Tag fünfmal soviel Tuch herzustellen als
früher. An meinen Maschinen haben viele Leute Geld verdient, sogar ich." Der
alte Herr hustete und zupfte sich nervös am Spitzbart. "Ich erfand
friedliche Maschi-nen und merkte nicht, daß es Kanonen waren. Das
konstante Kapital wuchs unaufhörlich, die Produktivität der Betriebe nahm
zu, aber, mein Herr, die Zahl der beschäftigten Arbeiter nahm ab. Meine
Maschinen waren Kanonen, sie setzten ganze Armeen von Arbeitern außer
Gefecht. Sie zertrümmerten den Existenzanspruch von Hunderttausenden. Als
ich in Manchester war, sah ich, wie die Polizei auf Ausgesperrte losritt.
Man schlug mit Säbeln auf ihre Köpfe. Ein kleines Mädchen wurde von einem
Pferd niedergetrampelt. Und ich war daran schuld." Der alte Herr schob den
steifen Hut aus der Stirn und hustete. "Als ich zurückkam, stellte mich
meine Familie unter Kuratel. Es paßte ihnen nicht, daß ich Geld
wegzuschenken begann und daß ich erklärte, ich wolle mit Maschinen
nichts mehr zu schaffen haben. Und dann ging ich fort. Sie haben zu leben,
sie wohnen in meinem Haus am Starnberger See, ich bin seit einem halben Jahr
ver-schollen. Vorige Woche las ich in der Zeitung, daß meine Tochter
ein Kind geboren hat. So bin ich nun Großvater geworden und laufe wie
ein Strolch durch Berlin."
"Alter schützt vor Klugheit nicht", sagte Fabian. "Leider sind nicht
alle Erfinder so sentimental."
"Ich dachte daran, nach Rußland zu fahren und mich zur Verfügung
zu stellen. Aber ohne Paß darf man nicht hinüber. Und wenn man meinen
Namen erfährt, hält man mich erst recht zurück. In meiner Brusttasche sind
Skizzen und Berechnungen für eine Webstuhlanlage, die alle bisherigen
Textilmaschinen in den Schatten stellt. Millionenwerte stecken in meiner
geflickten Tasche. Aber lieber will ich verhungern." Der alte Herr schlug
sich stolz an die Brust und hustete wieder. "Heute abend übernachte ich
Yorckstraße 93. Kurz bevor das Tor geschlossen wird, betrete ich das
Haus. Wenn der Portier fragt, wohin ich will, sage ich, ich besuche
Grünbergs. Die Leute wohnen in der vierten Etage. Der Mann ist
Oberpostschaffner. Ich steige hinauf. Ich gehe an der Wohnung der Familie
Grünberg vorbei und klettere zum Dachboden. Dort setze ich mich auf die
Treppe. Viel-leicht ist die Bodentür offen. Manchmal liegt gar eine alte
Matratze in irgendeiner Ecke. Morgen früh verschwinde ich dann wieder."
"Woher kennen Sie Grünbergs?"
"Aus dem Adreßbuch", antwortete der Erfinder. "Ich muß doch
einen Hausbewohner nennen können, falls sich der Portier nach meinen
Absichten erkundigt. Am näch-sten Morgen kommt der Schwindel häufig heraus.
Aber die jahrtausendealte Aufforderung, vor einem grauen Haupt aufzustehen
und die Alten zu ehren, hat Früchte getragen, bis zu den Portiers hinab.
Außerdem wechsle ich täglich meine Adresse. Im Winter erteilte ich an
einer Privatschule Physikunterricht. Es wurde leider ein Auf-klärungskurs
gegen die Wunder der Technik daraus. Das gefiel weder den Schülern noch dem
Direktor. Ich zog es vor, mich ein Vierteljahr lang in Postämtern zu wärmen.
Jetzt brauche ich die Postämter nicht mehr. Es ist warm. Jetzt sitze ich
stundenlang auf den Bahnhöfen und schaue den Menschen zu, die fortreisen,
ankommen und zurück-bleiben. Das ist alles sehr unterhaltend. Ich sitze da
und bin froh, daß ich lebe."
Fabian notierte seine Adresse und gab sie dem alten Mann. "Heben Sie
sich den Zettel gut auf. Und wenn Sie mal ein Portier vorzeitig von der
Stiege holt, kommen Sie zu mir. Sie können auf meinem Sofa schlafen." Der
alte Herr las den Zettel und fragte: "Was wird Ihre Wirtin dazu sagen?"
Fabian zuckte die Achseln.
"Wegen meines Hustens brauchen Sie sich nicht zu ängsti-gen", meinte
der Alte. "Wenn ich nachts in den dunklen Treppenhäusern sitze, huste ich
überhaupt nicht. Ich nehme mich dann zusammen, um die Hausbewohner nicht zu
erschrecken. Eine komische Lebensführung, was? Ich habe arm angefangen, ich
war später ein reicher Mann, ich bin jetzt wieder ein armer Teufel, es
spielt keine Rolle. Wie's kommt, wird's gefressen. Ob mich die Sonne auf
meiner Terrasse in Leoni bescheint oder hier auf dem Kreuzberg, das ist mir
so egal wie der Sonne." Der alte Herr hustete und streckte die Beine weit
von sich. Fabian stand auf und sagte, er müsse weiter.
"Was sind Sie eigentlich von Beruf?" fragte der Erfinder. "Arbeitslos",
erwiderte Fabian und schritt einer Allee zu, die in die Straßen
Berlins zurückführte.
Als er am Abend, taumelig von dem vielstündigen Marsch, die Wohnung
betrat, wollte er sofort zu Cornelia und ihr sein Malheur berichten. Schon
die bloße Vorstel-lung von der kommenden Szene rührte ihn tief.
Vielleicht hatte er auch Hunger.
Frau Hohlfeld, die Wirtin, vereitelte sein Vorhaben. Sie stand im
Korridor und flüsterte, unnötig geheimnisvoll, aber das war ihre Art, Labude
sei da. Labude saß in Fabians Zimmer und hatte offensichtlich
Kopfschmerzen. Er sei gekommen, sich zu entschuldigen, weil er gestern nacht
ohne Gruß den Tisch und das Lokal verlassen habe. Faktisch wollte er
etwas ganz anderes. Er wollte wissen, wie Fabian über die Sache mit der
Selow dachte.
Labude war ein moralischer Mensch, und es war immer schon sein Ehrgeiz
gewesen, seinen Lebenslauf ohne Konzept und ohne Fehler gleich ins reine zu
schreiben. Er hatte als Kind niemals Löschblätter bekritzelt. Sein Sinn für
Moral war eine Konsequenz der Ordnungsliebe. Die Hamburger Enttäuschung
hatte sein privates Ordnungs-system und in der Folge seine Moral lädiert.
Der seelische Stundenplan war gefährdet. Dem Charakter fehlte das Geländer.
Nun kam er, der die Ziele liebte und brauchte, zu Fabian, dem Fachmann der
Planlosigkeit. Er hoffte, von ihm zu lernen, wie man Unruhe erfahren und
trotz-dem ruhig bleiben kann.
"Du siehst schlecht aus", sagte Fabian.
"Ich habe die Nacht kein Auge zugemacht", gestand der Freund. "Diese
Selow ist schwermütig und ordinär, beides in einem Atem. Sie kann
stundenlang auf dem Diwan sitzen und Schweinereien vor sich hinmurmeln, als
bete sie eine Litanei. Es ist nicht zum Anhören. Alkohol trinkt sie in
solchen Mengen, daß man vom bloßen Zuschauen besoffen wird. Dann
fällt ihr wieder ein, daß sie mit einem Mann allein in der Wohnung
ist, und man möchte sich gegen Hagelschlag versichern. Dabei empfindet sie
bestimmt nicht wie eine normale Frau. Für lesbisch halte ich sie aber auch
nicht. Ich glaube, obwohl das komisch klingt, sie ist homosexuell." Fabian
ließ den Freund reden.
Und weil er sich über nichts wunderte, wurde der andere ruhig. "Morgen
fahre ich auf zwei Tage nach Frankfurt", erzählte Labude noch, bevor er sich
verabschiedete. "Rassow kommt auch hin, wir wollen dort eine Initiativgruppe
einrichten. Inzwischen mag das Mädchen in der Wohnung Nummer Zwei bleiben.
Ihr ist's in den letzten Monaten verdammt dreckig gegangen. Sie soll sich
mal ausschlafen. Auf Wiedersehen, Jakob." Dann ging er.
Fabian betrat Cornelias Zimmer. Was würde sie zu der Kündigung sagen?
Aber Ruth Reiter, die Bildhauerin, saß da, sah elend aus, war gar
nicht erstaunt, ihm hier zu begegnen, und resümierte, was sie der Battenberg
aus-führlich schon berichtet hatte. Die kleine Kulp war in die Charité
gebracht worden. Sie hatte innere Verletzungen davongetragen, und Wilhelmy,
der Todeskandidat mit dem Holzbein, lag seit gestern nacht im Atelier,
kriegte keine Luft, keuchte und beschäftigte sich mit dem Sterben.
Cornelia hatte ein paar Tassen, Teller und Bestecke aus ihrem Koffer
geholt, etwas zum Essen besorgt und den Tisch hübsch garniert. Sogar eine
weiße Decke und ein Blumenstrauß waren vorrätig. Die Reiter
sagte, sie gehe jetzt. Aber ehe sie es vergesse: ob denn niemand wisse, wo
der junge Labude wohne. Es war klar, daß sie nur deshalb gekommen war.
Sie hatte gehofft, von ihrer Schulfreundin Fabians Adresse und durch Fabian
Labudes Wohnung zu erfahren, da ihr das Personal der Grunewaldvilla keine
Auskunft hatte geben können. "Ich weiß, wo er wohnt", meinte Fabian.
"Außerdem hat er bis vor wenigen Minu-ten nebenan in meinem Zimmer
gesessen. Die Adresse darf ich nicht sagen."
"Er war hier?" rief die Bildhauerin. "Auf Wiedersehen!" Sie rannte
davon.
"Ihr fehlt die Selow", sagte Cornelia.
"Ihr fehlt die schlechte Behandlung", sagte Fabian.
"Mir nicht." Sie küßte ihn und zog ihn an den Tisch, daß er
ihre Vorbereitungen zum Abendessen bewundere.
"Gefällt dir das?" fragte sie.
"Großartig. Sehr schön. Sei übrigens so nett und sage mir immer,
wenn es etwas zum Bewundern gibt. Hast du etwa ein neues Kleid an? Kenne ich
diese Ohrringe schon? Trugst du auch gestern den Scheitel in der Mitte? Was
mir gefällt, merke ich nicht. Du mußt mich mit der Nase darauf
stoßen."
"Du hast nichts als Fehler", rief sie. "Jeden einzelnen deiner Fehler
könnte ich hassen, alle miteinander habe ich lieb." Während des Essens
erzählte sie, daß sie morgen ihren Posten antreten solle. Sie war
heute einer Reihe von Kollegen, Dramaturgen, Produktionsleitern und
Direk-toren vorgestellt worden und beschrieb das merkwürdige, weitläufige
Haus, in dem bis unters Dach wichtige Leute saßen, aus einer Konferenz
in die andere stürzten und der Entwicklung des Tonfilms das Leben sauer
machten. Fabian verschob die Mitteilung auf später. Als sie mit dem Essen
fertig waren, stellte sie einen Teller mit zwei belegten Broten beiseite und
sagte lächelnd: "Die eiserne Ration."
"Du bist rot geworden", rief er.
Sie nickte. "Manchmal merkst du also doch, wenn es etwas zum Bewundern
gibt."
Er schlug einen kleinen Spaziergang vor. Sie zog sich an. Er überlegte
inzwischen, wie er ihr die Kündigung bei-bringen wollte. Aber der
Spaziergang kam nicht zustande. Als sie vor dem Haus standen, hustete jemand
hinter ihnen, und ein fremder Mann wünschte guten Abend. Es war der Erfinder
mit der Pelerine. "Die Beschreibung, die Sie mir von Ihrem Sofa gegeben
haben, hat mir für heute den Spaß an sämtlichen Treppen und Dachböden
verdor-ben", erzählte er. "Ich habe um die Yorckstraße einen Bogen
gemacht und bin hierhergekommen. Eigentlich mache ich mir Vorwürfe,
daß ich Sie behellige, denn schließlich sind Sie selber
arbeitslos."
"Arbeitslos bist du?" fragte Cornelia. "Ist das wahr?" Der alte Herr
entschuldigte sich umständlich, er habe gedacht, die junge Dame wisse
Bescheid.
"Heute morgen hat man mir gekündigt." Fabian ließ Cornelias Arm
los. "Zum Abschied bekam ich zweihundertsiebzig Mark in die Hand gedrückt.
Wenn ich meine Miete vorausbezahlt habe, bleiben uns noch hundertneunzig
Mark. Gestern hätte ich darüber gelacht." Als sie den alten Herrn aufs Sofa
gepackt und ihm die Stehlampe danebengestellt hatten, denn er wollte an
seiner geheimen Maschine herumrechnen, wünschten sie ihm gute Nacht und
gingen in Cornelias Zimmer. Fabian kam noch einmal zurück und brachte dem
Gast ein paar belegte Brote.
"Ich verspreche, nicht zu husten", flüsterte der Alte.
"Hier darf gehustet werden. Ihr Zimmernachbar geht noch ganz anderen
Vergnügungen nach, ohne daß die Wirtin, eine gewisse Frau Hohlfeld,
die es früher nicht nötig gehabt hat, deshalb aus dem Bett kippte. Nur wie
wir's morgen früh machen, weiß ich noch nicht. Die Wirtin findet ihre
Möbel reizend, und daß ein Fremder die ganze Nacht auf ihrem Sofa
biwakiert, würde sie ernstlich erzürnen. Schlafen Sie gut. Ich wecke Sie
morgen früh. Bis dahin wird mir schon was Passendes einfallen."
"Gute Nacht, junger Freund", bemerkte der Alte und holte seine
kostbaren Papiere aus der Tasche. "Empfehlen Sie mich dem Fräulein Braut."
Cornelia schien so glücklich, daß Fabian sich wunderte. Eine
Stunde später fraß sie bereits die eiserne Ration auf. "Ach, ist das
Leben schön!" sagte sie. "Wie denkst du über die Treue?"
"Kau erst fertig, bevor du so große Worte aussprichst!" Er
saß neben ihr, hielt seine Knie umschlungen und blickte auf das
ausgestreckte Mädchen nieder. "Ich glaube, ich warte nur auf die Gelegenheit
zur Treue, und dabei dachte ich bis gestern, ich wäre dafür verdorben."
"Das ist ja eine Liebeserklärung", sagte sie leise. "Wenn du jetzt
heulst, zieh ich dir die Hosen stramm!" sagte er.
Sie kugelte aus dem Bett, zog ihren kleinen rosafarbenen Schlüpfer an
und stellte sich vor Fabian hin. Sie lächelte unter Tränen. "Ich heule",
murmelte sie. "Nun halte auch du dein Versprechen." Dann bückte sie sich. Er
zog sie aufs Bett. Sie sagte: "Mein Lieber, mein Lieber! Mach dir keine
Sorgen."
ZWÖLFTES KAPITEL
Der Erfinder im Schrank
Nicht arbeiten ist eine Schande
Die Mutter gibt ein Gastspiel
Als er am nächsten Morgen den Erfinder wecken wollte, war der schon
aufgestanden, gewaschen und angezogen, saß am Tisch und rechnete.
"Haben Sie gut geschlafen?"
Der alte Mann war vorzüglicher Laune und schüttelte ihm die Hand. "Das
geborene Schlafsofa", sagte er und streichelte die braune Sofalehne, als
handle sich's um einen Pferderücken. "Muß ich jetzt verschwinden?"
"Ich will Ihnen einen Vorschlag machen", meinte Fa-bian. "Während ich
bade, bringt die Wirtin das Früh-stück ins Zimmer, und da darf sie Ihnen
nicht begegnen, sonst gibt's Krach. Wenn sie wieder draußen ist, sind
Sie mir wieder willkommen. Dann können Sie ruhig noch ein paar Stunden
hierbleiben. Ich werde Sie allerdings allein lassen, weil ich mich um Arbeit
kümmern muß." "Das macht nichts", erklärte der Alte. "Ich werde in den
Büchern blättern, wenn Sie erlauben. Wohin gehe ich aber, während Sie
baden?"
"Ich dachte, in den Schrank", sagte Fabian. "Der Schrank als
Wohnstätte, das war bis heute ein Privileg der Ehebruchslustspiele. Brechen
wir mit der Tradition, verehrter Gastfreund! Ist Ihnen mein Vorschlag
ange-nehm?"
Der Erfinder öffnete den Schrank, blickte skeptisch hin-ein und fragte:
"Pflegen Sie sehr lange zu baden?" Fabian beruhigte ihn, schob den zweiten
Anzug, den er besaß, beiseite und hieß den Gast einsteigen. Der
alte Herr nahm seine Pelerine um, setzte den Hut auf, klemmte den Schirm
unter den Arm und kroch in den Schrank, der in allen Fugen krachte. "Und
wenn sie mich hier findet?"
"Dann ziehe ich am Ersten aus."
Der Erfinder stützte sich auf den Schirm, nickte und sagte: "Nun
scheren Sie sich in die Wanne!" Fabian schloß den Schrank zu, nahm
vorsichtshalber den Schlüssel an sich und rief im Korridor: "Frau Hohlfeld,
das Frühstück!" Als er das Badezimmer betrat, saß schon Cornelia, über
und über eingeseift, in der Wanne und lachte. "Du mußt mir den Rücken
abreiben", flüsterte sie. "Ich habe so entsetzlich kurze Ärmchen."
"Die Reinlichkeit wird mir zum Vergnügen", bemerkte Fabian und seifte
ihr den Rücken. Später vergalt sie ihm Gleiches mit Gleichem. Zum
Schluß saßen sich beide im Wasser gegenüber und spielten hohen
Seegang.
"Schrecklich", sagte er, "in meinem Schrank steht inzwi-schen der König
der Erfinder und wartet auf seine Befrei-ung. Ich muß mich beeilen."
Sie kletterten aus der Wan-ne und frottierten einander, bis die Haut
brannte. Dann trennten sie sich.
"Auf Wiedersehen am Abend", flüsterte sie.
Er küßte sie. Er verabschiedete sich von ihren Augen, von ihrem
Mund und Hals, von jedem Körperteil ein-zeln. Dann lief er in sein Zimmer.
Das Frühstück war eingetroffen. Er sperrte den Schrank auf. Der alte Herr
stieg mit steifen Beinen heraus und hustete lange, um das Versäumte
nachzuholen.
"Nun der zweite Teil der Komödie", sagte Fabian, ging in den Korridor,
öffnete die Flurtür, schlug sie wieder zu und rief: "Großartig, Onkel,
daß du mich mal besuchst. Tritt bitte näher!" Er komplimentierte die
imaginäre Person ins Zimmer und nickte dem verwunderten Erfin-der zu. "So,
nun sind Sie offiziell eingetroffen. Nehmen Sie Platz. Hier ist eine zweite
Tasse."
"Und Ihr Onkel bin ich außerdem."
"Verwandtschaftliche Beziehungen wirken auf Wirtinnen immer
schmerzstillend", erläuterte Fabian. "Aber der Kaffee ist gut. Darf ich mir
ein Brötchen nehmen?" Der alte Herr begann den Schrank zu verges-sen. "Wenn
ich nicht unter Kuratel stünde, machte ich Sie zu meinem Universalerben,
geehrter Herr Neffe", sagte er und aß mit großer Andacht.
"Ihr hypothetischer Antrag ehrt mich", entgegnete Fa-bian. Sie
stießen auf Drängen des neuen Onkels mit den Kaffeetassen an und
riefen: "Prost!"
"Ich liebe das Leben", gestand der Alte und wurde fast verlegen. "Ich
liebe das Leben erst recht, seit ich arm bin. Manchmal könnte ich vor Freude
in den Sonnenschein hineinbeißen, oder in die Luft, die in den Parks
weht. Wissen Sie, woran das liegt? Ich denke oft an den Tod, und wer tut das
heute? Niemand denkt an den Tod. Jeder läßt sich von ihm überraschen
wie von einem Eisenbahn-zusammenstoß oder einer anderen
unvorhergesehenen Katastrophe. So dumm sind die Menschen geworden. Ich denke
täglich an ihn, denn täglich kann er winken. Und weil ich an ihn denke,
liebe ich das Leben. Es ist eine herrliche Erfindung, in Erfindungen bin ich
sachver-ständig."
"Und die Menschen?"
"Der Globu