auml;chsten Krankenhaus zu bringen. Das Auto fuhr los. "Tut's sehr weh?" fragte Labude. "Es geht", antworteten die beiden Verwundeten gleichzeitig und musterten sich finster. "Volksverräter!" sagte der Nationalsozialist. Er war größer als der Arbeiter, etwas besser gekleidet und sah etwa wie ein Handlungsgehilfe aus. "Arbeiterverräter!" sagte der Kommunist. "Du Untermensch!" rief der eine. "Du Affe!" rief der andere. Der Kommis griff in die Tasche. Labude faßte sein Handgelenk. "Geben Sie den Revolver her!" befahl er. Der Mann sträubte sich. Fabian holte die Waffe heraus und steckte sie ein. "Meine Herren", sagte er. "Daß es mit Deutschland so nicht weitergehen kann, darüber sind wir uns wohl alle einig. Und daß man jetzt versucht, mit Hilfe der kalten Diktatur unhaltbare Zustände zu verewigen, ist eine Sünde, die bald genug ihre Strafe finden wird. Trotzdem hat es keinen Sinn, wenn Sie einander Reservelöcher in die entlegensten Körperteile schießen. Und wenn Sie besser getroffen hätten und nun ins Leichenschauhaus führen, statt in die Klinik, wäre auch nichts Besonderes erreicht. Ihre Partei", er meinte den Faschisten, "weiß nur, wogegen sie kämpft, und auch das weiß sie nicht genau. Und Ihre Partei", er wandte sich an den Arbeiter, "Ihre Partei..." "Wir kämpfen gegen die Ausbeuter des Proletariats", erklärte dieser, "und Sie sind ein Bourgeois." "Freilich", antwortete Fabian, "ich bin ein Kleinbürger, das ist heute ein großes Schimpfwort." Der Handlungsgehilfe hatte Schmerzen, saß, zur Seite geneigt, auf der heilen Sitzfläche und hatte Mühe, mit seinem Kopf nicht an den des Gegners zu stoßen. "Das Proletariat ist ein Interessenverband", sagte Fabian. "Es ist der größte Interessenverband. Daß ihr euer Recht wollt, ist eure Pflicht. Und ich bin euer Freund, denn wir haben denselben Feind, weil ich die Gerechtigkeit liebe. Ich bin euer Freund, obwohl ihr darauf pfeift. Aber, mein Herr, auch wenn Sie an die Macht kommen, werden die Ideale der Menschheit im verborgenen sitzen und weiterweinen. Man ist noch nicht gut und klug, bloß weil man arm ist." "Unsere Führer..." begann der Mann. "Davon wollen wir lieber nicht reden", unterbrach ihn Labude. Das Auto hielt. Fabian klingelte am Portal des Krankenhauses. Der Portier öffnete. Krankenwärter kamen und trugen die Verletzten aus dem Wagen. Der wachhabende Arzt gab den Freunden die Hand. "Sie bringen mir zwei Politiker?" fragte er lächelnd. "Heute nacht sind insgesamt neun Leute eingeliefert worden, einer mit einem schweren Bauchschuß. Lauter Arbeiter und Angestellte. Ist Ihnen auch schon aufgefallen, daß es sich meist um Bewohner von Vororten handelt, um Leute, die einander kennen? Diese politischen Schießereien gleichen den Tanzbodenschlägereien zum Verwechseln. Es handelt sich hier wie dort um Auswüchse des deutschen Vereinslebens. Im übrigen hat man den Eindruck, sie wollen die Arbeitslosenziffer senken, indem sie einander totschießen. Merkwürdige Art von Selbsthilfe." "Man kann es verstehen, daß das Volk erregt ist", meinte Fabian. "Ja, natürlich." Der Arzt nickte. "Der Kontinent hat den Hungertyphus. Der Patient beginnt bereits zu phantasieren und um sich zu schlagen. Leben Sie wohl!" Das Portal schloß sich. Labude gab dem Chauffeur Geld und schickte den Wagen weg. Sie gingen schweigend nebeneinander. Plötzlich blieb Labude stehen und sagte: "Ich kann jetzt noch nicht nach Hause gehen. Komm, wir fahren ms Kabarett der Anonymen." "Was ist das?" "Ich kenne es auch noch nicht. Ein findiger Kerl hat Halbverrückte aufgelesen und läßt sie singen und tanzen. Er zahlt ihnen ein paar Mark, und sie lassen sich dafür vom Publikum beschimpfen und auslachen. Wahrscheinlich merken sie es gar nicht. Das Lokal soll sehr besucht sein. Das ist ja auch verständlich. Es gehen sicher Leute hin, die sich darüber freuen, daß es Menschen gibt, die noch verrückter sind als sie selber." Fabian war einverstanden. Er blickte noch einmal zum Krankenhaus zurück, über dem der Große Bär funkelte. "Wir leben in einer großen Zeit", sagte er, "und sie wird jeden Tag größer." SIEBENTES KAPITEL Verrückte auf dem Podium Die Todesfahrt von Paul Müller Ein Fabrikant in Badewannen Vor dem Kabarett parkten viele Privatautos. Ein rotbärtiger Mann, der einen Pleureusenhut trug und eine riesige Hellebarde hielt, lehnte an der Tür des Lokals und rief: "Immer herein in die Gummizelle!" Labude und Fabian traten ein, gaben die Garderobe ab und fanden nach langem Suchen in dem überfüllten, verqualmten Raum an einem Ecktisch Platz. Auf der wackligen Bühne machte ein zwecklos vor sich hinlächelndes Mädchen Sprünge. Es handelte sich offenbar um eine Tänzerin. Sie trug ein giftgrünes selbstge-schneidertes Kleid, hielt eine Ranke künstlicher Blumen und warf sich und die Ranke in regelmäßigen Zeitabständen in die Luft. Links von der Bühne saß ein zahnloser Greis an einem verstimmten Klavier und spielte die Ungarische Rhapsodie. Ob der Tanz und das Klavierspiel miteinander in Beziehung standen, war nicht ersichtlich. Das Publikum, ausnahmslos elegant gekleidet, trank Wein, unterhielt sich laut und lachte. "Fräulein, Sie werden dringend am Telefon verlangt!" schrie ein glatzköpfiger Herr, der mindestens Generaldirektor war. Die anderen lachten noch mehr als vorher. Die Tänzerin ließ sich nicht aus der Ruhe bringen und fuhr fort zu lächeln und zu springen. Da hörte das Klavierspiel auf. Die Rhapsodie war zu Ende. Das Mädchen auf der Bühne warf dem Klavierspieler einen bösen Blick zu und hüpfte weiter, der Tanz war noch nicht aus. "Mutter, dein Kind ruft!" kreischte eine Dame, die ein Monokel trug. "Ihr Kind auch", bemerkte jemand von einem entfernten Tisch. Die Dame drehte sich um. "Ich habe keine Kinder." "Da können Sie aber lachen!" rief man aus dem Hintergrund. "Ruhe!" brüllte jemand anders. Der Wortwechsel hörte auf. Das Mädchen tanzte noch immer, obwohl ihr längst die Beine wehtun mußten. Schließlich fand sie selber, es sei genug, landete in einem mißlungenen Knicks, lächelte noch alberner als vorher und breitete die Arme aus. Ein dicker Herr im Smoking stand auf. "Gut, sehr gut! Sie können morgen zum Teppichklopfen kommen!" Das Publikum lärmte und klatschte. Das Mädchen knickste wieder und wieder. Da kam ein Mann aus der Kulisse, zog die Tänzerin, die sich heftig sträubte, von der Bühne und trat selber an die Rampe. "Bravo, Caligula!" rief eine Dame aus der ersten Tischreihe. Caligula, ein rundlicher junger Jude mit Hornbrille, wandte sich an den Herrn, der neben der Ruferin saß. "Ist das Ihre Frau?" fragte er. Der Herr nickte. "Dann sagen Sie Ihrer Frau, sie soll die Schnauze halten!" sagte Caligula. Man applaudierte. Der Mann m der ersten Tischreihe wurde rot. Seine Frau fühlte sich geschmeichelt. "Ruhe, ihr Armleuchter!" rief Caligula und hob die Hände. Es wurde ruhig. "War die Tanzdarbietung nicht geradezu ein Erlebnis?" "Jawohl", brüllten alle. "Aber es kommt noch besser. Jetzt schicke ich einen heraus, der Paul Müller heißt. Er ist aus Tolkewitz. Das liegt in Sachsen. Paul Müller spricht sächsisch und gibt vor, Rezitator zu sein. Er wird Ihnen eine Ballade vortragen. Machen Sie sich auf das Äußerste gefaßt. Paul Müller aus Tolkewitz ist, wenn nicht alles täuscht, verrückt. Ich habe keine Kosten gescheut, diese wertvolle Kraft für mein Kabarett zu gewinnen. Denn ich kann es nicht dulden, daß nur im Zuschauerraum Verrückte sind." "Das geht entschieden zu weit!" rief ein Besucher, dessen Gesicht mit Schmißnarben verziert war. Er war aufgesprungen und zog sich empört das Jackett straff. "Hin-setzen!" sagte Caligula und verzog den Mund. "Wissen Sie, was Sie sind? Ein Idiot!" Der Akademiker rang nach Luft. "Im übrigen", fuhr der Kabarettinhaber fort, "im übrigen meine ich Idiot nicht in beleidigendem Sinn, sondern als Charakteristikum." Die Leute lachten und klatschten. Der Herr mit den Schmissen und der Empörung wurde von seinen Bekannten auf den Stuhl gezogen und beschwichtigt. Caligula nahm eine Klingel in die Hand, schellte wie ein Nachtwächter und rief: "Paul Müller, erscheine!" Dann ver-schwand er. Aus dem Hintergrund nahte ein langaufgeschossener, ungewöhnlich blasser Mensch in abgerissener Kleidung. "Tag, Müller!" brüllte man. "Er ist zu schnell gewachsen", meinte jemand. Paul Müller verbeugte sich, zeigte herausfordernden Ernst im Gesicht, fuhr sich durch die Haare und preßte dann die Hände vor die Augen. Er sammelte sich. Plötzlich zog er die Hände vom Gesicht fort, streckte sie weit von sich, spreizte die Finger, riß die Augen auf und sagte: "Die Todesfahrt von Paul Müller." Dann trat er noch einen Schritt vor. "Fall nicht runter!" rief die Dame, der von Caligula eigentlich befohlen worden war, die Schnauze zu halten. Paul Müller machte aus Trotz noch ein Schrittchen, blickte verächtlich auf das Publikum da unten und begann wieder: "Die Todesfahrt von Paul Müller." "Das war der Graf von Hohenstein. Der sperrte seine Tochter ein. Sie liebte einen Offizier. Der Vater sprach: "Du bleibst bei mir"!" In diesem Augenblick warf jemand aus dem Publikum ein Stück Würfelzucker auf die Bühne. Paul Müller bückte sich, steckte den Zucker ein und fuhr mit unheilschwangerer Stimme fort: "Da half nur Flucht, und die Komteß entfloh in ihrem zehn PS. Sie steuerte durch Nacht und Not. Doch auf dem Kühler saß der Tod!" Wieder warf man Zucker auf die Bühne. Vermutlich saßen Stammgäste in dem Raum, die den Gewohnheiten der Künstler Rechnung trugen. Andere Gäste folgten dem Beispiel, und allmählich kam ein Würfelzuckerbombardement zustande, dem Müller dadurch zu begegnen wußte, daß er sich dauernd bückte. Es entwickelte sich ein Balladenvortrag mit Kniebeugen. Auch mit aufgerissenem Mund versuchte Müller, den ihm zufliegenden Zucker aufzufangen. Sein Gesicht wurde immer drohender. Seine Stimme klang immer schwärzer. Man entnahm der Rezitation, daß in jener schrecklichen Nacht nicht nur die Komteß Hohenstein Auto fuhr, um zu ihrem Offizier zu gelangen, sondern daß auch der Geliebte in seinem Wagen unterwegs war und sich dem Schloß näherte, wo er das Fräulein vermutete, während sie ihm doch entgegeneilte. Da die zwei Liebenden die gleiche Landstraße benutzten, da es sich ferner um eine ausgesprochen regnerische, neblige Nacht handelte, und da das Gedicht "Todesfahrt" hieß, war mit großer Wahrscheinlichkeit zu befürchten, daß die beiden Autos zusammen-stoßen würden. Paul Müller beseitigte auch den letzten Zweifel darüber. "Mach den Mund zu, sonst fallen dir die Sägespäne aus dem Schädel!" brüllte eine Stimme. Aber das Autounglück war nicht mehr aufzuhalten. "Das Auto jenes Offiziers kam links gefahren, rechts kam ihrs. Der Nebel war entsetzlich dick. Und so vollzog sich das Geschick. Von links ein Schrei, von rechts ein Schrei - " "Das macht nach Adam Riese zwei!" schrie jemand. Die Leute johlten und klatschten. Sie hatten von Paul Müller genug und waren auf den Ausgang der Tragödie nicht länger neugierig. Er deklamierte weiter. Aber man sah nur, daß er den Mund bewegte. Zu hören war nichts, die Todesfahrt ging im Lärm der Überlebenden unter. Da packte den dürren Balladendichter die blasse Wut. Er sprang vom Podium und rüttelte die Dame derartig an den Schultern, daß ihr die Zigarette aus dem Mund und in den blauseidenen Schoß fiel. Sie sprang schreiend auf. Ihr Begleiter erhob sich ebenfalls und schimpfte. Es klang, als belle ein Hund. Paul Müller gab dem Kavalier einen Stoß, daß er in den Stuhl zurücktaumelte. Da tauchte Caligula auf. Er war wütend und glich einem knirschenden Tierbändiger, zog den Mann aus Tolkewitz an der Krawatte und führte ihn ins Künstler-zimmer. "Pfui Teufel", sagte Labude, "unten Sadisten und oben Verrückte." "Dieser Sport ist international", meinte Fabian, "in Paris gibt es dieselbe Sache. Dort schreien die Zuschauer: "Tue-le!" und dann schiebt sich eine riesengroße hölzerne Hand aus der Kulisse und schaufelt den Ärmsten aus dem Gesichtskreis. Er wird weggefegt!" "Caligula nennt sich der Bursche. Er kennt sich aus. Sogar in der römischen Geschichte." Labude stand auf und ging. Er hatte genug. Auch Fabian erhob sich. Da schlug ihn jemand derb auf die Schulter. Er drehte sich um. Der Mann strahlte über das ganze Gesicht und rief vergnügt: "Alter Junge, wie geht's dir denn?" "Danke, gut." "Nein, wie ich mich freue, dich altes Haus mal wiederzusehen!" Der Akademiker gab Fabian einen Freuden-stoß vor den Brustkasten, genau auf einen der Hemdknöpfe. "Kommen Sie", meinte Fabian, "prügeln wir uns draußen weiter!" Dann drängte er sich, zwischen Stühlen hindurch, in den Vorraum. "Mein Lieber", sagte er zu Labude, der sich den Mantel anzog, "wir wol-len schnell machen. Eben hat mich einer ununterbrochen geduzt." Sie nahmen die Hüte. Aber es war schon zu spät. Der Mann mit den Schmissen schob eine sommersprossige Frau vor sich her, als könne sie nicht allein laufen, und sagte zu ihr: "Siehst du, Meta, der Herr war auf dem Pennal unser Primus." Und zu Fabian sagte er: "Das ist meine Frau, alter Knabe. Meine bessere Hälfte gewissermaßen. Wir leben in Remscheid. Ich habe den Assessor an den Nagel gehängt und bin im Geschäft meines Schwiegervaters. Wir machen Badewannen. Wenn du mal eine brauchen solltest, kannst du sie zum Engrospreis haben! Haha! Ja, es geht mir gut. Danke, glückliche Ehe, Wohnung in einem Zweifamilienhaus, großer Garten dahinter, nicht ganz ohne Bargeld, Kind haben wir auch, aber noch nicht lange." "Es ist erst so groß", entschuldigte sich Meta und zeigte mit den Händen, wie klein das Kind war. "Es wird schon noch wachsen", tröstete Labude. Die Frau blickte ihn dankbar an und hängte sich bei ihrem Mann ein. "Also, alter Schwede", fing der Akademiker wieder an, "nun erzähle mal, was du die ganze Zeit über gemacht hast." "Nichts Besonderes", bemerkte Fabian. "Augenblicklich bastle ich an einer Weltraumrakete. Ich will mir mal den Mond ansehen." "Ausgezeichnet", rief der Mann, der in die Badewannen eingeheiratet hatte. "Deutschland allen voran! Und wie geht's deinem Bruder?" "Sie überschütten mich mit frohen Neuigkeiten, mein Herr", sagte Fabian. "Ein Brüderchen habe ich mir schon lange gewünscht. Nur eine bescheidene Zwischenfrage: Wo sind Sie eigentlich aufs Gymnasium gegangen?" "In Marburg natürlich." Fabian hob bedauernd die Schultern. "Es soll eine bezaubernde Stadt sein, aber ich kenne Marburg leider gar nicht." "Dann entschuldigen Sie vielmals", knarrte der andere. "Kleine Verwechslung, täuschende Ähnlichkeit, nichts für ungut." Er knallte die Absätze zusammen, befahl: "Komm, Meta!" und entfernte sich. Meta blickte Fabian verlegen an, nickte Labude zu und folgte dem Gemahl. "So ein dämlicher Affe!" Fabian war entrüstet. "Spricht wildfremde Leute an und tut familiär. Ich habe diesen Caligula im Verdacht, daß die Anpöbelei zu seiner Kabarettregie gehört." "Das glaube ich nicht", meinte Labude. "Die Badewannen waren sicher echt, und das entsetzlich kleine Kind auch." Sie gingen heimwärts. Labude schaute trübselig aufs Pflaster. "Es ist eine Schande", sagte er nach einer Weile. "Dieser gewesene Assessor hat eine Wohnung, einen Garten, einen Beruf, eine Frau mit Sommersprossen und was noch alles. Und unsereins vegetiert herum wie ein Landstreicher ohne Land, man hat noch keinen festen Beruf, man hat kein festes Einkommen, man hat kein festes Ziel und nicht mal eine feste Freundin." "Du hast doch Leda." "Und was mich besonders aufbringt", fuhr Labude fort, "so ein Kerl hat ein eigenes, selbstgemachtes Kind." "Sei nicht neidisch", sagte Fabian, "dieser juristisch vorgebildete Badewannenfabrikant ist ein Ausnahmefall. Wer von den Leuten, die heute dreißig Jahre alt sind, kann heiraten? Der eine ist arbeitslos, der andere verliert morgen seine Stellung. Der dritte hat noch nie eine gehabt. Unser Staat ist darauf, daß Generationen nachwachsen, momentan nicht eingerichtet. Wem es dreckig geht, der bleibt am besten allein, statt Frau und Kind an seinem Leben proportional zu beteiligen. Und wer trotzdem andere mit hineinzieht, der handelt mindestens fahrlässig. Ich weiß nicht, von wem der Satz stammt, daß geteiltes Leid halbes Leid sei, aber wenn der Quatschkopf noch leben sollte, dann wünsche ich ihm zweihundert Mark monatlich und eine achtköpfige Familie. Da soll er sein Leid so lange durch acht dividieren, bis er schwarz wird." Fabian sah den Freund von der Seite an. "Übrigens, wozu bedrückt dich das? Dein Vater gibt dir doch Geld. Und wenn du die Venia legendi hast, wirst du noch ein paar Groschen dazuverdienen. Dann heiratest du Leda, und deinen Vaterfreuden steht nichts mehr im Wege." "Es gibt ja auch andere Schwierigkeiten außer den ökonomischen", sagte Labude, blieb stehen und winkte einem Taxi. "Sei mir nicht böse, wenn ich jetzt allein sein will. Kannst du mich morgen bei meinen Eltern abholen? Ich muß dir verschiedenes erzählen." Er drückte dem Freund etwas in die Hand und stieg in den wartenden Wagen. "Handelt es sich um Leda?" fragte Fabian durchs offene Fenster. Labude nickte und senkte den Kopf. Das Auto fuhr an. Der andere blickte dem Wagen nach. "Ich komme!" rief er. Doch das Auto war schon weit weg, und das rote Schlußlicht konnte ein Glühwürmchen sein. Dann besann er sich und stellte fest, was er in der Hand hielt. Es war ein Fünfzigmarkschein. ACHTES KAPITEL Studenten treiben Politik Labude sen. liebt das Leben Die Ohrfeige an der Außenalster Labudes Eltern bewohnten im Grunewald einen großen griechischen Tempel. Eigentlich war es kein Tempel, sondern eine Villa. Und eigentlich bewohnten sie die Villa gar nicht. Die Mutter war viel auf Reisen, meist im Süden, in einem Landhaus bei Lugano. Erstens gefiel es ihr am Lago di Lugano besser als am Grunewaldsee. Und zweitens fand Labudes Vater, die zarte Gesundheit seiner Frau erfordere südlichen Aufenthalt. Er liebte seine Frau sehr, besonders in ihrer Abwesenheit. Seine Zuneigung wuchs im Quadrat der Entfernung, die zwischen ihnen lag. Er war ein bekannter Verteidiger. Da seine Klienten viel Geld und viele Prozesse hatten, hatte auch er viele Prozesse und viel Geld. Die Aufregungen des Berufs, den er liebte, genügten ihm nicht. Fast jede Nacht saß er in Spielklubs. Die Ruhe, die sein Haus verbreitete, war ihm höchst zuwider. Und die vorwurfsvollen Augen seiner Frau brachten ihn zur Verzweiflung. Da beide befürchteten, den anderen anzutreffen, mieden beide die Villa, sooft das möglich war. Und Stephan, der Sohn, mußte, wenn er seinen Eltern begegnen wollte, auf die Gesellschaften gehen, die sie im Winter gaben. Da ihn diese Veranstaltungen von Jahr zu Jahr mehr abstießen, bis er sie endlich nicht mehr besuchte, traf er seine Eltern nur noch aus Versehen. Das meiste, was er über den Vater wußte, hatte er einmal von einer jungen Schauspielerin erfahren. Das war auf einem Maskenball gewesen, und sie hatte ihm sehr eingehend den Mann geschildert, der sie damals finanzierte. Leichtfertige Frauen versuchen ja gelegentlich, Liebhaber zu erwerben, indem sie die intimen Sitten und Gebräuche der ehemaligen Besitzer ausplauderten. Im Laufe des Gesprächs hatte es sich herausgestellt, daß von Justizrat Labude die Rede gewesen war, und Stephan hatte das Fest fluchtartig verlassen. Fabian kam nicht gern m die Grunewaldvilla. Er empfand den Aufwand, den solche Häuser mit sich treiben lassen, als albern. Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, daß man mitten in derartigem Luxus das Gefühl, man sei nur auf Besuch, jemals loswerden könne. Und er fand es, von allen anderen Gründen abgesehen, schon deshalb vollkommen in Ordnung, daß sich Labudes Eltern in dem Wohnmuseum entfremdet hatten. "Schrecklich", sagte er zu dem Freund, der am Schreibtisch saß, "jedesmal, wenn ich hierher komme, erwarte ich, daß mir euer Diener Filzpantoffeln überzieht und mit einer Schloßführung beginnt. Falls du mir erzählen solltest, daß der Große Kurfürst auf diesem Stuhl hier in die Schlacht von Fehrbellin geritten ist, könnte ich mich bereit erklären, es zu glauben. Im übrigen danke ich dir für das Geld." Labude winkte ab. "Du weißt, daß ich mehr davon habe, als notwendig ist. Lassen wir das. Ich bat dich hierher, weil ich dir erzählen will, was mir in Hamburg passiert ist." Fabian stand auf und setzte sich aufs Sofa. Jetzt befand er sich hinter Labudes Rücken, und der Freund brauchte ihn während des Sprechens nicht anzusehen. Sie blickten beide zum Fenster hinaus, auf grüne Bäume und auf rote Villendächer. Das Fenster war offen, und manchmal kam ein Vogel, spazierte auf dem Fensterbrett hin und her, musterte mit schiefgehaltenem Kopf das Zimmer und flog wieder in den Garten zurück. Außerdem hörte man, wie jemand mit einem Rechen die Kieswege harkte. Labude sah starr in die Zweige des nächsten Baumes. "Rassow schrieb mir, er spräche im Hamburger Auditorium Maximum, vor Studenten aller Richtungen, über das Thema "Tradition und Sozialismus". Und er schlug mir vor, als Korreferent oder im Rahmen der Diskussion von meinen politischen Plänen zu erzählen. Ich fuhr hinüber. Der Vortrag begann. Rassow berichtete den Studenten von seiner Rußlandreise und von seinen Erfahrungen und Gesprächen mit russischen Künstlern und Wissenschaftlern. Er wurde von den Vertretern der sozialistischen Studentenschaft wiederholt unterbrochen. Anschließend sprach ein Kommunist und wurde seinerseits von den Bürgerlichen gestört. Dann kam ich an die Reihe. Ich skizzierte die kapitalistische Situation Europas und stellte die Forderung auf, daß die bürgerliche Jugend sich radikalisieren und daß sie den kontinentalen Ruin, der von allen Seiten, passiv oder aktiv, vorbereitet wird, aufhalten müsse. Diese Jugend, sagte ich, sei im Begriff, in absehbarer Zeit die Führerschaft in Politik, Industrie, Grundbesitz und Handel zu übernehmen, die Väter hätten abgewirtschaftet, und es sei unsere Aufgabe, den Kontinent zu reformieren: durch freiwillige Kürzung des privaten Profits, durch Zurückschraubung des Kapitalismus und der Technik auf ihre vernünftigen Maße, durch Steigerung der sozialen Leistungen, durch kulturelle Vertiefung der Erziehung und des Unterrichts. Ich sagte, diese neue Front, diese Querverbindung der Klassen sei möglich, da die Jugend wenigstens die Elite, den hemmungslosen Egoismus verabscheue und außerdem klug genug sei, eine Zurückführung in organische Zustände einem unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems vorzuziehen. Wenn es schon ohne Klassenherrschaft nicht abgehe, sagte ich, dann solle man sich für das Regime unserer Altersklasse entscheiden. Bei den Vertretern der extremen Gruppen erntete mein Vortrag die übliche Heiterkeit. Aber als Rassow den Antrag zur Bildung einer radikal-bürgerlichen Initiative einbrachte, fand das doch Beifall. Die Gruppe kam zustande. Wir entwarfen einen Aufruf, der an alle europäischen Universitäten verschickt werden wird. Rassow, ich und ein paar andere wollen die deutschen Hochschulen besuchen, Vorträge halten und analoge Gruppen bilden. Wir hoffen, mit den sozialistischen Studenten eine Art Kartellverbindung einzugehen. Wenn wir an allen Universitäten Gruppen gebildet haben, werden von diesen auch andere intellektuelle Körperschaften bearbeitet. Die Sache kommt in Gang. Ich habe dir gestern nichts davon erzählt, weil ich ja deine Skepsis zur Genüge kenne." "Ich freue mich", sagte Fabian, "ich freue mich sehr, daß du nun an die Verwirklichung deines Planes herangehen kannst. Hast du dich schon mit der Gruppe der unabhängigen Demokraten in Verbindung gesetzt? In Kopenhagen ist ein "Club Europa" gebildet worden, notiere es dir. Und ärgere dich nicht zu sehr über meine Zweifel an der Gutartigkeit der Jugend. Und sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, daß sich Vernunft und Macht jemals heiraten werden. Es handelt sich leider um eine Antinomie. Ich bin der Überzeugung, daß es für die Menschheit, so wie sie ist, nur zwei Möglichkeiten gibt. Entweder ist man mit seinem Los unzufrieden, und dann schlägt man einander tot, um die Lage zu verbessern, oder man ist, und das ist eine rein theoretische Situation, im Gegenteil mit sich und der Welt einverstanden, dann bringt man sich aus Langeweile um. Der Effekt ist derselbe. Was nützt das göttliche System, solange der Mensch ein Schwein ist? Aber was meinte Leda dazu?" "Sie enthielt sich jeder Meinung. Denn sie war gar nicht dabei." "Warum denn nicht?" "Sie wußte nicht, daß ich in Hamburg war." Fabian erhob sich erstaunt, setzte sich aber schweigend wieder hin. Labude breitete die Arme aus und hielt sich an den Ecken der Schreibtischplatte fest. "Ich wollte Leda überraschen. Ich wollte sie heimlich beobachten. Denn ich war mißtrauisch geworden. Wenn man in jedem Monat nur zwei Tage und eine Nacht beisammen ist, dann wird die Beziehung unterminiert, und wenn so ein Zustand, wie bei uns, jahrelang dauert, geht die Beziehung in die Brüche. Das hat mit der Qualität der Partner nicht sehr viel zu tun, der Vorgang ist zwangsläufig. Ich machte dir vor Monaten einmal Andeutungen, daß Leda sich verändert habe. Sie fing an, sich zu verstellen. Sie markierte. Die Begrüßung auf dem Bahnhof, die Zärtlichkeit des Gesprächs, die Leidenschaft im Bett, alles war nur noch Theater." Labude hob den Kopf kerzengerade. Er sprach sehr leise. "Natürlich entfremdet man sich. Man weiß nicht mehr, welche Sorgen der andere hat. Man kennt die Bekannten nicht, die er findet. Man sieht nicht, daß er sich verwandelt, und weswegen er's tut. Briefe sind zwecklos. Und dann reist man hin, gibt sich einen Kuß, geht ins Theater, fragt nach Neuigkeiten, verbringt eine Nacht miteinander und trennt sich wieder. Vier Wochen später vollzieht sich derselbe Unfug. Seelische Nähe, anschließend Geschlechtsverkehr nach dem Kalender, mit der Uhr in der Hand. Es ist unmöglich, sie in Hamburg, ich in Berlin, die Liebe krepiert an der Geographie." Fabian nahm eine Zigarette und strich das Zündholz behutsam an, als fürchte er, der Reibfläche weh zu tun. "Ich habe in den letzten Monaten vor jeder dieser Zusammenkünfte Angst gehabt. Ich hätte Leda, wenn sie mit geschlossenen Augen dalag, sich zitternd unter mir bewegte und mich mit den Armen umklammerte, das Gesicht wie eine Maske abreißen mögen. Sie log. Aber wen wollte sie belügen? Nur mich, oder sich selber auch? Da sie, obwohl ich sie brieflich wiederholt dazu aufforderte, Erklärungen vermied, mußte ich tun, was ich tat. Ich verabschiedete mich in der Nacht, in der wir die Initiativgruppe gegründet hatten, von Rassow und den anderen sehr bald und begab mich zu dem Haus, in dem Leda wohnt. Die Fenster waren dunkel. Vielleicht schlief sie schon. Aber mir war nicht nach Logik zumute. Ich wartete." Labudes Stimme schwankte. Er griff auf den Schreibtisch, nahm mehrere Bleistifte und rollte sie nervös zwischen den Händen. Das hölzerne, klappernde Geräusch begleitete den Fortgang des Berichts. "Die Straße ist breit und nur an einer Stelle bebaut. Die andere Seite grenzt an Blumenbeete, Wiesen, Wege und Gebüsch, und dahinter liegt die Außenalster. Dem Haus gegenüber steht eine Bank. Dorthin setzte ich mich, rauchte zahllose Zigaretten und wartete. So oft jemand die Straße entlang kam, dachte ich, das müsse Leda sein. So saß ich von zwölf Uhr nachts bis drei Uhr morgens, ersann heftige Gespräche und böse Bilder. Und die Zeit verging. Kurz nach drei bog ein Taxi in die Straße und hielt vor dem Haus. Ein großer schlanker Mann stieg aus und bezahlte den Chauffeur. Dann sprang eine Frau aus dem Wagen, eilte zur Tür, schloß auf, trat ins Haus, hielt die Tür, bis der Mann gefolgt war, und schloß von innen wieder zu. Das Auto fuhr in die Stadt zurück." Labude war aufgestanden. Er warf die Bleistifte auf den Schreibtisch, ging rasch im Zimmer auf und ab und machte in der äußersten Ecke, dicht vor der Wand, halt. Er blickte auf das Tapetenmuster und zeichnete es mit dem Finger nach. "Es war Leda. In ihren Fenstern wurde Licht. Ich sah, wie sich zwei Schatten hinter den Gardinen bewegten. Das Wohnzimmer wurde wieder dunkel. Jetzt erhellte sich das Schlafzimmer. Die Balkontür stand halb offen. Manchmal hörte ich Leda lachen. Du entsinnst dich, sie lacht so merkwürdig hoch. Manchmal war es ganz still, droben im Haus und unten auf meiner Straße, und ich hörte bloß, wie mein Herz schlug." In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen. Justizrat Labude trat ein, ohne Hut und Mantel. "Tag, Stephan!" sagte er, kam näher und gab seinem Sohn die Hand. "Lange nicht gesehen, was? War ein paar Tage unterwegs. Mußte mal ausspannen. Die Nerven, die Nerven. Komme eben zurück. Wie geht's? Siehst schlecht aus. Sorgen? Was über die Habilitationsschrift gehört? Nein? Langweilige Bande. Hat Mutter geschrieben? Mag noch ein paar Wochen bleiben. Heißt mit Recht Paradiso, das Nest. Hat's die Frau gut. Tag, Herr Fabian. Seriöse Gespräche, wie? Gibt es ein Fortleben nach dem Tode? Im Vertrauen gesagt, es gibt keins. Muß alles vor dem Tode erledigt werden. Alle Hände voll zu tun. Tag und Nacht." "Fritz, nun komm aber endlich!" rief im Treppenhaus eine Frauenstimme. Der Justizrat zuckte die Achseln. "Da habt ihr's. Kleine Sängerin, großes Talent, keine Beschäftigung. Kann sämtliche Opern auswendig. Bißchen laut auf die Dauer. Na, Wiedersehen. Amüsiert euch lieber, statt die Menschheit zu erlösen. Wie gesagt, das Leben muß noch vor dem Tode erledigt werden. Zu näheren Auskünften bin ich gerne bereit. Nicht so ernst, mein Junge." Er gab beiden die Hand, ging und warf die Tür ins Schloß. Labude hielt sich nachträglich die Ohren zu, trat an den Schreibtisch, dachte eine Weile nach und fuhr dann in seiner Erzählung fort: "Gegen fünf Uhr früh begann es zu regnen. Nach sechs hörte es auf. Der Himmel wurde hell, und der Tag fing an. In dem Schlafzimmer brannte noch immer Licht. Das sah im Morgengrauen seltsam aus. Um sieben Uhr verließ der Mensch das Haus. Er pfiff, als er aus der Tür trat, und blickte nach oben. Leda stand in ihrem japanischen Schlafrock auf dem Balkon und winkte. Er winkte wieder. Sie breitete den Schlafrock für einen Moment noch einmal auseinander, damit er ihren Körper noch einmal sehe. Er warf ein Kußhändchen, es war zum Speien. Er ging pfeifend die Straße hinunter. Ich senkte den Kopf. Oben wurde die Balkontür geschlossen." Fabian wußte nicht, wie er sich verhalten sollte. Er blieb sitzen. Plötzlich hob Labude den Arm und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch. "Diese Kanaille!" schrie er. Fabian sprang vom Sofa, aber der andere winkte ab und sagte ganz ruhig: "Schon gut. Höre weiter. Mittags telefonierte ich. Sie war erfreut, daß ich wieder einmal bei ihr sei. Warum ich nicht geschrieben habe. Ob ich um fünf Uhr kommen wolle. Die wissenschaftlichen Arbeiter hörten seit ein paar Wochen früher auf. Ich lief durchs Hafenviertel, bis es soweit war. Dann fuhr ich hin. Sie hatte Tee und Kuchen zurechtgestellt und begrüßte mich zärtlich. Ich trank eine Tasse Tee und sprach über gleichgültige Dinge. Dann begann sie sich automatisch zu entkleiden, nahm den Kimono um und legte sich auf die Couch. Da fragte ich, wie sie darüber dächte, wenn wir unsere Beziehung lösten. Sie fragte, was mit mir los sei. Es gelte doch für ausgemacht, daß wir heiraten, sobald ich mich habilitiert habe. Ob ich sie nicht mehr liebe. Ich erklärte, daß es sich darum jetzt nicht handle. Die zunehmende Entfremdung, an der sie die Schuld trage, lasse das Auseinandergehen ratsam erscheinen. Sie rekelte sich, gab dem Schlafrock Gelegenheit, zur Seite zu gleiten, und meinte mit kindlicher Stimme, ich sei so kalt. Und die Entfremdung scheine, wie die unzweideutige Situation eindeutig beweise, eher an mir als an ihr zu liegen. Sie gab zu, daß es schwer sei, die Strecke zwischen Hamburg und Berlin seelisch zu überbrücken. Und in sexueller Beziehung gebe es Konflikte. Wenn sie mich haben wolle, sei ich nicht da, und wenn ich da sei, müsse die Liebe wie ein Mittagbrot erledigt werden, ob man Hunger hat oder nicht. Aber wenn wir erst verheiratet wären, würde das anders. Ich solle übrigens nicht böse sein. Sie habe vor mehreren Wochen einen ärztlichen Eingriff vornehmen lassen. Sie wolle unsere Kinder als meine Frau zur Welt bringen, nicht vorher. Mitgeteilt habe sie mir diesen kleinen Unfall nicht, um mich nicht zu ängstigen. Sie sei aber wieder auf dem Posten, und ich solle mich endlich neben sie setzen. Sie habe Sehnsucht. "Von wem war das wieder rückgängig gemachte Kind?" fragte ich. Sie setzte sich auf und zog ein gekränktes Gesicht. "Und wer war der Mann, der heute nacht bei dir schlief ?" fragte ich weiter. "Du siehst Gespenster", sagte sie. "Du bist eifersüchtig, es ist geradezu albern." Da gab ich ihr eine Ohrfeige und ging fort. Sie lief hinter mir her, die Treppe hinunter, bis vor die Tür. Dort stand sie, nackt, im wehenden Schlafrock, nachmittags gegen sechs, und rief, ich solle bleiben. Aber ich rannte davon und fuhr zur Bahn." Fabian trat hinter Labude und legte die Hände auf die Schultern des Freundes. "Warum hast du mir das nicht schon gestern erzählt?" "Na, ich komme schon darüber weg", sagte Labude. "Mich so zu belügen." "Aber was hätte sie tun sollen? Die Wahrheit sagen?" "Ich kann nicht mehr darüber nachdenken. Mir ist, als sei ich schwer krank gewesen!" "Du bist noch krank", meinte Fabian. "Du hast sie noch lieb." "Das ist wahr", sagte Labude. "Aber ich bin schon mit ganz anderen Kerlen fertig geworden als mit mir." "Wenn sie dir nun schreibt?" "Der Fall ist erledigt. Ich habe fünf Jahre damit zugebracht, unter einer falschen Voraussetzung zu leben, das reicht. Das Schlimmste habe ich dir noch nicht gesagt. Sie liebt mich nicht, und sie hat mich noch nie lieb gehabt! Erst jetzt, nach dem Schlußstrich, geht plötzlich die Rechnung auf. Erst als sie neben mir lag und mich kaltblütig belog, verstand ich die vergangenen Jahre. In fünf Minuten verstand ich alles. Zu den Akten!" Labude schob den Freund zur Tür. "Jetzt gehen wir. Ruth Reiter hat uns eingeladen. Komm, ich habe verschiedenes nachzuholen." "Wer ist Ruth Reiter?" "Ich lernte sie heute kennen. Sie hat ein Atelier und bildhauert, wenn man ihr glauben darf." "Modellstehen wollte ich schon immer mal", sagte Fabian und zog den Mantel an. NEUNTES KAPITEL Sonderbare junge Mädchen Ein Todeskandidat wird lebendig Das Lokal heißt "Cousine" "Endlich ein paar Männer!" rief die Reiter. "Macht's euch bequem. Die Kulp hat gerade gestöhnt, so ginge das nicht weiter. Sie hat zwei Tage keinen Mann gehabt, und der letzte war auch bloß ein Verkehrsunfall. Sie ist Modezeichnerin, und der Kerl hätte ihr, ohne die kleine Gegenleistung, keinen Auftrag gegeben. Ein beinahe impotenter Lebegreis war's, sagte sie." "Das sind die Schlimmsten", meinte Labude. "Sie probieren ununterbrochen, um nachzusehen, ob sich der Scha-den inzwischen behoben hat." Er blickte sich nach dem Mädchen um, das Kulp hieß. Sie hockte, mit hochgezogenen Beinen, auf einer Chaiselongue und winkte ihm. l.abude setzte sich neben die Kulp. Fabian wartete unschlüssig. Das Atelier war groß. In der Mitte des Raumes, unter der Lampe, vor einer Reihe von Skulpturen, stand ein holzgezimmerter Tisch, und auf dem Tisch saß eine nackte, dunkelhaarige Frau. Die Reiter kauerte auf einem Schemel, nahm den Skizzenblock und zeichnete. "Abendakt", erläuterte sie, ohne sich umzudrehen. "Heißt Selow. Neue Position, mein Schatz! Stehend, Beine breit, Oberkörper rechtwinklig drehen. So, Hände im Nacken ver-schränken. Halt!" Die nackte Frau, die Selow hieß, hatte sich aufgerichtet und stand nun breitbeinig auf dem Tisch. Sie war vorzüglich gebaut und blickte gleichgültig, aus schwermütigen Augen, vor sich hin. "Baron, was zu trinken, mich friert", sagte sie plötzlich. "Wahrhaftig, Fräulein Selow hat überall Gänsehaut", pflichtete Fabian bei. Er war nähergetreten und stand vor dem Modell wie ein Kunstkenner vor einer weiblichen Bronze. "Berühren verboten!" Die Stimme der Bildhauerin klang äußerst unfreundlich. Fräulein Kulp, die sich in Labudes Armen wie in warmem Badewasser dehnte, rief Fabian zu: "Hand von der Butter. Der Baron ist eifersüchtig. Sie hat mit dem Abendakt ein gutgehendes Verhältnis." "Halt den Rand!" knurrte die Reiter. "Labude, wenn Sie mit der Kulp etwas Unaufschiebbares vorhaben sollten, genieren Sie sich nicht. Ich habe nur diesen Raum, aber der ist an Kummer gewöhnt." Labude äußerte, er habe moralische Bedenken. "Was es so alles gibt", meinte die Kulp traurig. Die Reiter blickte vorübergehend von ihrem Block hoch und sah Fabian an. "Falls Sie sich an der Kulp beteiligen wollen, halten Sie sich ran! Ihr braucht weiter nichts dazu als einen Groschen. Labude wählt Wappen. Sie nehmen Zahl. Die Kulp wirft den Groschen hoch, das regt ihr Sonnengeflecht an. Wer oben liegt, hat den Vortritt." "Welche tiefe Wahrheit!" rief die Kulp. "Aber einen Groschen? Du verdirbst die Preise!" Fabian sagte höflich, er sei kein Freund von Glücksspielen. Die nackte Frau stampfte mit dem Fuß auf: "Was zu trinken!" "Battenberg, neben deinem Lehnstuhl steht ein Tischchen, und auf dem Tischchen steht Gin. Gib doch mal was rüber." "Gern", sagte eine Stimme. Hinter den Statuen klirrte es. Dann trat ein fremdes Mädchen in den Lichtkreis der Lampe und reichte dem Abendakt ein gefülltes Glas. Fabian war überrascht. "Wie viele weibliche Wesen sind eigentlich hier?" fragte er. "Ich bin das einzige", erklärte Fräulein Battenberg und lachte. Fabian sah ihr ins Gesicht und fand, sie passe nicht in das Milieu. Sie spazierte wieder hinter die Plastiken. Er folgte ihr. Sie setzte sich in den Lehnstuhl. Er stellte sich neben eine Diana aus Gips, legte den Arm um die Hüfte der trainierten Göttin und schaute durch das Atelierfenster auf die Bogen und Veduten der Jugendstilgiebel. Man hörte den Baron kommandieren. "Letzte Position, mein Schatz, Rumpfbeuge vorwärts, Knie einknicken, Gesäß heraus, Hände auf die Knie, gut, halt!" Und aus der vorderen Hälfte des Ateliers klangen kleine, zugespitzte Schreie. Fräulein Kulp litt vorübergehend an Atemnot. "Wie kommen Sie eigentlich in diesen Saustall?" fragte Fabian. "Ruth Reiter und ich sind aus derselben Stadt. Wir gingen in die gleiche Schule. Neulich trafen wir uns zufällig auf der Straße. Und weil ich noch nicht lange in Berlin bin, lud sie mich zu Informationszwecken ein. Ich bin das letzte Mal hier oben. Die Information hat genügt." "Das freut mich", sagte er. "Ich bin kein ausgesprochener Tugendbewahrer, und trotzdem betrübt es mich, wenn ich sehen muß, daß eine Frau unter ihrem Niveau lebt." Sie sah ihn ernst an. "Ich bin kein Engel, mein Herr. Unsere Zeit ist mit den Engeln böse. Was sollen wir anfangen? Wenn wir einen Mann liebhaben, liefern wir uns ihm aus. Wir trennen uns von allem, was vorher war, und kommen zu ihm. "Da bin ich", sagen wir freundlich lächelnd. "Ja", sagt er, "da bist du", und kratzt sich hinterm Ohr. Allmächtiger, denkt er, nun habe ich sie auf dem Hals. Leichten Herzens schenken wir ihm, was wir haben. Und er flucht. Die Geschenke sind ihm lästig. Erst flucht er leise, später flucht er laut. Und wir sind allein wie nie zuvor. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt, und von zwei Männern wurde ich stehengelassen. Stehengelassen wie ein Schirm, den man absichtlich irgendwo vergißt. Stört Sie meine Offenheit?" "Es geht vielen Frauen so. Wir jungen Männer haben Sorgen. Und die Zeit, die übrigbleibt, reicht fürs Vergnügen, nicht für die Liebe. Die Familie liegt im Sterben. Zwei Möglichkeiten gibt es ja doch nur für uns. Verantwortung zu zeigen. Entweder der Mann verantwortet die Zukunft einer Frau, und wenn er in der nächsten Woche die Stellung verliert, wird er einsehen, daß er verantwortungslos handelte. Oder er wagt es, aus Verantwortungs-gefühl, nicht, einem zweiten Menschen die Zukunft zu versauen, und wenn die Frau darüber ins Unglück gerät, wird er sehen, daß auch diese Entscheidung verantwortungslos war. Das ist eine Antinomie, die es früher nicht gab." Fabian setzte sich aufs Fensterbrett. Gegenüber war ein Fenster erleuchtet. Er blickte in ein mäßig möbliertes Zimmer. Eine Frau saß am Tisch und stützte den Kopf in die Hand. Und ein Mann stand davor, gestikulierte mit den Armen, bewegte schimpfend den Mund, riß den Hut von einem Haken und verließ den Raum. Die Frau nahm die Hände vom Gesicht und starrte auf die Tür. Dann legte sie den Kopf auf den Tisch, ganz langsam und ganz ruhig, als warte sie auf ein niederfallendes Beil. Fabian wandte sich ab und betrachtete das Mädchen, das neben ihm im Lehnstuhl saß. Auch sie hatte die Szene drüben im anderen Haus beobachtet und sah ihn traurig an. "Schon wieder ein verhinderter Engel", meinte er. "Der zweite Mann, den ich liebte und damit belästigte", sagte sie leise, "ging eines schönen Abends aus der Wohnung, um einen Brief in den Kasten zu werfen. Er ging die Treppe hinunter und kam nicht wieder." Sie schüttelte den Kopf, als verstehe sie das Erlebnis noch immer nicht. "Ich wartete drei Monate darauf, daß er vom Briefkasten zurückkehre. Komisch, nein? Dann schickte er eine Ansichtskarte aus Santiago, mit vielen herzlichen Grüßen. Meine Mutter sagte: "Du bist eine Dirne!", und als ich zu bedenken gab, daß sie ihren ersten Mann mit achtzehn Jahren und das erste Kind mit neunzehn Jahren gehabt habe, rief sie entrüstet: "Das war etwas ganz anderes!" Freilich, das war etwas ganz anderes." "Warum sind Sie nach Berlin gekommen?" "Früher verschenkte man sich und wurde wie ein Geschenk bewahrt. Heute wird man bezahlt und eines Tages, wie jede bezahlte und benutzte Ware, weggetan. Bezahlung ist billiger, denkt der Mann." "Früher war das Geschenk etwas ganz anderes als die Ware. Heute ist das Geschenk eine Ware, die null Mark kostet. Diese Billigkeit macht den Käufer mißtrauisch. Sicher ein faules Geschäft, denkt er. Und meist hat er recht. Denn später präsentiert ihm die Frau die Rechnung. Plötzlich soll er den moralischen Preis des Geschenks rückvergüten. In seelischer Valuta. Als Lebensrente zu zahlen." "Genauso ist es", sagte sie. "Genauso denken die Männer. Aber warum nennen Sie dann dieses Atelier einen Saustall? Hier sind doch die Frauen so ähnlich, wie ihr sie haben wollt! Oder etwa nicht? Ich weiß, was euch zu eurem Glück noch fehlt. Wir sollen zwar kommen und gehen, wann ihr es wollt. Aber wir sollen weinen, wenn ihr uns fortschickt. Und wir sollen selig sein, wenn ihr uns winkt. Ihr wollt den Warencharakter der Liebe, aber die Ware soll verliebt sein. Ihr zu allem berechtigt und zu nichts verpflichtet, wir zu allem verpflichtet und zu nichts berechtigt, so sieht euer Paradies aus. Doch das geht zu weit!" Fräulein Battenberg putzte sich die Nase. Dann fuhr sie fort: "Wenn wir euch nicht behalten dürfen, wollen wir euch auch nicht lieben. Wenn ihr uns kaufen wollt, dann sollt ihr teuer dafür bezahlen." Sie schwieg. Ihr liefen kleine Tränen übers Gesicht. "Sie sind deswegen nach Berlin gekommen?" fragte Fabian. Sie weinte geräuschlos. Er trat neben sie und streichelte ihre Schulter. "Sie verstehen auch nichts von Geschäften", sagte er und blickte zwischen zwei Gipsfiguren in den anderen Teil des Ateliers. Der Abendakt saß auf dem Tisch und trank Gin. Die Bildhauerin beugte sich über die nackte Frau und küßte sie auf den wenig gewölbten Bauch und auf die Brust. Die Selow trank inzwischen das Glas leer und strich der Freundin gleichgültig über den Rücken. Diese küßte, jene trank, keine schien recht zu wissen, was die andere tat. Und im Hintergrund, auf der Chaiselongue, lagen die Kulp und Labude, zu einem flüsternden Knäuel verwickelt. Jetzt klingelte es draußen. Die Reiter richtete sich auf und ging mit schweren Schritten hinaus. Die Selow zog die Strümpfe an. Ein riesiger Mann kam durch die Tür. Er atmete keuchend, hatte ein Holzbein und ging an einem Stock. "Ist die Kulp da?" fragte er. Die Reiter nickte. Er zog ein paar Geldscheine aus der Tasche, gab sie der Bildhauerin und sagte: "Ihr anderen solltet eine Stunde fortgehen. Die Selow kannst du mir eventuell noch dalassen." Er sank auf einen Stuhl und lachte schwerfällig. "Nein, nein, Baron, es war nur Spaß." Die Kulp kroch von der Chaiselongue, strich sich das Kleid glatt und gab dem Mann die Hand. "Tag, Wilhelmy, noch immer nicht tot?" Wilhelmy wischte sich den Schweiß von der Stirn und schüttelte den Kopf. "Lange kann's aber nicht mehr dauern. Sonst ist das Geld früher zu Ende als ich." Er gab ihr ein paar Geldscheine. "Selow!" rief er, "sauf den Gin nicht aus! Und zieh dich schneller an." "Geht in die "Cousine". Ich komme nach", sagte die Kulp. Dann rüttelte sie Labude munter. "Mein Lieber, du wirst rausgeschmissen. Hier ist einer, dem die Ärzte erzählt haben, daß er noch in diesem Monat stirbt. Er lauert auf den Tod wie unsereins auf die Periode. Ich helf ihm bloß ein Viertelstündchen warten. Später treff ich euch wieder." Labude stand auf. Die Reiter holte ihren Mantel. Fabian kam mit Fräulein Battenberg hinter den Plastiken vor. Die Selow war mit Anziehen fertig. Sie gingen. Der Todeskandidat und die Kulp blieben zurück. "Hoffentlich prügelt er sie nicht so sehr wie beim letzten Mal", sagte die Bildhauerin auf der Treppe. "Es bringt ihn auf, daß andere länger leben dürfen als er." "Die hat nichts dagegen, die liebt die Keile", meinte die Selow. "Und außerdem, von ihrer Zeichnerei kann sie nicht leben und nicht sterben." "Feine Berufe haben wir!" Die Reiter lachte wütend. Die "Cousine" war ein Klublokal, in dem vorwiegend Frauen verkehrten. Sie tanzten miteinander. Sie saßen Arm in Arm auf kleinen grünen Sofas. Sie sahen einander tief in die Augen. Sie tranken Schnaps, und manche trugen Smokingjacken und hochgeschlossene Blusen, um den Männern recht ähnlich zu sein. Die Inhaberin hieß wie ihr Lokal, rauchte schwarze Zigarren und vermittelte Bekanntschaften. Sie ging von Tisch zu Tisch, begrüßte die Gäste, erzählte handfeste Witze und soff wie ein Budiker. Labude schien sich vor Fabian und vor sich selber zu schämen. Er tanzte mit dem Abendakt, setzte sich dann mit der Frau an die Theke und drehte dem Freund den Rücken. Ruth Reiter war eifersüchtig, nahm sich aber zusammen. Sie blickte ganz selten nach der Bar, sah blaß aus und begann zu trinken. Später schob sie an einen anderen Tisch und unterhielt sich dort mit einer älteren Dame, die schrecklich geschminkt war und, wenn sie lachte, derartig gackerte, daß man dachte: Gleich legt sie ein Ei. "Ich kann unser Gespräch noch nicht vergessen", sagte Fabian zu Fräulein Battenberg. "Halten Sie wirklich alle Frauen, die hier versammelt sind, für gebürtige Abnormitäten? Die Blondine da drüben war jahrelang die Freundin eines Schauspielers, bis er sie ruckartig an die Luft setzte. Dann ging sie ins Büro und schlief mit dem Prokuristen. Sie kriegte ein Kind und verlor den Prozeß. Der Prokurist leugnete die Vaterschaft. Das Kind wurde aufs Land gegeben. Die Blondine bekam eine neue Stellung. Aber sie hat, vielleicht für immer, mindestens vorübergehend, von den Männern genug, und mancher, die außer ihr hier sitzt, erging es ähnlich. Die eine findet keinen Mann, die andere zu viele, die dritte hat panische Angst vor den Folgen. Hier sitzen viele Frauen, die mit den Männern nur böse sind. Die Selow, die mit meinem Freunde zusammenhockt, gehört auch zu dieser Sorte. Sie ist nur lesbisch, weil sie mit dem anderen Geschlecht schmollt." "Wollen Sie mich nach Hause bringen?" fragte Fräulein Battenberg. "Es gefällt Ihnen hier nicht?" Sie schüttelte den Kopf. Da ging die Tür auf, die Kulp taumelte ins Lokal. Vor dem Tisch, an dem die Bildhauerin saß, blieb sie stehen und öffnete den Mund. Sie schrie nicht, sie sprach nichts. Sie brach zusammen. Die Frauen drängten sich neugierig um die Ohnmächtige. Die Cousine brachte Whisky. "Der Wilhelmy hat sie wieder geschlagen", sagte die Reiter. "Ein Hoch auf die Männer!" schrie ein Mädchen und lachte hysterisch. "Holt den Doktor aus dem Hinterzimmer!" rief die Cousine. Man rannte durcheinander. Der Klavierspieler, der ebenso witzig wie betrunken war, intonierte den Trauermarsch von Chopin. "Das soll der Doktor sein?" fragte Fräulein Battenberg. Durch die Seitentür trat eine große, hagere Dame im Abendkleid, das Gesicht glich einem weißgepuderten Totenkopf. "Ja, das ist ein medizinisch vorgebildeter Mann", sagte Fabian. "Er war sogar einmal Korpsstudent. Sehen Sie die Schmisse unterm Puder? Jetzt ist er Morphinist und hat polizeiliche Erlaubnis, Frauenkleidung zu tragen. Er lebt davon, daß er Morphiumrezepte verschreibt. Eines Tages werden sie ihn erwischen, dann vergiftet er sich." Man trug die Kulp ins Hinterzimmer. Der Doktor im Abendkleid folgte. Der Klavierspieler begann einen Tango. Die Bildhauerin holte den Abendakt zum Tanz, preßte die Freundin eng an sich und sprach heftig auf sie ein. Die Selow war völlig betrunken, hörte kaum zu und schloß die Augen. Plötzlich riß sie sich los, überquerte schwankend das Parkett, schlug den Klavierdeckel zu, daß das Instrument jammerte, und brüllte: "Nein!" Es wurde totenstill. Die Bildhauerin stand allein auf der Tanzfläche und hatte die Hände ineinandergekrampft. "Nein!" brüllte die Selow noch einmal. "Ich habe genug davon! Bis dahin! Ich will einen Mann haben! Einen Mann will ich haben! Steig mir doch den Buckel runter, du geile Ziege!" Sie zerrte Labude von seinem Hocker, gab ihm einen Kuß, hieb sich den Hut auf den Kopf und zog den jungen Mann, kaum daß er den Mantel mitnehmen konnte, zur Tür. "Es lebe der kleine Unterschied!" schrie sie. Dann waren die beiden ver-schwunden. "Es ist wirklich besser, wenn wir gehen." Fabian erhob sich, legte Geld auf den Tisch und half der Battenberg beim Anziehen. Als sie gingen, stand Ruth Reiter, auch der Baron genannt, noch immer auf dem Tanzparkett. Niemand wagte es, sich ihr zu nähern. ZEHNTES KAPITEL Topographie der Unmoral Die Liebe höret nimmer auf! Es lebe der kleine Unterschied! "Wieso ist dieser Mensch Ihr Freund?" fragte sie auf der Straße. "Sie kennen ihn doch gar nicht!" Er ärgerte sich über ihre Frage und ärgerte sich über seine Antwort. Sie gingen schweigend nebeneinander. Nach einer Weile sagte er: "Labude hat Pech gehabt. Er ist nach Hamburg gefahren und hat zugesehen, wie ihn seine zukünftige Gattin betrügt. Er organisiert gern. Seine Zukunft war, nach der familiären Seite, bis auf die fünfte Stelle nach dem Komma ausgerechnet. Und nun stellt sich über Nacht heraus, es war alles falsch. Er will das rasch vergessen und versucht es zunächst auf horizontale Art." Sie blieben vor einem Geschäft stehen. Der Laden war trotz der nächtlichen Stunde hell erleuchtet, und die Kleider und Blusen und Lackgürtel lagen zwischen den dunklen Häusern wie auf einer kleinen, von der Sonne beschienenen Insel. "Können Sie mir sagen, wie spät es ist?" fragte jemand neben ihnen. Fräulein Battenberg erschrak und faßte den Arm ihres Begleiters. "Zehn nach zwölf", sagte Fabian. "Danke schön. Da muß ich mich beeilen." Der junge Mann, der sie angesprochen hatte, bückte sich und nestelte umständlich an einem Schnürsenkel. Dann richtete er sich wieder auf und fragte verlegen lächelnd: "Haben Sie zufällig fünfzig Pfennige, die Sie entbehren könnten?" "Zufällig ja", antwortete Fabian und gab ihm ein Zweimarkstück. "Oh, das ist schön. Haben Sie vielen Dank, mein Herr. Da brauche ich nicht bei der Heilsarmee zu übernachten." Der Fremde zuckte entschuldigend die Achseln, lüftete den Hut und lief hastig davon. "Ein gebildeter Mensch", meinte Fräulein Battenberg. "Ja, er fragte nach der Zeit, ehe er uns anbettelte." Sie setzten ihren Weg fort. Fabian wußte nicht, wo das Mädchen wohnte. Er ließ sich führen, obwohl er die Gegend besser kannte als sie. "Das Schlimmste an der ganzen Geschichte ist das", sagte er, "Labude hat, allerdings fünf Jahre zu spät, bemerkt, daß ihn Leda, eben jene Frau aus Hamburg, niemals lieb hatte. Sie hat ihn nicht betrogen, weil er zu selten bei ihr war. Sie betrog ihn, weil sie ihn nicht liebte. Er stand ihr nur individuell nahe, er war nicht ihr Typus. Es gibt auch den umgekehrten Fall. Man kann jemanden mögen, weil er den rechten Typus verkörpert, aber man kann seine Individualität nicht leiden." "Und daß jemand in jeder Beziehung der Richtige ist, kommt das nicht vor?" "Man soll nicht gleich das Äußerste hoffen", erwiderte Fabian. "Und was führt Sie, außer Ihrem kriegerischen Vorsatz, nach Sodom und Gomorrha?" "Ich bin Referendar", erklärte sie. "Meine Dissertation betraf eine Frage zum internationalen Filmrecht, und eine große Berliner Filmgesellschaft will mich in ihrer Vertragsabteilung volontieren lassen. Hundertfünfzig Mark im Monat." "Werden Sie doch Filmschauspielerin!" "Wenn es sein muß, auch das", sagte sie entschlossen. Und beide lachten. Sie gingen durch die Geisbergstraße. Nur selten durchquerte ein Auto die Nachtruhe. In den Vorgärten dufteten Blumenbeete. In einer Haustür streichelte sich ein Liebespaar. "Sogar der Mond scheint in dieser Stadt", bemerkte die Kennerin des internationalen Filmrechts. Fabian drückte ihren Arm ein wenig. "Ist es nicht fast wie zu Hause?" fragte er. "Aber Sie täuschen sich. Der Mondschein und der Blumenduft, die Stille und der kleinstädtische Kuß im Torbogen sind Illusionen. Dort drüben, an dem Platz, ist ein Café, in dem Chinesen mit Berliner Huren zusammensitzen, nur Chinesen. Da vorn ist ein Lokal, wo parfümierte homosexuelle Burschen mit eleganten Schauspielern und smarten Engländern tanzen und ihre Fertigkeiten und den Preis bekanntgeben, und zum Schluß bezahlt das Ganze eine blondgefärbte Greisin, die dafür mitkommen darf. Rechts an der Ecke ist ein Hotel, in dem nur Japaner wohnen, daneben liegt ein Restaurant, wo russische und ungarische Juden einander anpumpen oder sonstwie übers Ohr hauen. In einer der Nebenstraßen gibt es eine Pension, wo sich nachmittags minderjährige Gymnasiastinnen verkaufen, um ihr Taschengeld zu erhöhen. Vor einem halben Jahr gab es einen Skandal, der nur schlecht vertuscht wurde; ein älterer Herr fand in dem Zimmer, das er zu Vergnügungszwecken betrat, zwar, wie er erwartet hatte, ein sechzehnjähriges entkleidetes Mädchen vor, aber es war leider seineTochter, und das hatte er nicht erwartet... Soweit diese riesige Stadt aus Stein besteht, ist sie fast noch wie einst. Hinsichtlich der Bewohner gleicht sie längst einem Irrenhaus. Im Osten residiert das Verbrechen, im Zentrum die Gaunerei, im Norden das Elend, im Westen die Unzucht, und in allen Himmelsrichtungen wohnt der Untergang." "Und was kommt nach dem Untergang?" Fabian pflückte einen kleinen Zweig, der über ein Gitter hing, und gab zur Antwort: "Ich fürchte, die Dummheit." "In der Stadt, aus der ich bin, ist die Dummheit schon eingetroffen", sagte das Mädchen. "Aber was soll man tun?" "Wer ein Optimist ist, soll verzweifeln. Ich bin ein Melancholiker, mir kann nicht viel passieren. Zum Selbstmord neige ich nicht, denn ich verspüre nichts von jenem Tatendrang, der andere nötigt, so lange mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen, bis der Kopf nachgibt. Ich sehe zu und warte. Ich warte auf den Sieg der Anständigkeit, dann könnte ich mich zur Verfügung stellen. Aber ich warte darauf wie ein Ungläubiger auf Wunder. Liebes Fräulein, ich kenne Sie noch nicht. Trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, möchte ich Ihnen für den Umgang mit Menschen eine Arbeitshypothese anvertrauen, die sich bewährt hat. Es handelt sich um eine Theorie, die nicht richtig zu sein braucht. Aber sie führt in der Praxis zu verwendbaren Ergebnissen." "Und wie lautet Ihre Hypothese?" "Man halte hier jeden Menschen, mit Ausnahme der Kinder und Greise, bevor das Gegenteil nicht unwiderleglich bewiesen ist, für verrückt. Richten Sie sich danach, Sie werden bald erfahren, wie nützlich der Satz sein kann." "Soll ich bei Ihnen damit beginnen?" fragte sie. "Ich bitte darum", meinte er. Sie schwiegen und überquerten den Nürnberger Platz. Ein Auto bremste dicht vor ihnen. Das Mädchen zitterte. Sie gingen in die Schaperstraße. In einem verwahrlosten Garten schrien Katzen. An den Rändern der Fußsteige standen Alleebäume, bedeckten den Weg mit Dunkelheit und verbargen den Himmel. "Ich bin angelangt", sagte sie und machte vor dem Hause Nummer 17 halt. In dem Hause, in dem auch Fabian wohnte! Er verbarg seine Verwunderung und fragte, ob er sie wiedersehen dürfe. "Wollen Sie es wirklich?" "Unter einer Bedingung: daß auch Sie es wünschen." Sie nickte und legte einen Augenblick lang den Kopf an seine Schulter. "Diese Stadt ist groß", flüsterte sie und schwieg unschlüssig. "Werden Sie mich falsch verstehen, wenn ich Sie bitte, für eine halbe Stunde zu mir hinaufzukommen? Das Zimmer ist mir noch so fremd. Kein Wort klingt nach und keine Erinnerung, denn ich habe darin noch mit niemandem gesprochen, und nichts ist da, woran es mich erinnern könnte. Und vor den Fenstern schwanken des Nachts schwarze Bäume." Fabian sagte lauter, als er wollte: "Ich komme gern mit. Schließen Sie nur auf." Sie steckte den Schlüssel ins Schloß und drehte um. Doch ehe sie die Tür aufschob, wandte sie sich noch einmal zu ihm. "Ich bin sehr in Sorge, daß Sie mich mißverstehen." Er drückte die Tür auf und schaltete die Treppenbeleuchtung ein. Dann ärgerte er sich, daß er sich dadurch verraten haben könnte. Aber sie wurde nicht stutzig, schloß hinter ihm ab und ging voraus. Er folgte und amüsierte sich über die Heimlichkeit, mit der er heute dieses Haus betrat. In welcher Etage mochte sie wohnen? Sie blieb tatsächlich vor der Tür seiner Wirtin, vor der Tür der Witwe Hohlfeld, stehen und öffnete. Im Flur brannte Licht. Zwei junge Mädchen in rosa Hemdhöschen spielten mit einem grünen Luftballon Fußball. Sie erschraken und begannen vor Schreck zu kichern. Fräulein Battenberg stand starr. Da ging die Toilettentür auf, und Herr Dröger, der sinnliche Stadtreisende, erschien im Pyjama. "Halten Sie Ihren Harem besser unter Verschluß", brummte Fabian. Herr Dröger grinste, trieb die Mädchen in sein Serail und riegelte ab. Fabian legte die Hand versehentlich auf die Klinke zu seinem eigenen Zimmer. "Um Gottes willen", flüsterte Fräulein Battenberg. "Da wohnt jemand anderes." "Pardon", sagte Fabian und folgte ihr durch den Korridor in den letzten Raum. Er legte Hut und Mantel aufs Sofa, sie hängte ihren Mantel in den Schrank. "Eine fürchterliche Bude", sagte sie lächelnd. "Und achtzig Mark im Monat." "Ich zahle genausoviel", tröstete er. Nebenan wurde gelärmt. Die Sprungfedern knirschten unwillig. "Die Nachbarschaft habe ich gratis", meinte sie. "Bohren Sie ein Loch in die Wand und verlangen Sie Eintritt." "Ach, ich bin so froh", sie rieb sich die Hände wie vor einem Kamin. "Wenn ich allein bin, wirkt dieser Salon noch viel häßlicher. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Wollen Sie sich mal die schaurigen Bäume anschauen?" Sie traten ans Fenster. "Heute sind sogar die Bäume freundlicher", stellte sie fest. Dann sah sie ihn an und murmelte: "Das macht, weil ich sonst allein bin." Er zog sie behutsam an sich und gab ihr einen Kuß. Sie küßte ihn wieder. "Nun wirst du denken, daß ich dich deshalb bat, mitzukommen." "Freilich denke ich das", gab er zur Antwort. "Aber du wußtest es selber noch nicht." Sie rieb ihre Wange an der seinen und blickte durchs Fenster. "Wie heißt du eigentlich?" fragte er. "Cornelia." Als sie nebeneinander im Bett lagen, sagte er ehrlich bekümmert, während er ihr mit den Händen übers Gesicht strich und dabei die Augen schloß, um das Gepräge des Gesichts zu spüren: "Weißt du noch, daß wir heute abend einmal in einem Atelier saßen, hinter Göttinnen aus Gips, und daß du erzähltest, wie du die Männer für ihren Egoismus bestrafen willst?" Sie drückte lauter kleine Küsse auf seine Hände. Dann holte sie tief Atem und antwortete: "An dem Vorsatz hat sich nichts geändert, wirklich nicht. Aber mit dir mach ich eine Ausnahme. Mir ist ganz so, als ob ich dich liebhabe." Er setzte sich hoch. Aber sie zog ihn wieder zu sich herab. "Vorhin, als wir uns umarmten, hab ich geweint", flüsterte sie. Und als sie sich dessen erinnerte, traten ihr von neuem Tränen in die Augen, aber sie lächelte unter diesen Tränen, und er war seit langem wieder einmal beinahe glücklich. "Ich habe geweint, weil ich dich liebhabe. Aber daß ich dich liebhabe, das ist meine Sache, hörst du? Und es geht dich nichts an. Du sollst kommen und gehen, wann du willst. Und wenn du kommst, will ich mich freuen, und wenn du gehst, will ich nicht traurig sein. Das verspreche ich dir." Sie drängte sich an ihn und preßte ihren Körper an den seinen, daß beiden der Atem verging. "So", rief sie, "und jetzt hab ich Hunger!" Er zog ein so verdutztes Gesicht, daß sie lachte. Sie erklärte ihm die Sache. "Das ist so: wenn ich wen liebhabe, ich meine, wenn mich jemand liebgehabt hat - aber du verstehst mich schon, ja? -, dann habe ich hinterher immer fürchterlichen Hunger. Der Hunger hat nur einen Haken. Ich habe nichts zu essen da. Ich konnte ja nicht wissen, daß ich in dieser fürchterlichen Stadt so bald solchen Hunger bekäme." Sie lag auf dem Rücken und lächelte die Zimmerdecke an, die Engelsköpfe aus Stuck inbegriffen. Fabian stand auf und meinte: "Da müssen wir eben einbrechen." Dann hob er sie aus dem Bett, öffnete die Tür und zog die widerstrebende Cornelia in den Korridor. Sie sträubte sich, aber er faßte sie unter, und sie spazierten, Adam und Eva zum Verwechseln ähnlich, den Flur entlang, bis vor Fabians Tür. "Das ist ja entsetzlich", jammerte sie und wollte entfliehen. Aber er drückte die Klinke nieder und transportierte das Mädchen in sein Zimmer. Sie klapperte kläglich mit den Zähnen. Er machte Licht, verbeugte sich und äußerte feierlich: "Herr Doktor Fabian erlaubt sich, Fräulein Doktor Battenberg in seinen Gemächern willkommen zu heißen." Dann warf er sich auf sein Bett und biß vor Vergnügen ins Kopfkissen. "Nein!" sagte sie hinter ihm. "Das ist nicht möglich." Aber dann glaubte sie es doch und begann Schuhplattler zu tanzen. Er stand auf und sah ihr zu. "Du darfst dir nicht so laut hintendrauf klatschen", erklärte er würdevoll. "Das ist beim Schuhplattler nicht anders", meinte sie und tanzte weiter, so echt und so laut es ging. Dann schritt sie gemessen zum Tisch, setzte sich auf einen Stuhl, tat dabei, als ob sie ihr Kleid glattstriche, obwohl sie, augenfällig genug, nichts Derartiges anhatte, und sagte: "Bitte, die Speisekarte." Er schleppte Teller, Messer, Gabel, Brot und Wurst und Keks herbei und markierte, während sie aß, den aufmerksamen Oberkellner. Später stöberte sie auf seinem Bücherbrett herum, klemmte sich Lektüre unter den Arm, bot ihm den linken und befahl majestätisch: "Bringen Sie mich unverzüglich in mein Appartement zurück." Bevor sie das Licht auslöschten, verabredeten sie noch, daß sie ihn am nächsten Morgen wecken solle. Man entschied sich dafür, daß sie ihn, bis er munter sei, am Ohr zupfen werde. Abends wollten sie sich dann wieder in der Wohnung treffen. Wer zuerst da wäre, würde neben seine Türklinke ein Bleistiftkreuz kritzeln. Man nahm sich vor, die Witwe Hohlfeld nach Möglichkeit nichts merken zu lassen. Dann löschte Cornelia das Licht aus. Sie bettete sich neben ihn und sagte: "Komm!" Er streichelte ihren Körper. Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände, preßte den Mund auf sein Ohr und flüsterte: "Komm! Was rief die Selow? Es lebe der kleine Unterschied!" ELFTES KAPITEL Die Überraschung in der Fabrik Der Kreuzberg und ein Sonderling Das Leben ist eine schlechte Angewohnheit Am anderen Morgen war Fabian schon eine Viertelstunde vor Bürobeginn an der Arbeit. Er pfiff vor sich hin und überflog die Notizen zu dem Preisausschreiben, das die Direktion von ihm erwartete. Die Fabrik sollte dem Einzelhandel hunderttausend sehr billige Sonderpackungen zugänglich machen. Die Schachteln sollten numeriert sein und Zigaretten sechs verschie-dener Sorten ohne jeden Schriftaufdruck enthalten. Die Käuferschaft sollte erraten, wieviel Zigaretten der sechs bekannten Marken der Firma in der Packung enthalten wären. Wer eine billige Schachtel erwarb, mußte, wenn er die Aufgabe lösen und einen der Preise gewinnen wollte, notgedrungen je eine der sechs Spezialpackungen kaufen, die seit langem im Handel waren, also sechs Packungen außer der billigen Sonderschachtel. Wenn sich hunderttausend Interessenten fanden, konnten automatisch sechshunderttausend andere Packungen, insgesamt siebenhunderttausend Schachteln, umgesetzt werden. Dazu kam die allgemeine Absatzsteigerung, die einem geschickt propagierten Kundenfang zu folgen pflegt. Fabian begann eine Kalkulation aufzustellen. Da erschien Fischer, rief: "Nanu?" und blickte dem Kollegen neugierig über die Schulter. "Der Entwurf fürs Preisausschreiben", sagte Fabian. Fischer zog das graue Lüsterjackett an, das er im Büro trug, und fragte: "Darf ich Ihnen nachher mal meine Zweizeiler zeigen?" "Gern. Heute habe ich Sinn für Lyrik." Da klopfte es. Der Hausbote Schneidereit, ein ältliches, wackliges Faktotum, auch "der Erfinder des Plattfußes" geheißen, schob sich ins Zimmer. Er legte mürrisch einen großen gelben Brief auf Fabians Schreibtisch und entfernte sich wieder. Der Brief enthielt Fabians Papiere, eine Anweisung an die Hauptkasse und ein kurzes Schreiben mit diesem Inhalt: "Sehr geehrter Herr, die Firma sieht sich veranlaßt, Ihnen unter dem heutigen Tage die Kündigung auszusprechen. Das am Monatsende zahlbare Gehalt wird Ihnen schon heute an der Kasse ausgefolgt werden. Wir haben uns erlaubt, aus freien Stücken in der Anlage ein Zeugnis beizufügen, und wollen auch an dieser Stelle gern bekunden, daß Sie für die propagandistische Tätigkeit besonders qualifiziert erscheinen. Die Kündigung ist eine bedauerliche Folge der vom Aufsichtsrat beschlossenen Senkung des Reklamebudgets. Wir danken Ihnen für die dem Unternehmen geleistete Arbeit und wünschen Ihnen für Ihr weiteres Fortkommen das Beste." Unterschrift. Aus. Fabian saß minutenlang, ohne sich zu rühren. Dann stand er auf, zog sich an, steckte den Brief in den Mantel und sagte zu Fischer: "Auf Wiedersehen. Lassen Sie sich's gutgehen." "Wo wollen Sie denn hin?" "Man hat mir eben gekündigt." Fischer sprang auf. Er war grün im Gesicht. "Was Sie nicht sagen! Mensch, da hab ich aber nochmal Glück gehabt!" "Ihr Gehalt ist kleiner", meinte Fabian. "Sie dürfen bleiben." Fischer trat auf den gekündigten Kollegen zu und drückte ihm mit feuchter Hand sein Bedauern aus. "Na, zum Glück läßt Sie die Sache kalt. Sie sind ein patenter Kerl, und zweitens haben Sie keine Frau am Hals." Plötzlich stand Direktor Breitkopf im Zimmer, zögerte, als er sah, daß Fischer nicht allein war, und wünschte schließlich einen guten Morgen. "Guten Morgen, Herr Direktor", grüßte Fischer und verbeugte sich zweimal. Fabian tat, als sehe er Breitkopf nicht, wandte sich dem Kollegen zu und sagte: "Auf dem Schreibtisch liegt mein Preisausschreibenprojekt. Ich vermache es Ihnen." Damit verließ Fabian seine Wirkungs-stätte und holte sich an der Kasse zweihundertsiebzig Mark. Bevor er auf die Straße trat, blieb er minutenlang im Tor stehen. Lastautos ratterten vorbei. Ein Depeschenbote sprang vom Rad und eilte ins gegenüberliegende Ge-bäude. Das Nebenhaus war von einem Gerüst vergittert. Maurer standen auf den Laufbrettern und verputzten den grauen, bröckeligen Bewurf. Eine Reihe bunter Möbelwagen bog schwerfällig in die Seitenstraße. Der Depe-schenbote kam zurück, stieg hastig auf sein Rad und fuhr weiter. Fabian stand im Torbogen, griff in die Tasche, ob das Geld noch drin sei, und dachte: "Was wird mit mir?" Dann ging er, da er nicht arbeiten durfte, spazieren. Er lief kreuz und quer durch die Stadt, trank gegen Mittag, Hunger hatte er nicht, bei Aschinger eine Tasse Kaffee und setzte sich von neuem in Bewegung, obwohl er sich lieber traurig in den tiefen Wald verkrochen hätte. Aber wo war hier ein tiefer Wald? Er lief und lief und rannte sich den Kummer in den Stiefelsohlen ab. Auf der Belle-Alliance-Straße erkannte er das Haus wieder, in dem er zwei Semester lang als Student gelebt hatte. Es stand wie ein alter Bekannter da, den man lange nicht gesehen hat und der verlegen abwartet, ob man ihn grüßen wird oder nicht. Fabian stieg die Treppe hinauf und sah nach, ob die alte Geheimratswitwe noch immer hier wohnte. Aber da war ein fremdes Schild an der Tür. Er kehrte um. Die alte Dame war ganz weißhaarig und sehr schön gewesen. Er entsann sich des regelmäßigen dummen Greisinnenge-sichts. Im Inflationswinter hatte er kein Geld zum Heizen gehabt. Er hatte, im Mantel vergraben, dort oben gehockt und an einem Vortrag über Schillers moralästhetisches System gearbeitet. Sonntags war er gelegentlich von der alten Dame zum Mittagessen eingeladen und über die familiären Vorgänge in ihrem umfangreichen Bekannten-kreis aufgeklärt worden. Vorher, damals und heute, er war stets ein armes Luder gewesen, und er hatte große Aussichten, eines zu bleiben. Seine Armut war schon eine schlechte Angewohnheit, wie bei anderen das Krummsit-zen oder das Nägelkauen. Gestern nacht, bevor er einschlief, hatte er noch gedacht: Vielleicht sollte man doch eine kleine Tüte Ehrgeiz säen in dieser Stadt, wo Ehrgeiz so rasch Früchte trug; vielleicht sollte man sich doch ein wenig ernster nehmen und in dem wackligen Weltgebäude, als ob alles in Ordnung sei, eine lauschige Dreizimmerwohnung einrichten; vielleicht war es Sünde, das Leben zu lieben und kein seriöses Verhältnis mit ihm zu haben. Cornelia, der weibliche Referendar, hatte danebengelegen und ihm noch im Schlaf die Hand gedrückt. Mitten in der Nacht, hatte sie ihm am Morgen berichtet, sei sie zusammengefahren und erwacht. Denn er habe sich im Bett aufgesetzt und energisch erklärt: "Ich werde die Annoncen leuchten lassen!" Dann sei er wieder zurückgesunken. Er stieg langsam auf das Plateau des Kreuzberges und setzte sich auf eine Bank, die der Pflege des Publikums empfohlen war. Auf einem Schild stand: "Bürger, schont eure Anlagen!" Der Magistrat hatte den außerordentlich zweideutigen Satz unterschrieben, der Magistrat mußte es wissen. Fabian betrachtete den riesigen Stamm eines Baumes. Die Rinde war von tausend senkrechten Falten zerpflückt. Sogar die Bäume hatten Sorgen. Zwei kleine Schüler gingen an der Bank vorbei. Der eine, der die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt, fragte gerade empört: "Soll man sich das gefallen lassen?" Der andere ließ sich mit der Antwort Zeit: "Gegen die Bande kannst du gar nichts machen", meinte er schließlich. Was sie weiter sprachen, war nicht mehr zu hören. Von der anderen Seite des Platzes näherte sich eine merkwürdige Gestalt: ein alter Herr, mit einem weißen Knebelbart und mit einem schlechtgerollten Schirm. Statt eines Mantels trug er eine grünliche, verschossene Pelerine, und der Kopf gipfelte in einem steifen grauen Hut, der vor Jahren schwarz gewesen sein mochte. Der Pelerinen-träger steuerte auf die Bank zu, ließ sich, eine Begrü-ßungsformel murmelnd, neben Fabian nieder, hustete umständlich und zeichnete mit dem Schirm Kreise in den Sand. Er machte einen der Kreise zu einem Zahnrad, brachte dessen Mittelpunkt mit dem Zentrum eines ande-ren Kreises durch eine Gerade in Verbindung, kompli-zierte die Skizze durch Kurven und Linien immer mehr, schrieb Formeln daneben und darüber, rechnete, strich durch, rechnete von neuem, unterstrich eine Zahl zweimal und fragte: "Verstehen Sie was von Maschinen?" "Bedaure", sagte Fabian. "Wer mich sein Grammophon aufziehen läßt, kann sicher sein, daß es nie mehr funktio-niert. Mechanische Feuerzeuge, mit denen ich mich befas-se, brennen nicht. Bis zum heutigen Tage halte ich den elektrischen Strom, wie mir der Name zu bestätigen scheint, für eine Flüssigkeit. Und wie es möglich ist, auf der einen Seite geschlachtete Ochsen in elektrisch betrie-bene Metallgehäuse zu sperren und auf der Rückseite Cornedbeef herauszudestillieren, werde ich niemals be-greifen. - Übrigens erinnert mich Ihre Pelerine an meine Internatszeit. Jeden Sonntag marschierten wir in solchen Pelerinen und mit grünen Mützen nach der Martin-Luther-Kirche zum Gottesdienst. Während der Predigt schliefen wir alle bis auf den, der die anderen wecken mußte, wenn der Organist den Choral intonierte oder wenn der Hauslehrer auf die Empore kam." Fabian blickte auf die Pelerine des Nachbarn und spürte, wie dieses Kleidungsstück die Vergangenheit alarmierte. Er sah den blassen, dicken Direktor vor sich, wie der jeden Morgen, zu Beginn der Andacht, bevor er sich setzte und das Gesangbuch aufschlug, die Knie einknickte und mit der Hand an die Hose faßte, um sich zu vergewissern, ob der sündige Erdenrest noch anwesend sei. Und er sah sich selber abends durchs Tor der Anstalt schleichen, durch die dämmerigen Straßen, an den Kasernen vorbei, über den Exerzierplatz rennen, die Treppe eines Mietshauses hin-aufjagen und auf eine Klingel drücken. Er hörte die zitternde Stimme seiner Mutter hinter der Tür: "Wer ist denn draußen?" Und er hörte sich, außer Atem, rufen: "Ich bin's, Mama! Ich wollte bloß mal nachsehen, ob's dir heute besser geht." Der alte Herr fuhr mit der Spitze seines schlechtgerollten Schirmes so lange über den Sand, bis die Rechnung weggewischt war. "Vielleicht verstehen Sie mich, da Sie von Maschinen nichts verstehen", sagte er. "Ich bin ein sogenannter Erfinder, Ehrenmitglied von fünf wissen-schaftlichen Akademien. Die Technik verdankt mir er-hebliche Fortschritte. Ich habe der Textilindustrie dazu verholfen, pro Tag fünfmal soviel Tuch herzustellen als früher. An meinen Maschinen haben viele Leute Geld verdient, sogar ich." Der alte Herr hustete und zupfte sich nervös am Spitzbart. "Ich erfand friedliche Maschi-nen und merkte nicht, daß es Kanonen waren. Das konstante Kapital wuchs unaufhörlich, die Produktivität der Betriebe nahm zu, aber, mein Herr, die Zahl der beschäftigten Arbeiter nahm ab. Meine Maschinen waren Kanonen, sie setzten ganze Armeen von Arbeitern außer Gefecht. Sie zertrümmerten den Existenzanspruch von Hunderttausenden. Als ich in Manchester war, sah ich, wie die Polizei auf Ausgesperrte losritt. Man schlug mit Säbeln auf ihre Köpfe. Ein kleines Mädchen wurde von einem Pferd niedergetrampelt. Und ich war daran schuld." Der alte Herr schob den steifen Hut aus der Stirn und hustete. "Als ich zurückkam, stellte mich meine Familie unter Kuratel. Es paßte ihnen nicht, daß ich Geld wegzuschenken begann und daß ich erklärte, ich wolle mit Maschinen nichts mehr zu schaffen haben. Und dann ging ich fort. Sie haben zu leben, sie wohnen in meinem Haus am Starnberger See, ich bin seit einem halben Jahr ver-schollen. Vorige Woche las ich in der Zeitung, daß meine Tochter ein Kind geboren hat. So bin ich nun Großvater geworden und laufe wie ein Strolch durch Berlin." "Alter schützt vor Klugheit nicht", sagte Fabian. "Leider sind nicht alle Erfinder so sentimental." "Ich dachte daran, nach Rußland zu fahren und mich zur Verfügung zu stellen. Aber ohne Paß darf man nicht hinüber. Und wenn man meinen Namen erfährt, hält man mich erst recht zurück. In meiner Brusttasche sind Skizzen und Berechnungen für eine Webstuhlanlage, die alle bisherigen Textilmaschinen in den Schatten stellt. Millionenwerte stecken in meiner geflickten Tasche. Aber lieber will ich verhungern." Der alte Herr schlug sich stolz an die Brust und hustete wieder. "Heute abend übernachte ich Yorckstraße 93. Kurz bevor das Tor geschlossen wird, betrete ich das Haus. Wenn der Portier fragt, wohin ich will, sage ich, ich besuche Grünbergs. Die Leute wohnen in der vierten Etage. Der Mann ist Oberpostschaffner. Ich steige hinauf. Ich gehe an der Wohnung der Familie Grünberg vorbei und klettere zum Dachboden. Dort setze ich mich auf die Treppe. Viel-leicht ist die Bodentür offen. Manchmal liegt gar eine alte Matratze in irgendeiner Ecke. Morgen früh verschwinde ich dann wieder." "Woher kennen Sie Grünbergs?" "Aus dem Adreßbuch", antwortete der Erfinder. "Ich muß doch einen Hausbewohner nennen können, falls sich der Portier nach meinen Absichten erkundigt. Am näch-sten Morgen kommt der Schwindel häufig heraus. Aber die jahrtausendealte Aufforderung, vor einem grauen Haupt aufzustehen und die Alten zu ehren, hat Früchte getragen, bis zu den Portiers hinab. Außerdem wechsle ich täglich meine Adresse. Im Winter erteilte ich an einer Privatschule Physikunterricht. Es wurde leider ein Auf-klärungskurs gegen die Wunder der Technik daraus. Das gefiel weder den Schülern noch dem Direktor. Ich zog es vor, mich ein Vierteljahr lang in Postämtern zu wärmen. Jetzt brauche ich die Postämter nicht mehr. Es ist warm. Jetzt sitze ich stundenlang auf den Bahnhöfen und schaue den Menschen zu, die fortreisen, ankommen und zurück-bleiben. Das ist alles sehr unterhaltend. Ich sitze da und bin froh, daß ich lebe." Fabian notierte seine Adresse und gab sie dem alten Mann. "Heben Sie sich den Zettel gut auf. Und wenn Sie mal ein Portier vorzeitig von der Stiege holt, kommen Sie zu mir. Sie können auf meinem Sofa schlafen." Der alte Herr las den Zettel und fragte: "Was wird Ihre Wirtin dazu sagen?" Fabian zuckte die Achseln. "Wegen meines Hustens brauchen Sie sich nicht zu ängsti-gen", meinte der Alte. "Wenn ich nachts in den dunklen Treppenhäusern sitze, huste ich überhaupt nicht. Ich nehme mich dann zusammen, um die Hausbewohner nicht zu erschrecken. Eine komische Lebensführung, was? Ich habe arm angefangen, ich war später ein reicher Mann, ich bin jetzt wieder ein armer Teufel, es spielt keine Rolle. Wie's kommt, wird's gefressen. Ob mich die Sonne auf meiner Terrasse in Leoni bescheint oder hier auf dem Kreuzberg, das ist mir so egal wie der Sonne." Der alte Herr hustete und streckte die Beine weit von sich. Fabian stand auf und sagte, er müsse weiter. "Was sind Sie eigentlich von Beruf?" fragte der Erfinder. "Arbeitslos", erwiderte Fabian und schritt einer Allee zu, die in die Straßen Berlins zurückführte. Als er am Abend, taumelig von dem vielstündigen Marsch, die Wohnung betrat, wollte er sofort zu Cornelia und ihr sein Malheur berichten. Schon die bloße Vorstel-lung von der kommenden Szene rührte ihn tief. Vielleicht hatte er auch Hunger. Frau Hohlfeld, die Wirtin, vereitelte sein Vorhaben. Sie stand im Korridor und flüsterte, unnötig geheimnisvoll, aber das war ihre Art, Labude sei da. Labude saß in Fabians Zimmer und hatte offensichtlich Kopfschmerzen. Er sei gekommen, sich zu entschuldigen, weil er gestern nacht ohne Gruß den Tisch und das Lokal verlassen habe. Faktisch wollte er etwas ganz anderes. Er wollte wissen, wie Fabian über die Sache mit der Selow dachte. Labude war ein moralischer Mensch, und es war immer schon sein Ehrgeiz gewesen, seinen Lebenslauf ohne Konzept und ohne Fehler gleich ins reine zu schreiben. Er hatte als Kind niemals Löschblätter bekritzelt. Sein Sinn für Moral war eine Konsequenz der Ordnungsliebe. Die Hamburger Enttäuschung hatte sein privates Ordnungs-system und in der Folge seine Moral lädiert. Der seelische Stundenplan war gefährdet. Dem Charakter fehlte das Geländer. Nun kam er, der die Ziele liebte und brauchte, zu Fabian, dem Fachmann der Planlosigkeit. Er hoffte, von ihm zu lernen, wie man Unruhe erfahren und trotz-dem ruhig bleiben kann. "Du siehst schlecht aus", sagte Fabian. "Ich habe die Nacht kein Auge zugemacht", gestand der Freund. "Diese Selow ist schwermütig und ordinär, beides in einem Atem. Sie kann stundenlang auf dem Diwan sitzen und Schweinereien vor sich hinmurmeln, als bete sie eine Litanei. Es ist nicht zum Anhören. Alkohol trinkt sie in solchen Mengen, daß man vom bloßen Zuschauen besoffen wird. Dann fällt ihr wieder ein, daß sie mit einem Mann allein in der Wohnung ist, und man möchte sich gegen Hagelschlag versichern. Dabei empfindet sie bestimmt nicht wie eine normale Frau. Für lesbisch halte ich sie aber auch nicht. Ich glaube, obwohl das komisch klingt, sie ist homosexuell." Fabian ließ den Freund reden. Und weil er sich über nichts wunderte, wurde der andere ruhig. "Morgen fahre ich auf zwei Tage nach Frankfurt", erzählte Labude noch, bevor er sich verabschiedete. "Rassow kommt auch hin, wir wollen dort eine Initiativgruppe einrichten. Inzwischen mag das Mädchen in der Wohnung Nummer Zwei bleiben. Ihr ist's in den letzten Monaten verdammt dreckig gegangen. Sie soll sich mal ausschlafen. Auf Wiedersehen, Jakob." Dann ging er. Fabian betrat Cornelias Zimmer. Was würde sie zu der Kündigung sagen? Aber Ruth Reiter, die Bildhauerin, saß da, sah elend aus, war gar nicht erstaunt, ihm hier zu begegnen, und resümierte, was sie der Battenberg aus-führlich schon berichtet hatte. Die kleine Kulp war in die Charité gebracht worden. Sie hatte innere Verletzungen davongetragen, und Wilhelmy, der Todeskandidat mit dem Holzbein, lag seit gestern nacht im Atelier, kriegte keine Luft, keuchte und beschäftigte sich mit dem Sterben. Cornelia hatte ein paar Tassen, Teller und Bestecke aus ihrem Koffer geholt, etwas zum Essen besorgt und den Tisch hübsch garniert. Sogar eine weiße Decke und ein Blumenstrauß waren vorrätig. Die Reiter sagte, sie gehe jetzt. Aber ehe sie es vergesse: ob denn niemand wisse, wo der junge Labude wohne. Es war klar, daß sie nur deshalb gekommen war. Sie hatte gehofft, von ihrer Schulfreundin Fabians Adresse und durch Fabian Labudes Wohnung zu erfahren, da ihr das Personal der Grunewaldvilla keine Auskunft hatte geben können. "Ich weiß, wo er wohnt", meinte Fabian. "Außerdem hat er bis vor wenigen Minu-ten nebenan in meinem Zimmer gesessen. Die Adresse darf ich nicht sagen." "Er war hier?" rief die Bildhauerin. "Auf Wiedersehen!" Sie rannte davon. "Ihr fehlt die Selow", sagte Cornelia. "Ihr fehlt die schlechte Behandlung", sagte Fabian. "Mir nicht." Sie küßte ihn und zog ihn an den Tisch, daß er ihre Vorbereitungen zum Abendessen bewundere. "Gefällt dir das?" fragte sie. "Großartig. Sehr schön. Sei übrigens so nett und sage mir immer, wenn es etwas zum Bewundern gibt. Hast du etwa ein neues Kleid an? Kenne ich diese Ohrringe schon? Trugst du auch gestern den Scheitel in der Mitte? Was mir gefällt, merke ich nicht. Du mußt mich mit der Nase darauf stoßen." "Du hast nichts als Fehler", rief sie. "Jeden einzelnen deiner Fehler könnte ich hassen, alle miteinander habe ich lieb." Während des Essens erzählte sie, daß sie morgen ihren Posten antreten solle. Sie war heute einer Reihe von Kollegen, Dramaturgen, Produktionsleitern und Direk-toren vorgestellt worden und beschrieb das merkwürdige, weitläufige Haus, in dem bis unters Dach wichtige Leute saßen, aus einer Konferenz in die andere stürzten und der Entwicklung des Tonfilms das Leben sauer machten. Fabian verschob die Mitteilung auf später. Als sie mit dem Essen fertig waren, stellte sie einen Teller mit zwei belegten Broten beiseite und sagte lächelnd: "Die eiserne Ration." "Du bist rot geworden", rief er. Sie nickte. "Manchmal merkst du also doch, wenn es etwas zum Bewundern gibt." Er schlug einen kleinen Spaziergang vor. Sie zog sich an. Er überlegte inzwischen, wie er ihr die Kündigung bei-bringen wollte. Aber der Spaziergang kam nicht zustande. Als sie vor dem Haus standen, hustete jemand hinter ihnen, und ein fremder Mann wünschte guten Abend. Es war der Erfinder mit der Pelerine. "Die Beschreibung, die Sie mir von Ihrem Sofa gegeben haben, hat mir für heute den Spaß an sämtlichen Treppen und Dachböden verdor-ben", erzählte er. "Ich habe um die Yorckstraße einen Bogen gemacht und bin hierhergekommen. Eigentlich mache ich mir Vorwürfe, daß ich Sie behellige, denn schließlich sind Sie selber arbeitslos." "Arbeitslos bist du?" fragte Cornelia. "Ist das wahr?" Der alte Herr entschuldigte sich umständlich, er habe gedacht, die junge Dame wisse Bescheid. "Heute morgen hat man mir gekündigt." Fabian ließ Cornelias Arm los. "Zum Abschied bekam ich zweihundertsiebzig Mark in die Hand gedrückt. Wenn ich meine Miete vorausbezahlt habe, bleiben uns noch hundertneunzig Mark. Gestern hätte ich darüber gelacht." Als sie den alten Herrn aufs Sofa gepackt und ihm die Stehlampe danebengestellt hatten, denn er wollte an seiner geheimen Maschine herumrechnen, wünschten sie ihm gute Nacht und gingen in Cornelias Zimmer. Fabian kam noch einmal zurück und brachte dem Gast ein paar belegte Brote. "Ich verspreche, nicht zu husten", flüsterte der Alte. "Hier darf gehustet werden. Ihr Zimmernachbar geht noch ganz anderen Vergnügungen nach, ohne daß die Wirtin, eine gewisse Frau Hohlfeld, die es früher nicht nötig gehabt hat, deshalb aus dem Bett kippte. Nur wie wir's morgen früh machen, weiß ich noch nicht. Die Wirtin findet ihre Möbel reizend, und daß ein Fremder die ganze Nacht auf ihrem Sofa biwakiert, würde sie ernstlich erzürnen. Schlafen Sie gut. Ich wecke Sie morgen früh. Bis dahin wird mir schon was Passendes einfallen." "Gute Nacht, junger Freund", bemerkte der Alte und holte seine kostbaren Papiere aus der Tasche. "Empfehlen Sie mich dem Fräulein Braut." Cornelia schien so glücklich, daß Fabian sich wunderte. Eine Stunde später fraß sie bereits die eiserne Ration auf. "Ach, ist das Leben schön!" sagte sie. "Wie denkst du über die Treue?" "Kau erst fertig, bevor du so große Worte aussprichst!" Er saß neben ihr, hielt seine Knie umschlungen und blickte auf das ausgestreckte Mädchen nieder. "Ich glaube, ich warte nur auf die Gelegenheit zur Treue, und dabei dachte ich bis gestern, ich wäre dafür verdorben." "Das ist ja eine Liebeserklärung", sagte sie leise. "Wenn du jetzt heulst, zieh ich dir die Hosen stramm!" sagte er. Sie kugelte aus dem Bett, zog ihren kleinen rosafarbenen Schlüpfer an und stellte sich vor Fabian hin. Sie lächelte unter Tränen. "Ich heule", murmelte sie. "Nun halte auch du dein Versprechen." Dann bückte sie sich. Er zog sie aufs Bett. Sie sagte: "Mein Lieber, mein Lieber! Mach dir keine Sorgen." ZWÖLFTES KAPITEL Der Erfinder im Schrank Nicht arbeiten ist eine Schande Die Mutter gibt ein Gastspiel Als er am nächsten Morgen den Erfinder wecken wollte, war der schon aufgestanden, gewaschen und angezogen, saß am Tisch und rechnete. "Haben Sie gut geschlafen?" Der alte Mann war vorzüglicher Laune und schüttelte ihm die Hand. "Das geborene Schlafsofa", sagte er und streichelte die braune Sofalehne, als handle sich's um einen Pferderücken. "Muß ich jetzt verschwinden?" "Ich will Ihnen einen Vorschlag machen", meinte Fa-bian. "Während ich bade, bringt die Wirtin das Früh-stück ins Zimmer, und da darf sie Ihnen nicht begegnen, sonst gibt's Krach. Wenn sie wieder draußen ist, sind Sie mir wieder willkommen. Dann können Sie ruhig noch ein paar Stunden hierbleiben. Ich werde Sie allerdings allein lassen, weil ich mich um Arbeit kümmern muß." "Das macht nichts", erklärte der Alte. "Ich werde in den Büchern blättern, wenn Sie erlauben. Wohin gehe ich aber, während Sie baden?" "Ich dachte, in den Schrank", sagte Fabian. "Der Schrank als Wohnstätte, das war bis heute ein Privileg der Ehebruchslustspiele. Brechen wir mit der Tradition, verehrter Gastfreund! Ist Ihnen mein Vorschlag ange-nehm?" Der Erfinder öffnete den Schrank, blickte skeptisch hin-ein und fragte: "Pflegen Sie sehr lange zu baden?" Fabian beruhigte ihn, schob den zweiten Anzug, den er besaß, beiseite und hieß den Gast einsteigen. Der alte Herr nahm seine Pelerine um, setzte den Hut auf, klemmte den Schirm unter den Arm und kroch in den Schrank, der in allen Fugen krachte. "Und wenn sie mich hier findet?" "Dann ziehe ich am Ersten aus." Der Erfinder stützte sich auf den Schirm, nickte und sagte: "Nun scheren Sie sich in die Wanne!" Fabian schloß den Schrank zu, nahm vorsichtshalber den Schlüssel an sich und rief im Korridor: "Frau Hohlfeld, das Frühstück!" Als er das Badezimmer betrat, saß schon Cornelia, über und über eingeseift, in der Wanne und lachte. "Du mußt mir den Rücken abreiben", flüsterte sie. "Ich habe so entsetzlich kurze Ärmchen." "Die Reinlichkeit wird mir zum Vergnügen", bemerkte Fabian und seifte ihr den Rücken. Später vergalt sie ihm Gleiches mit Gleichem. Zum Schluß saßen sich beide im Wasser gegenüber und spielten hohen Seegang. "Schrecklich", sagte er, "in meinem Schrank steht inzwi-schen der König der Erfinder und wartet auf seine Befrei-ung. Ich muß mich beeilen." Sie kletterten aus der Wan-ne und frottierten einander, bis die Haut brannte. Dann trennten sie sich. "Auf Wiedersehen am Abend", flüsterte sie. Er küßte sie. Er verabschiedete sich von ihren Augen, von ihrem Mund und Hals, von jedem Körperteil ein-zeln. Dann lief er in sein Zimmer. Das Frühstück war eingetroffen. Er sperrte den Schrank auf. Der alte Herr stieg mit steifen Beinen heraus und hustete lange, um das Versäumte nachzuholen. "Nun der zweite Teil der Komödie", sagte Fabian, ging in den Korridor, öffnete die Flurtür, schlug sie wieder zu und rief: "Großartig, Onkel, daß du mich mal besuchst. Tritt bitte näher!" Er komplimentierte die imaginäre Person ins Zimmer und nickte dem verwunderten Erfin-der zu. "So, nun sind Sie offiziell eingetroffen. Nehmen Sie Platz. Hier ist eine zweite Tasse." "Und Ihr Onkel bin ich außerdem." "Verwandtschaftliche Beziehungen wirken auf Wirtinnen immer schmerzstillend", erläuterte Fabian. "Aber der Kaffee ist gut. Darf ich mir ein Brötchen nehmen?" Der alte Herr begann den Schrank zu verges-sen. "Wenn ich nicht unter Kuratel stünde, machte ich Sie zu meinem Universalerben, geehrter Herr Neffe", sagte er und aß mit großer Andacht. "Ihr hypothetischer Antrag ehrt mich", entgegnete Fa-bian. Sie stießen auf Drängen des neuen Onkels mit den Kaffeetassen an und riefen: "Prost!" "Ich liebe das Leben", gestand der Alte und wurde fast verlegen. "Ich liebe das Leben erst recht, seit ich arm bin. Manchmal könnte ich vor Freude in den Sonnenschein hineinbeißen, oder in die Luft, die in den Parks weht. Wissen Sie, woran das liegt? Ich denke oft an den Tod, und wer tut das heute? Niemand denkt an den Tod. Jeder läßt sich von ihm überraschen wie von einem Eisenbahn-zusammenstoß oder einer anderen unvorhergesehenen Katastrophe. So dumm sind die Menschen geworden. Ich denke täglich an ihn, denn täglich kann er winken. Und weil ich an ihn denke, liebe ich das Leben. Es ist eine herrliche Erfindung, in Erfindungen bin ich sachver-ständig." "Und die Menschen?" "Der Globu