Эрих Кестнер. Фабиан (germ) Erich Kestner. Fabian --------------------------------------------------------------- В кн.: "Erich Kästner. Fabian. Die Geschichte eines Moralisten". Atrium Verlag, Zürich. Printed in Germany 1999. OCR & spellcheck by Pashka-Nemets, 5 February 2003 --------------------------------------------------------------- Vorwort des Verfassers Über dieses nunmehr bald fünfundzwanzig Jahre alte Buch kursierten im Laufe der Zeit recht verschiedene Urteile, und es wurde noch von manchen, die es lobten, mißverstanden. Wird man's heute besser verstehen? Ge-wiß nicht! Wie denn auch? Daß im Dritten Reich die Geschmacksurteile verstaatlicht, in Phrasen geliefert und millionenfach geschluckt wurden, hat Geschmack und Urteil breiter Kreise bis in unsere Tage verdorben. Und heute sind, noch ehe sie sich regenerieren konnten, bereits neue, genauer, sehr alte Mächte fanatisch dabei, wiederum standardisierte Meinungen - gar nicht so verschieden von den vorherigen - durch Massenimpfung zu verbreiten. Noch wissen viele nicht, viele nicht mehr, daß man sich Urteile selber bilden kann und sollte. Soweit sie sich darum bemühen, wissen sie nicht, wie man's anfängt. Und schon sind, angeblich zum Schütze der Jugend, Kuratelgesetze gegen moderne Kunst und Literatur in Vorbereitung. Das Wort "zersetzend" steht im Vokabular der Rückschrittler längst wieder an erster Stelle. Verunglimpfung ist eines jener Mittel, die den Zweck nicht nur heiligen, sondern ihn, nur zu oft, auch erreichen. So wird heute noch weniger als damals begriffen werden, daß der "Fabian" keineswegs ein "unmoralisches", sondern ein ausgesprochen moralisches Buch ist. Der ursprüngliche Titel, den, samt einigen krassen Kapiteln, der Erstverleger nicht zuließ, lautete "Der Gang vor die Hunde". Damit sollte, schon auf dem Buchumschlag, deutlich werden, daß der Roman ein bestimmtes Ziel verfolgte: Er wollte warnen. Er wollte vor dem Abgrund warnen, dem sich Deutschland und damit Europa näherten! Er wollte mit angemessenen, und das konnte in diesem Falle nur bedeuten, mit allen Mitteln in letzter Minute Gehör und Besinnung erzwingen. Die große Arbeitslosigkeit, die der wirtschaftlichen folgende seelische Depression, die Sucht, sich zu betäuben, die Aktivität bedenkenloser Parteien, das waren Sturmzeichen der nahenden Krise. Und auch die unheimliche Stille vor dem Sturm fehlte nicht - die einer epidemischen Lähmung gleichende Trägheit der Herzen. Es trieb manche, sich dem Sturm und der Stille entgegenzustellen. Sie wurden beiseite geschoben. Lieber hörte man den Jahr marktschreiern und Trommlern zu, die ihre Senfpflaster und giftigen Patentlösungen anpriesen. Man lief den Rattenfängern nach, hinein in den Abgrund, in dem wir nun, mehr tot als lebendig, angekommen sind und uns einzurichten versuchen, als sei nichts geschehen. Das vorliegende Buch, das großstädtische Zustände von damals schildert, ist kein Poesie- und Photographiealbum, sondern eine Satire. Es beschreibt nicht, was war, sondern es übertreibt. Der Moralist pflegt seiner Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten. Die Karikatur, ein legitimes Kunstmittel, ist das äußerste, was er vermag. Wenn auch das nicht hilft, dann hilft überhaupt nichts mehr. Daß überhaupt nichts hilft, ist - damals wie heute - keine Seltenheit. Eine Seltenheit wäre es allerdings, wenn das den Moralisten entmutigte. Sein angestammter Platz ist und bleibt der verlorene Posten. Ihn füllt er, so gut er kann, aus. Sein Wahlspruch hieß immer und heißt auch jetzt: Dennoch! Erich Kästner ERSTES KAPITEL Ein Kellner als Orakel Der andere geht trotzdem hin Ein Institut für geistige Annäherung Fabian saß in einem Café namens Spalteholz und las die Schlagzeilen der Abendblätter. Englisches Luftschiff explodiert über Beauvais, Strychnin lagert neben Linsen, Neunjähriges Mädchen aus dem Fenster gesprungen, Abermals erfolglose Ministerpräsidentenwahl, Der Mord im Lainzer Tiergarten, Skandal im Städtischen Beschaffungsamt, Die künstliche Stimme in der Westentasche, Ruhrkohlenabsatz läßt nach, Die Geschenke für Reichsbahndirektor Neumann, Elefanten auf dem Bürgersteig, Nervosität an den Kaffeemärkten, Skandal um Clara Bow, Bevorstehender Streik von 140000 Metallarbeitern, Verbrecherdrama in Chikago, Verhandlungen in Moskau über das Holzdumping, Starhembergjäger rebellieren. Das tägliche Pensum. Nichts Besonderes. Er nahm einen Schluck Kaffee und fuhr zusammen. Das Zeug schmeckte nach Zucker. Seitdem er, zehn Jahre war das her, in der Mensa am Oranienburger Tor dreimal wöchentlich Nudeln mit Sacharin hinuntergewürgt hatte, verabscheute er Süßes. Er zündete sich eilig eine Zigarette an und rief den Kellner. "Womit kann ich dienen?" fragte der. "Antworten Sie mir auf eine Frage." "Bitte schön." "Soll ich hingehen oder nicht?" "Wohin meinen der Herr?" "Sie sollen nicht fragen, Sie sollen antworten. Soll ich hingehen oder nicht?" Der Kellner kratzte sich unsichtbar hinter den Ohren. Dann trat er von einem Plattfuß auf den anderen und meinte verlegen: "Das beste wird sein, Sie gehen nicht hin. Sicher ist sicher, mein Herr." Fabian nickte. "Gut. Ich werde hingehen. Zahlen." "Aber ich habe Ihnen doch abgeraten!" "Deshalb geh ich ja hin! Bitte zahlen!" "Wenn ich zugeraten hätte, wären Sie nicht gegangen?" "Dann auch. Bitte zahlen!" "Das versteh ich nicht!" erklärte der Kellner ärgerlich. "Warum haben Sie mich dann überhaupt gefragt?" "Wenn ich das wüßte", antwortete Fabian. "Eine Tasse Kaffee, ein Butterbrot, fünfzig, dreißig, achtzig, neunzig Pfennig", deklamierte der andere. Fabian legte eine Mark auf den Tisch und ging. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Wenn man am Wittenbergplatz auf den Autobus I klettert, an der Potsdamer Brücke in eine Straßenbahn umsteigt, ohne deren Nummer zu lesen, und zwanzig Minuten später den Wagen verläßt, weil plötzlich eine Frau drinsitzt, die Friedrich dem Großen ähnelt, kann man wirklich nicht wissen, wo man ist. Er folgte drei hastig marschierenden Arbeitern und geriet, über Holzkohlen stolpernd, an Bauzäunen und grauen Stundenhotels entlang, zum Bahnhof Jannowitzbrücke. Im Zug holte er die Adresse heraus, die ihm Bertuch, der Bürochef, aufgeschrieben hatte: Schlüterstraße 23, Frau Sommer. Er fuhr bis zum Zoo. Auf der Joachimsthaler Straße fragte ihn ein dünnbeiniges, wippendes Fräulein, wie er drüber dächte. Er beschied das Anerbieten abschlägig, drohte mit dem Finger und entkam. Die Stadt glich einem Rummelplatz. Die Häuserfronten waren mit buntem Licht beschmiert, und die Sterne am Himmel konnten sich schämen. Ein Flugzeug knatterte über die Dächer. Plötzlich regnete es Aluminiumtaler. Die Passanten blickten hoch, lachten und bückten sich. Fabian dachte flüchtig an jenes Märchen, in dem ein kleines Mädchen sein Hemd hochhebt, um das Kleingeld aufzufangen, das vom Himmel fällt. Dann holte er von der steifen Krempe eines fremden Hutes einen Taler herunter. "Besucht die Exotikbar, Nollendorfplatz 3, Schöne Frau en, Nacktplastiken, Pension Condor im gleichen Hause", stand darauf. Fabian hatte mit einem Male die Vorstellung, er fliege dort oben im Aeroplan und sehe auf sich hinunter, auf den jungen Mann in der Joachimsthaler Straße, im Gewimmel der Menge, im Lichtkreis der Laternen und Schaufenster, im Straßengewirr der fiebrig entzündeten Nacht. Wie klein der Mann war. Und mit dem war er identisch! Er überquerte den Kurfürstendamm. An einem der Giebel rollte eine Leuchtfigur, ein Türkenjunge war es, mit den elektrischen Augäpfeln. Da stieß jemand heftig gegen Fabians Stiefelabsatz. Er drehte sich mißbilligend um. Es war die Straßenbahn gewesen. Der Schaffner fluchte. "Passense auf!" schrie der Polizist. Fabian zog den Hut und sagte: "Werde mir Mühe geben." In der Schlüterstraße öffnete ein grünlivrierter Liliputaner, erklomm eine zierliche Leiter, half dem Besucher aus dem Mantel und verschwand. Kaum war der kleine Grüne weg, rauschte eine üppige Dame, bestimmt Frau Sommer, durch den Vorhang und sagte: "Darf ich Sie in mein Büro bitten?" Fabian folgte. "Mir wurde Ihr Klub von einem gewissen Herrn Bertuch empfohlen." Sie blätterte in einem Heft und nickte. "Bertuch, Friedrich Georg, Bürochef, 40 Jahre, mittelgroß, brünett, Karlstraße 9, musikliebend, bevorzugt schlanke Blondinen, nicht über fünfundzwanzig Jahre alt." "Das ist er!" "Herr Bertuch verkehrt seit Oktober bei mir und war in dieser Zeit fünfmal anwesend." "Das spricht für das Institut." "Die Anmeldegebühr beträgt zwanzig Mark. Jeder Besuch kostet zehn Mark extra." "Hier sind dreißig Mark." Fabian legte das Geld auf den Schreibtisch. Die üppige Dame steckte die Scheine in eine Schublade, nahm einen Federhalter und sagte: "Die Personalien?" "Fabian, Jakob, 32 Jahre alt, Beruf wechselnd, zur Zeit Reklamefachmann, Schaperstraße 17, herzkrank, Haarfarbe braun. Was müssen Sie noch wissen?" "Haben Sie hinsichtlich der Damen bestimmte Wünsche?" "Ich möchte mich nicht festlegen. Mein Geschmack neigt zu Blond, meine Erfahrung spricht dagegen. Meine Vorliebe gehört großen Frauen. Aber das Bedürfnis ist nicht gegenseitig. Lassen Sie die Rubrik frei." Irgendwo wurde Grammophon gespielt. Die üppige Dame erhob sich und erklärte ernst: "Ich darf Sie, bevor wir hineingehen, mit den wichtigsten Statuten bekannt machen. Annäherungen der Mitglieder untereinander werden nicht übelgenommen, sondern erwartet. Die Damen genießen dieselben Rechte wie die Herren. Von der Existenz, der Adresse und den Gepflogenheiten des Instituts ist nur vertrauenswürdigen Herrschaften Mitteilung zu machen. Der idealen Absichten des Unter-nehmens ungeachtet sind die Konsumkosten sofort zu begleichen. Innerhalb der Klubräume hat keins der Paare Anspruch darauf, respektiert zu werden. Paare, die ungestört zu bleiben wünschen, werden gebeten, den Klub zu verlassen. Das Etablissement dient der Anbahnung von Beziehungen, nicht den Beziehungen selber. Mitglieder, die einander vorübergehend zu gegenseitigem Befund Gelegenheit gaben, werden ersucht, das wieder zu vergessen, da nur auf diese Weise Komplikationen vermeidbar sind. Haben Sie mich verstanden, Herr Fabian?" "Vollkommen." "Dann bitte ich Sie, mir zu folgen." Dreißig bis vierzig Personen mochten anwesend sein. Im ersten Raum wurde Bridge gespielt. Nebenan wurde getanzt. Frau Sommer wies dem neuen Mitglied einen freien Tisch an, sagte, daß man sich notfalls jederzeit an sie wenden könne, und verabschiedete sich. Fabian nahm Platz, bestellte beim Kellner Kognaksoda und sah sich um. War er auf einer Geburtstagsgesellschaft? "Die Menschen sehen harmloser aus, als sie sind", bemerkte ein kleines schwarzhaariges Fräulein und setzte sich neben ihn. Fabian bot ihr zu rauchen an. "Sie wirken sympathisch", sagte sie. "Sie sind im Dezember geboren." "Im Februar." "Aha! Sternbild der Fische und paar Tropfen Wassermann. Ziemlich kalte Natur. Sie kommen nur aus Neugierde?" "Die Atomtheoretiker behaupten, noch die kleinsten Substanzpartikel bestünden aus umeinander kreisenden elektrischen Energiemengen. Halten Sie diese Ansicht für eine Hypothese oder für eine Anschauung, die dem wahren Sachverhalt entspricht?" "Empfindlich sind Sie auch noch?" rief die Person. "Aber es macht nichts. Sind Sie hier, um sich eine Frau zu suchen?" Er hob die Schultern. "Ist das ein förmlicher Antrag?" "Unsinn! Ich war zweimal verheiratet, das genügt vorläufig. Die Ehe ist nicht die richtige Ausdrucksform für mich. Dafür interessieren mich die Männer zu sehr. Ich stelle mir jeden, den ich sehe und der mir gefällt, als Ehemann vor." "In seinen prägnantesten Eigenschaften, will ich hoffen." Sie lachte, als hätte sie den Schlucken, und legte die Hand auf sein Knie. "Richtig gehofft! Man behauptet, ich litte an stellungssuchender Phantasie. Sollten Sie im Verlauf des Abends das Bedürfnis haben, mich nach Hause zu bringen, meine Wohnung und ich sind klein, aber stabil." Er entfernte die fremde und unruhige Hand von seinem Knie und meinte: "Möglich ist alles. Und jetzt will ich mir das Lokal ansehen." Er kam nicht dazu. Wie er sich erhob und umwandte, stand eine große, programmäßig gewachsene Dame vor ihm und sagte: "Man wird gleich tanzen." Sie war größer als er und blond dazu. Die kleine schwarzhaarige Schwadroneuse befolgte die Statuten und ver-schwand. Der Kellner setzte das Grammophon in Gang. An den Tischen entstand Bewegung. Man tanzte. Fabian betrachtete die Blondine sorgfältig. Sie hatte ein blasses infantiles Gesicht und sah zurückhaltender aus, als sie, ihrem Tanze nach, zu sein schien. Er schwieg und spürte, daß in wenigen Minuten jener Grad von Schweigsamkeit erreicht wäre, der den Anfang eines Gesprächs, eines belanglosen dazu, unmöglich macht. Glücklicherweise trat er ihr auf den Fuß. Sie wurde gesprächig. Sie zeigte ihm die zwei Damen, die einander neulich wegen eines Mannes geohrfeigt und die Kleider aufgerissen hatten. Sie berichtete, daß Frau Sommer ein Verhältnis mit dem grünen Liliputaner habe, und erklärte, daß sie sich diese Liaison nicht auszumalen wage. Schließlich fragte sie, ob er noch bleiben wolle; sie breche auf. Er ging mit. Am Kurfürstendamm winkte sie einem Taxi, nannte eine Adresse, stieg ein und nötigte ihn, neben ihr Platz zu nehmen. "Aber ich habe nur noch zwei Mark", erklärte er. "Das macht fast gar nichts", gab sie zur Antwort, und dem Chauffeur rief sie zu: "Licht aus!" Es wurde dunkel. Der Wagen ruckte an und fuhr. Schon in der ersten Kurve fiel sie über ihn her und biß ihn in die Unterlippe. Er schlug mit der Schläfe gegen das Verdeckscharnier, hielt sich den Kopf und sagte: "Aua! Das fängt gut an." "Sei nicht so empfindlich", befahl sie und überschüttete ihn mit Aufmerksamkeiten. Ihm kam der Überfall zu plötzlich. Und der Schädel tat ihm weh. Fabian war nicht bei der Sache. "Ich wollte eigentlich, bevor Sie mich erwürgen, noch einen Brief schreiben", röchelte er. Sie boxte ihn vors Schlüsselbein, lachte, ohne eine Miene zu verziehen, die Tonleiter hinauf und herunter und strangulierte weiter. Seine Bemühung, sich der Frau zu erwehren, wurde zusehends falsch ausgelegt. Jede Wegbiegung führte zu neuen Verwicklungen. Er beschwor das Schicksal, dem Auto weitere Kurven zu ersparen. Das Schicksal hatte Ausgang. Als der Wagen endlich hielt, überpuderte die Blonde ihr Gesicht, bezahlte die Fahrt und äußerte vor der Haustür: "Erstens ist dein Gesicht voll roter Flecken, und zweitens trinkst du bei mir eine Tasse Tee." Er rieb sich die Lippenpomade von den Backen und sagte: "Ihr Antrag ehrt mich, doch ich muß morgen zeitig im Büro sein." "Mach mich nicht wütend. Du bleibst bei mir. Das Mädchen wird dich wecken." "Aber ich werde nicht aufstehen. Nein, ich muß zu Hause schlafen. Ich erwarte früh sieben Uhr ein dringendes Telegramm. Das bringt die Wirtin ms Zimmer und rüttelt mich, bis ich aufwache." "Wieso weißt du schon jetzt, daß du ein Telegramm erhalten wirst?" "Ich weiß sogar, was drinsteht." "Nämlich?" "Es wird heißen: "Scher dich aus dem Bett. Dein treuer Freund Fabian." Fabian, das bin ich." Er blinzelte in das Laub der Bäume und freute sich über den gelben Glanz der Laternen. Die Straße lag ganz still. Eine Katze lief geräuschlos ins Dunkel. Wenn er jetzt die grauen Häuser entlangspazieren könnte! "Die Geschichte mit dem Telegramm ist doch nicht wahr?" "Nein, aber das ist der pure Zufall", sagte er. "Wozu kommst du in den Klub, wenn dir an den Konsequenzen nichts liegt?" fragte sie ärgerlich und schloß die Tür auf. "Ich erfuhr die Adresse und bin sehr neugierig." "Also hopp!" sagte sie. "Der Neugier sind keine Schranken gesetzt." Die Tür schloß sich hinter ihnen. ZWEITES KAPITEL Es gibt sehr aufdringliche Damen Ein Rechtsanwalt hat nichts dagegen Betteln verdirbt den Charakter Im Fahrstuhl war ein Wandspiegel. Fabian zog das Taschentuch und rieb die roten Flecken aus dem Gesicht. Die Krawatte saß schief. Die Schläfe brannte. Und die blasse Blondine sah auf ihn herunter. "Wissen Sie, was eine Megäre ist?" fragte er. Sie legte den Arm um ihn. "Ich weiß es, aber ich bin hübscher." Am Türschild stand: Moll. Das Dienstmädchen öffnete. "Bringen Sie uns Tee." "Der Tee steht in Ihrem Zimmer." "Gut. Gehen Sie schlafen!" Das Mädchen verschwand im Korridor. Fabian folgte der Frau. Sie führte ihn geradewegs ins Schlafzimmer, schenkte Tee ein, stellte Kognak und Zigaretten zurecht und sagte mit einer umfassenden Geste: "Bediene dich!" "Mein Gott, ein Tempo haben Sie am Leibe!" "Wo?" fragte sie. Er überhörte das. "Sie heißen Moll?" "Irene Moll sogar, damit Leute mit Gymnasiumbildung etwas zu lachen haben. Setz dich. Ich komme gleich wieder." Er hielt sie zurück und gab ihr einen Kuß. "Na, es wird ja langsam", meinte sie und entfernte sich. Er trank einen Schluck Tee und ein Glas Kognak. Dann musterte er das Zimmer. Das Bett war niedrig und breit. Die Lampe gab indirektes Licht. Die Wände waren mit Spiegelglas bespannt. Er trank noch einen Kognak und trat ans Fenster. Vergittert war es nicht. Was hatte die Frau mit ihm vor? Fabian war zweiunddreißig Jahre alt und hatte sich nachts fleißig umgetan, auch dieser Abend begann ihn zu reizen. Er trank den dritten Kognak und rieb sich die Hände. Er betrieb die gemischten Gefühle seit langem aus Liebhaberei. Wer sie untersuchen wollte, mußte sie haben. Nur während man sie besaß, konnte man sie beobachten. Man war ein Chirurg, der die eigene Seele aufschnitt. "So, nun wird der kleine Junge geschlachtet", sagte die Blondine. Sie trug jetzt einen Schlafanzug aus schwarzen Spitzen. Er trat einen Schritt zurück. Sie aber rief "Hurra!" und sprang ihm derart an den Hals, daß er die Balance verlor, kippte und samt der Dame auf den Fußboden zu sitzen kam. "Ist sie nicht schrecklich?" fragte da eine fremde Stimme. Fabian blickte verwundert hoch. Im Türrahmen stand, mit einem Pyjama bekleidet, ein dürrer, großnasiger Mensch und gähnte. "Was wollen Sie denn hier?" fragte Fabian. "Entschuldigen Sie, mein Herr, aber ich konnte nicht wissen, daß Sie mit meiner Frau bereits durchs Zimmer kriechen." "Mit Ihrer Frau?" Der Eindringling nickte, gähnte verzweifelt und sagte vorwurfsvoll: "Irene, wie konntest du den Herrn in eine so schiefe Lage bringen! Wenn du schon wünschst, daß ich mir deine Neuerwerbungen anschaue, kannst du sie mir wenigstens gesellschaftsfähig präsentieren. Auf dem Teppich! Das wird dem Herrn sicher nicht recht sein! Und ich schlief so schön, als du mich wecktest... Ich heiße Moll, mein Herr, bin Rechtsanwalt und außerdem", er gähnte herzzerreißend, "und außerdem der Gatte dieser weiblichen Person, die sich auf Ihnen breitmacht." Fabian schob die Blondine von sich herunter, stand auf und ordnete seinen Scheitel. "Hält sich Ihre Gattin einen männlichen Harem? Mein Name ist Fabian." Moll kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. "Es freut mich, einen so sympathischen jungen Mann kennenzulernen. Die Umstände sind ebenso gewöhnlich wie unge-wöhnlich. Das ist Ansichtssache. Aber falls Sie der Gedanke beruhigt: ich bin daran gewöhnt. Nehmen Sie Platz." Fabian setzte sich. Irene Moll rutschte auf die Armlehne, streichelte ihn und sagte zu ihrem Mann: "Wenn er dir nicht gefällt, brech ich den Kontrakt." "Aber er gefällt mir ja", antwortete der Rechtsanwalt. "Sie reden über mich, als wäre ich ein Stück Streuselkuchen oder ein Rodelschlitten", meinte Fabian. "Ein Rodelschlitten bist du, mein Kleiner!" rief die Frau und preßte seinen Kopf gegen ihre volle, schwarz vergitterte Brust. "Himmeldonnerwetter!" schrie er. "Lassen Sie mich gefälligst in Ruhe!" "Du darfst deinen Besuch nicht ärgern, liebe Irene", erklärte Moll. "Ich werde mit ihm in mein Arbeitszimmer gehen und ihm dort alles Wissenswerte mitteilen. Du vergißt, daß er die Situation als merkwürdig empfinden muß. Ich schicke ihn dir dann wieder herüber. Gute Nacht." Der Rechtsanwalt gab seiner Frau die Hand. Sie stieg in ihr niedriges Bett, stand betrübt und einsam zwischen den Kissen und sagte: "Gute Nacht, Moll, schlaf gut. Aber red ihn nicht tot. Ich brauch ihn noch." "Ja, ja", antwortete Moll und zog den Gast mit sich fort. Sie nahmen im Arbeitszimmer Platz. Der Rechtsanwalt zündete sich eine Zigarette an, fröstelte, legte eine Kamelhaardecke über die Knie und blätterte in einem Ak-tenbündel. "Mich geht zwar die Sache nichts an", begann Fabian, "aber was Sie sich von der Frau bieten lassen, steigt auf Bäume. Werden Sie oft von ihr aus dem Bett geholt, um die Liebhaber zu taxieren?" "Sehr oft, mein Herr. Ursprünglich erwirkte ich mir diese Begutachtung als verbrieftes Recht. Nach dem ersten Jahr unserer Ehe setzten wir einen Kontrakt auf, dessen Paragraph 4 lautet: "Die Vertragspartnerin verpflichtet sich, jeden Menschen, mit dem sie in intime Beziehungen zu treten wünscht, zuvor ihrem Gatten, Herrn Doktor Felix Moll, vorzuführen. Spricht sich dieser gegen den Betreffenden aus, so ist Frau Irene Moll angewiesen, unverzüglich auf die Ausführung ihres Vorhabens zu verzichten. Jedes Vergehen gegen den Paragraphen wird mit einer hälftigen Kürzung der finanziellen Monatszuwendung geahndet." Der Kontrakt ist sehr interessant. Soll ich ihn in extenso vorlesen?" Moll holte den Schreibtischschlüssel aus der Tasche. "Bemühen Sie sich nicht!" Fabian wehrte ab. "Wissen möchte ich nur, wieso Sie auf den Gedanken verfielen, einen solchen Kontrakt überhaupt aufzusetzen." "Meine Frau träumte so schlecht." "Wie?" "Sie träumte. Sie träumte entsetzliche Dinge. Es war offensichtlich, daß ihre sexuellen Bedürfnisse proportional der Ehedauer zunahmen und Wunschträume erzeugten, von deren Inhalt Sie, mein Herr, sich glücklicherweise noch keine Vorstellung machen können. Ich zog mich zurück, und sie bevölkerte ihr Schlafzimmer mit Chinesen, Ringkämpfern und Tänzerinnen. Was blieb mir übrig? Wir schlössen einen Vertrag." "Meinen Sie nicht, daß eine andere Behandlung erfolgreicher und geschmackvoller gewesen wäre?" fragte Fabian ungeduldig. "Zum Beispiel, mein Herr?" Der Rechtsanwalt setzte sich aufrecht. "Zum Beispiel: pro Abend fünfundzwanzig hintendrüber?" "Ich hab's versucht. Es tat mir zu weh." "Das kann ich gut verstehen." "Nein!" rief der Rechtsanwalt. "Das können Sie nicht verstehen! Irene ist sehr kräftig, mein Herr." Moll senkte den Kopf. Fabian zog eine weiße Nelke aus der Schreibtischvase, steckte die Blume ins Knopfloch, erhob sich, lief im Zimmer umher und rückte die Bilder gerade. Vermutlich hatte es dem alten langen Kerl auch noch Vergnügen gemacht, von seiner Frau übers Knie gelegt zu werden. "Ich will gehen", sagte er. "Geben Sie mir den Hausschlüssel!" "Ist das Ihr Ernst?" fragte Moll ängstlich. "Aber Irene erwartet Sie doch. Bleiben Sie, um des Himmels willen! Sie wird außer sich geraten, wenn sie sieht, daß Sie gegangen sind! Sie wird denken, ich hätte Sie weggeschickt. Bleiben Sie bitte! Sie hat sich so darauf gefreut. Gönnen Sie ihr doch das kleine Vergnügen!" Der Mann war aufgesprungen und packte den Besucher am Jackett. "Bleiben Sie doch! Sie werden es nicht bereuen. Sie werden wiederkommen. Sie werden unser Freund bleiben. Und ich werde Irene in guten Händen wissen. Tun Sie's mir zu Gefallen." "Vielleicht wollen Sie mir auch noch ein sicheres Monatseinkommen garantieren?" "Darüber ließe sich reden, mein Herr. Ich bin nicht unvermögend." "Geben Sie mir den Hausschlüssel, aber etwas plötzlich! Ich eigne mich nicht für den Posten." Doktor Moll seufzte, kramte auf dem Schreibtisch, gab Fabian einen Schlüsselbund und sagte: "Jammerschade, Sie waren mir von Anfang an sympathisch. Behalten Sie die Schlüssel ein paar Tage. Vielleicht überlegen Sie sich's. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, Sie wiederzusehen." Fabian knurrte: "Gute Nacht", ging leise durch die Diele, nahm Hut und Mantel, öffnete die Tür, zog sie vorsichtig hinter sich zu und galoppierte die Treppe hinunter. Auf der Straße holte er tief Atem und schüttelte den Kopf. Da spazierten die Menschen hier unten vorüber und hatten keine Ahnung, wie verrückt es hinter den Mauern zuging! Die märchenhafte Gabe, durch Mauern und verhängte Fenster zu blicken, war eine Kleinigkeit gegen die Leistung, das, was man dann sähe, zu ertragen. "Ich bin sehr neugierig", hatte er der blonden Person erzählt, und nun lief er auf und davon, statt seine Neugier mit dem Ehepaar Moll zu füttern. Dreißig Mark war er losgeworden. Zwei Mark hatte er noch in der Tasche. Aus dem Abendessen wurde nichts. Er pfiff sich eins, ging kreuz und quer durch düstere, unbekannte Alleen und geriet, aus Versehen, vor den Bahnhof Heerstraße. Er fuhr bis zum Zoo, dort sprang er m die Untergrundbahn, stieg am Wittenbergplatz um und kam in der Spichernstraße aus der Unterwelt wieder herauf unter den freien Himmel. Er ging in sein Stammcafé. Nein, Doktor Labude sei nicht mehr da. Er habe bis elf Uhr gewartet. Fabian setzte sich, bestellte Kaffee und rauchte. Der Wirt, ein gewisser Kowalski, erkundigte sich nach dem werten Befinden. Heute abend sei übrigens etwas sehr Komisches passiert. Kowalski lachte, daß die falschen Zähne blitzten. Der Kellner Nietenführ habe es zuerst beobachtet. "Dort drüben am runden Tisch saß ein junges Paar. Die beiden unterhielten sich prächtig. Die Frau streichelte die Hand des Mannes in einem fort. Sie lachte, zündete ihm eine Zigarette an und war von einer Liebenswürdigkeit, die nicht häufig ist." "Das ist doch nicht komisch." "Warten Sie ab, bester Herr Fabian. Warten Sie nur ab! Die Frau - hübsch war sie, das muß man ihr lassen - poussierte gleichzeitig mit einem Herrn vom Nebentisch. Und das in einer Weise! Nietenführ holte mich unauffällig heran. Der Anblick war toll. Der Kerl steckte ihr schließlich einen Zettel zu. Sie las, nickte, schrieb ihrerseits einen Wisch und warf ihn auf den Nebentisch. Währenddessen sprach sie aber auch auf ihren Freund ein, erzählte ihm Geschichten, über die er sich freute - ich habe schon sehr tüchtige Frauen gesehen, aber diese Simultanspielerin übertraf alle." "Warum ließ er sich denn das gefallen?" "Einen Moment, bester Herr Fabian. Die Pointe kommt sofort! Also, wir wunderten uns natürlich auch, warum er sich das bieten ließ. Er saß zufrieden neben ihr, lächelte einfältig, legte den Arm um ihre Schultern, und während-dessen nickte sie dem Mann vom Nebentisch zu. Der nickte zurück, machte Zeichen, und uns blieb die Spucke weg. Nietenführ ging dann hinüber, weil sie zahlen wollte." Herr Kowalski steckte den massigen Kopf hoch und lachte himmelwärts. "Nun, woran lag's?" "Der Mann, mit dem sie zusammensaß, war blind!" Der Wirt machte eine Verbeugung und lief, laut lachend, davon. Fabian blickte erstaunt hinterher. Der Fortschritt der Menschheit war unverkennbar. An der Tür ging es lebhaft zu. Nietenführ und der Hilfskellner waren damit beschäftigt, einen schäbig gekleideten Mann hinauszudrängen. "Scheren Sie sich auf der Stelle fort. Den ganzen Tag diese Bettelei, das ist ekelhaft", sagte Nietenführ zischend. Und der Hilfskellner zerrte den Menschen, der blaß war und kein Wort sprach, hin und her. Fabian sprang auf, lief zu der Gruppe und rief den Kellnern zu: "Lassen Sie sofort den Herrn los!" Die zwei gehorchten widerstrebend. "Da sind Sie ja", meinte Fabian und gab dem Bettler die Hand. "Es tut mir außerordentlich leid, daß man Sie gekränkt hat. Entschuldigen Sie und kommen Sie an meinen Tisch." Er führte den Mann, der nicht wußte, wie ihm geschah, in seine Ecke, hieß ihn Platz nehmen und fragte: "Was möchten Sie essen? Wollen Sie ein Glas Bier trinken?" "Sie sind sehr freundlich", sagte der Bettler. "Aber ich werde Ihnen Ungelegenheiten machen." "Hier ist die Speisekarte. Suchen Sie sich, bitte, etwas aus." "Das geht nicht! Man wird mich vom Tisch wegholen und hinausschmeißen." "Das wird man nicht tun! Nehmen Sie sich zusammen! Bloß, weil Ihr Jackett geflickt ist und weil Ihnen der Magen knurrt, wagen Sie nicht, richtig auf dem Stuhl zu sitzen? Sie sind ja selber mitschuldig, daß man Sie nirgends durch die Tür läßt." "Wenn man zwei Jahre arbeitslos ist, denkt man anders darüber", sagte der Mann. "Ich schlafe am Engelufer in der Herberge. Zehn Mark zahlt mir die Fürsorge. Mein Magen ist krank vom vielen Kaviar." "Was sind Sie von Beruf?" "Bankangestellter, wenn ich mich recht entsinne. Im Gefängnis war ich auch schon. Gott, man sieht sich eben um. Das einzige, was ich noch nicht erlebt habe, ist der Selbstmord. Aber das läßt sich nachholen." Der Mann saß auf der Stuhlkante und hielt die Hände zitternd vor den Westenausschnitt, um das dreckige Hemd zu verbergen. Fabian wußte nicht, was er sagen sollte. Er probierte, im Kopf, viele Sätze. Keiner war am Platz. Er stand auf und sagte: "Einen Augenblick, der Kellner wünscht, von einer Abordnung geholt zu werden." Er lief nach dem Büfett, stellte den Oberkellner zur Rede, faßte ihn am Arm und schleppte ihn durchs Lokal. Der Bettler war fort. "Ich zahle morgen!" rief Fabian, stürzte aus dem Café und sah sich um. Der Mann war verschwunden. "Wen suchen Sie denn?" fragte jemand. Es war Münzer, Redakteur Münzer. Er knöpfte den Mantel zu, brannte sich eine Zigarre an und sagte: "So ein Blödsinn. Ich hätte die Partie glatt gewonnen. Schmalnauer hat wie ein Rhinozeros gespielt. Aber ich muß zum Nachtdienst. Das deutsche Volk will morgen früh wissen, wieviel Dachstuhlbrände stattfanden, während es schlief." "Sie sind doch ein politischer Redakteur", entgegnete Fabian. "Dachstuhlbrände gibt's auf jedem Gebiet", sagte Münzer. "Gerade nachts. Das muß an der Konstruktion liegen. Wissen Sie was, kommen Sie mit! Sehen Sie sich mal unsern Zirkus an." Münzer stieg in seinen kleinen Privatwagen. Fabian setzte sich neben den Redakteur. "Seit wann haben Sie übrigens ein Auto?" fragte er. "Ich hab es unserm Handelsredakteur abgekauft. Dem wurde das Ding zu teuer", erklärte Münzer. "Er ärgert sich immer so schön, wenn er mich in sein ehemaliges Prachtstück klettern sieht. Das ist der Spaß schon wert. Wissen Sie, daß Sie auf eigenes Risiko mitfahren? Sollten Sie sich das Genick brechen, tun Sie's auf Ihre Rechnung." Dann fuhren sie los. DRITTES KAPITEL Vierzehn Tote in Kalkutta Es ist richtig, das Falsche zu tun Die Schnecken kriechen im Kreis Der Korridor war leer. In der Handelsredaktion brannte Licht, es saß jemand im Zimmer, die Tür stand offen. "Schade, daß Malmy schon im Haus ist", sagte Münzer verstimmt. "Nun hat er sein Auto wieder nicht gesehen. Moment. Mal horchen, was sich in der Weltgeschichte tut." Er riß eine Tür auf, Schreibmaschinen klapperten, aus den an einer Zimmerwand aufgereihten Telefonkabinen drangen, wie aus der Ferne, die Stimmen der Stenotypistinnen. "Was Wichtiges?" schrie Münzer in den Lärm hinein. "Die Rede des Reichskanzlers", antwortete eine Frau. "Richtig", sagte der Redakteur. "Der Kerl schmeißt mir mit seiner Quasselei die ganze erste Seite über den Haufen. Liegt der Text vollständig vor?" "Zelle Zwei nimmt das zweite Drittel auf!" "Sofort m die Maschine damit, dann zu mir!" kommandierte Münzer, schlug die Tür zu und führte Fabian in die Räume der politischen Redaktion. Während sie ablegten, zeigte er auf den Schreibtisch. "Schauen Sie sich die Bescherung an! Erdbeben aus Papier!" Er wühlte in dem Haufen neu eingegangener Meldungen, schnitt mit einer Schere, wie ein Zuschneider, einiges ab und legte es beiseite. Den Rest warf er in den Papierkorb. "Marsch, ins Körbchen", sagte er dabei. Dann klingelte er, bestellte bei einem livrierten Boten eine Flasche Mosel mit zwei Gläsern und gab Geld. Der Bote stieß in der Tür mit einem aufgeregten jungen Mann zusammen, der herein wollte. "Der Chef hat eben angerufen", erzählte der junge Mann atemlos. "Ich muß im Leitartikel fünf Zeilen streichen. Sie wären durch neue Nachrichten überholt. Ich komme gerade aus der Setzerei und habe die fünf Zeilen herausnehmen lassen." "Sie sind ein Tausendsassa", erklärte Münzer. "Ich mache bekannt: Doktor Irrgang, hat noch eine große Zukunft vor sich, Irrgang ist der Künstlername. Herr Fabian." Die beiden gaben einander die Hand. "Aber", sagte Herr Irrgang betreten, "nun sind doch in der Spalte fünf Zeilen frei." "Was tut man m einem so außergewöhnlichen Fall?" fragte Münzer. "Man füllt die Spalte", erklärte der Volontär. Münzer nickte. "Steht nichts im Satz?" Er wühlte in den Bürstenabzügen. "Ausverkauft", erklärte er. "Sauregurkenzeit." Dann prüfte er die Meldungen, die er eben beiseite gelegt hatte, und schüttelte den Kopf. "Vielleicht kommt noch etwas Brauchbares herein", schlug der junge Mann vor. "Sie hätten Säulenheiliger werden sollen", sagte Münzer. "Oder Untersuchungsgefangener, oder sonst ein Mensch mit viel Zeit. Wenn man eine Notiz braucht und keine hat, erfindet man sie. Passen Sie mal auf!" Er setzte sich hin, schrieb rasch, ohne nachzudenken, ein paar Zeilen und gab das Blatt dem jungen Mann. "So, nun fort, Sie Spaltenfüller. Wenn's nicht reicht, ein Viertel Durchschuß." Herr Irrgang las, was Münzer geschrieben hatte, sagte ganz leise: "Allmächtiger Vater" und setzte sich, als sei ihm plötzlich schlecht geworden, auf die Chaiselongue, mitten in einen knisternden Berg ausländischer Zeitungen. Fabian bückte sich über das Blatt Papier, das in Irrgangs Hand zitterte, und las: "In Kalkutta fanden Straßenkämpfe zwischen Mohammedanern und Hindus statt. Es gab, obwohl die Polizei der Situation sehr bald Herr wurde, vierzehn Tote und zweiundzwanzig Verletzte. Die Ruhe ist vollkommen wiederhergestellt." Ein alter Mann schlurfte m Pantoffeln ins Zimmer und legte mehrere Schreibmaschinenblätter vor Münzer hin. "Kanzlerrede, Fortsetzung", murmelte er. "Den Schluß geben sie in zehn Minuten durch." Dann schleppte er sich wieder davon. Münzer klebte die sechs Blätter, aus denen die Rede vorläufig bestand, aneinander, bis sie wie ein mittelalterliches Spruchband aussahen, dann begann er zu redi-gieren. "Mach hurtig, Jenny", sagte er mit einem Seitenblick auf Irrgang. "Aber in Kalkutta haben doch gar keine Unruhen stattgefunden", entgegnete Irrgang widerstrebend. Dann senkte er den Kopf und meinte fassungslos: "Vierzehn Tote." "Die Unruhen haben nicht stattgefunden?" fragte Münzer entrüstet. "Wollen Sie mir das erst mal beweisen? In Kalkutta finden immer Unruhen statt. Sollen wir vielleicht mitteilen, im Stillen Ozean sei die Seeschlange wieder aufgetaucht? Merken Sie sich folgendes: Meldungen, deren Unwahrheit nicht oder erst nach Wochen festgestellt werden kann, sind wahr. Und nun entfernen Sie sich blitzartig, sonst lasse ich Sie martern und der Stadtausgabe beilegen." Der junge Mann ging. "Und so was will Journalist werden", stöhnte Münzer und strich aufseufzend und mit einem Bleistift in der Rede des Reichskanzlers herum. "Privatgelehrter für Tagesneuigkeiten, das wäre was für den Jüngling. Gibt's aber leider nicht." "Sie bringen ohne weiteres vierzehn Inder um und zweiundzwanzig andere ins Städtische Krankenhaus von Kalkutta?" fragte Fabian. Münzer bearbeitete den Reichskanzler. "Was soll man machen?" fragte er. "Im übrigen, wozu das Mitleid mit den Leuten? Sie leben ja noch, alle sechsunddreißig, und sind kerngesund. Glauben Sie mir, mein Lieber, was wir hinzudichten, ist nicht so schlimm wie das, was wir weglassen." Und dabei strich er wieder eine halbe Seite aus dem Text der Kanzlerrede heraus. "Man beeinflußt die öffentliche Meinung mit Meldungen wirksamer als durch Artikel, aber am wirksamsten dadurch, daß man weder das eine noch das andere bringt. Die bequemste öffentliche Meinung ist noch immer die öffentliche Meinungslosigkeit." "Dann stellen Sie doch das Erscheinen des Blattes ein", meinte Fabian. "Und wovon sollen wir leben?" fragte Münzer. "Außerdem, was sollen wir statt dessen tun?" Dann kam der livrierte Bote und brachte den Wein und die Gläser. Münzer schenkte ein und hob sein Glas. "Die vierzehn toten Inder sollen leben!" rief er und trank. Dann fiel er wieder über den Kanzler her. "Einen Stuß redet unser hehres Staatsoberhaupt wieder einmal zusammen!" erklärte er. "Das ist geradezu ein Schulaufsatz über das Thema: Das Wasser, in dem Deutschlands Zukunft liegt, ohne unterzugehen. In Untersekunda kriegte er dafür die Drei." Er drehte sich zu Fabian herum und fragte: "Und wie überschreibt man den Scherzartikel?" "Ich möchte lieber wissen, was Sie drunterschreiben", sagte Fabian ärgerlich. Der andere trank wieder, bewegte langsam den Wein im Mund, schluckte hinter und antwortete: "Keine Silbe. Nicht ein Wort. Wir haben Anweisung, der Regierung nicht in den Rücken zu fallen. Wenn wir dagegenschreiben, schaden wir uns, wenn wir schweigen, nützen wir der Regierung." "Ich mache Ihnen einen Vorschlag", sagte Fabian. "Schreiben Sie dafür!" "O nein", rief Münzer. "Wir sind anständige Leute. Tag, Malmy." Im Türrahmen stand ein schlanker eleganter Herr und nickte ins Zimmer. "Sie dürfen ihm nichts übelnehmen", sagte der Handelsredakteur zu Fabian. "Er ist seit zwanzig Jahren Journalist und glaubt bereits, was er lügt. Über seinem Gewissen liegen zehn weiche Betten, und obenauf schläft Herr Münzer den Schlaf des Ungerechten." Der alte Bote brachte wieder Schreibmaschinenblätter. Münzer griff nach einem Leimtopf, vervollständigte das Spruchband des Reichskanzlers und redigierte weiter. "Sie mißbilligen die Indolenz Ihres Kollegen?" fragte Fabian Herrn Malmy. "Was tun Sie außerdem?" Der Handelsredakteur lächelte, freilich nur mit dem Mund. "Ich lüge auch", erwiderte er. "Aber ich weiß es. Ich weiß, daß das System falsch ist. Bei uns in der Wirtschaft sieht das ein Blinder. Aber ich diene dem falschen System mit Hingabe. Denn im Rahmen des falschen Systems, dem ich mein bescheidenes Talent zur Verfügung stelle, sind die falschen Maßnahmen naturgemäß richtig und die richtigen sind begreiflicherweise falsch. Ich bin ein Anhänger der eisernen Konsequenz, und ich bin außerdem ..." "Ein Zyniker", warf Münzer ein, ohne aufzublicken. Malmy hob die Schultern. "Ich wollte sagen, ein Feigling. Das trifft noch genauer. Mein Charakter ist meinem Verstand in keiner Weise gewachsen. Ich bedaure das aufrichtig, aber ich tue nichts mehr dagegen." Doktor Irrgang, der junge Mann, trat ein und besprach mit Münzer an Hand der Postauflage, welche Meldungen sie aus dem Blatt werfen und welche sie statt dessen in die Stadtausgabe übernehmen wollten. Es waren in der Tat zwei Dachstuhlbrände passiert. In Genf waren außerdem einige nebulose Worte gefallen, die der deutschen Minderheit in Polen galten. Den ostelbischen Großgrundbesitzern waren vom Landwirtschaftsminister Zollerhöhungen in Aussicht gestellt worden. Die Untersuchung gegen die Direktoren des Städtischen Beschaffungsamtes hatte eine einschneidende Wendung erfahren. "Und wie überschreiben wir die Rede des Reichskanzlers?" fragte Münzer. "Los, Herrschaften. Zehn Pfennige für eine gute Schlagzeile. Die Sache muß in Satz. Wenn die Matern zu spät kommen, kriegen wir wieder Krach mit dem Maschinenmeister." Der junge Mann dachte so angestrengt nach, daß seine Stirn schwitzte. "Der Kanzler fordert Vertrauen", schlug er vor. "Mäßig", urteilte Münzer. "Nehmen Sie sich ein Wasserglas, und trinken Sie erst einen Schluck Wein!" Der junge Mann befolgte den Rat, als sei er ein Befehl. "Deutschland oder die Trägheit des Herzens", sagte Malmy. "Reden Sie keinen Unsinn!" rief der politische Redakteur. Dann schrieb er eine Zeile groß mit dem Bleistift über das Manuskript und erklärte: "Der Groschen gehört mir." "Was haben Sie denn geschrieben?" fragte Fabian. Münzer drückte auf den Klingelknopf und erklärte pathetisch: "Optimismus ist Pflicht, sagt der Kanzler!" Der Bote holte die Papiere. Der Handelsredakteur griff in die Tasche und legte wortlos ein Zehnpfennigstück auf den Schreibtisch. Sein Kollege blickte verwundert hoch. "Ich eröffne hiermit eine Aktion, die umgehend notwendig wird", behauptete Malmy. "Um welche Aktion handelt es sich?" "Darum, Ihnen Ihr Schulgeld zurückzuerstatten", sagte Malmy, und Irrgang, der politische Lehrling, lachte in Grenzen. Dann stürzte er ans Telefon. Es hatte geläutet. "Ein Abonnent möchte etwas wissen", bekundete er nach einiger Zeit und überdeckte das Sprachrohr mit der Hand. "Sie sitzen am Stammtisch und haben gewettet, ob es die Tür oder die Türe heißt." Münzer nahm ihm den Hörer weg. "Einen Augenblick", sagte er. "Wir sagen Ihnen sofort Bescheid, mein Herr." Dann winkte er Irrgang und flüsterte: "Feuilleton." Der junge Mann rannte fort, kehrte zurück und zuckte die Achseln. "Ich erfahre soeben, daß es die Tür heißen muß. Bitte schön. Guten Abend." Münzer legte den Hörer auf die Gabel, schüttelte den Kopf und steckte Malmys Groschen ein. Hinterher saßen sie in einer kleinen Weinstube, die in der Nähe des Zeitungsgebäudes gelegen war. Münzer hatte sich von einem Setzer, der nach Hause ging, das Blatt bringen lassen, um zu prüfen, ob alles in Ordnung sei. Er hatte sich über ein paar Druckfehler geärgert, über die Schlagzeile auf der ersten Seite hatte er sich gefreut. Dann war Strom, der Theaterkritiker, an den Tisch gekommen. Nun tranken sie fleißig. Irrgang, der junge Mann, war schon fast hinüber. Strom, der Kritiker, verglich einige namhafte Regisseure mit Schaufensterdekorateuren, das Theater der Gegenwart erschien ihm symptomatisch für den Niedergang des Kapitalismus, und als jemand einwarf, es gebe keine Dramatiker, behauptete Strom, es gebe welche. "Ganz nüchtern sind Sie auch nicht mehr", bemerkte Münzer schwerzüngig, und Strom lachte ohne Anlaß. Fabian ließ sich inzwischen, nicht ganz freiwillig, von Malmy über kurzfristige Anleihen aufklären. "Erstens werden Reich und Wirtschaft in wachsendem Maße überfremdet", behauptete der Redakteur. "Zweitens genügt ein Riß, und die ganze Bude fällt ein. Wenn das Geld mal in großen Posten abgerufen wird, sacken wir alle ab, die Banken, die Städte, die Konzerne, das Reich." "Aber im Blatt schreiben Sie nichts davon", sagte Irrgang. "Ich helfe, das Verkehrte konsequent zu tun. Alles, was gigantische Formen annimmt, kann imponieren, auch die Dummheit." Malmy musterte den jungen Mann. "Gehen Sie mal rasch hinaus, bei Ihnen ist ein kleines Unwetter im Anzug." Irrgang legte den Kopf auf den Tisch. "Werden Sie Sportredakteur", riet Malmy. "Dieses Ressort stellt an Ihr zartes Gemüt nicht so große Anforderungen." Der Volontär stand auf, schwankte durchs Gastzimmer der Hintertür zu und verschwand. Münzer saß auf dem Sofa und weinte plötzlich. "Ich bin ein Schwein", murmelte er. "Eine ausgesprochen russische Atmosphäre", stellte Strom fest. "Alkohol, Selbstquälerei, Tränen bei erwachsenen Männern." Er war ergriffen und streichelte dem Politiker die Glatze. "Ich bin ein Schwein", murmelte der andere. Er blieb dabei. Malmy lächelte Fabian zu. "Der Staat unterstützt den unrentablen Großbesitz. Der Staat unterstützt die Schwerindustrie. Sie liefert ihre Produkte zu Verlustpreisen ins Ausland, aber sie verkauft sie innerhalb unserer Grenzen über dem Niveau des Weltmarktes. Die Rohmaterialien sind zu teuer; der Fabrikant drückt die Löhne; der Staat beschleunigt den Schwund der Massenkaufkraft durch Steuern, die er den Besitzenden nicht aufzubürden wagt; das Kapital flieht ohnedies milliardenweise über die Grenzen. Ist das etwa nicht konsequent? Hat der Wahnsinn etwa keine Methode? Da läuft doch jedem Feinschmecker das Wasser im Munde zusammen!" "Ich bin ein Schwein", murmelte Münzer und fing mit vorgeschobener Unterlippe die Tränen auf. "Sie überschätzen sich, Verehrter", sagte der Handelsredakteur. Münzer zog, während er weiter weinte, ein gekränktes Gesicht. Er war entschieden beleidigt, daß man ihn darin hindern wollte, das zu sein, wofür er sich, wenn auch nur im betrunkenen Zustand, hielt. Malmy fuhr mit Vergnügen fort, die Situation zu klären. "Die Technik multipliziert die Produktion. Die Technik dezimiert das Arbeitsheer. Die Kaufkraft der Massen hat die galoppierende Schwindsucht. In Amerika verbrennt man Getreide und Kaffee, weil sie sonst zu billig würden. In Frankreich jammern die Weinbauern, daß die Ernte zu gut gerät. Stellen Sie sich das vor. Die Menschen sind verzweifelt, weil der Boden zu viel trägt! Zu viel Getreide, und andere haben nichts zu fressen! Wenn in so eine Welt kein Blitz fährt, dann können sich die historischen Witterungsverhältnisse begraben lassen." Malmy stand auf, wankte ein wenig und schlug ans Glas. Die Umsitzenden sahen ihn an. "Meine Herrschaften", rief er, "ich will eine Rede halten. Wer dagegen ist, stehe auf." Münzer erhob sich mühsam. "Der stehe auf", rief Malmy, "und verlasse das Lokal." Münzer setzte sich wieder, Strom lachte. Nun begann Malmy seine Rede: "Wenn das, woran unser geschätzter Erdball heute leidet, einer Einzelperson zustößt, sagt man schlicht, sie habe die Paralyse. Und sicher ist Ihnen allen bekannt, daß dieser äußerst unerfreuliche Zustand mitsamt seinen Folgen nur durch eine Kur heilbar ist, bei der es um Leben und Tod geht. Was tut man mit unserem Globus? Man behandelt ihn mit Kamillentee. Alle wissen, daß dieses Getränk nur bekömmlich ist und nichts hilft. Aber es tut nicht weh. Abwarten und Tee trinken, denkt man, und so schreitet die öffentliche Gehirnerweichung fort, daß es eine Freude ist." "Lassen Sie doch diese ekelhaften medizinischen Vergleiche!" rief Strom. "Ich bin nicht fest auf dem Magen." "Lassen wir die medizinischen Vergleiche", sagte Malmy. "Wir werden nicht daran zugrunde gehen, daß einige Zeitgenossen besonders niederträchtig sind, und nicht daran, daß einige von diesen und jenen mit einigen von denen identisch sind, die den Globus verwalten. Wir gehen an der seelischen Bequemlichkeit aller Beteiligten zugrunde. Wir wollen, daß es sich ändert, aber wir wollen nicht, daß wir uns ändern. "Wozu sind die anderen da?", denkt jeder und wiegt sich im Schaukelstuhl. Inzwischen schiebt man von dorther, wo viel Geld ist, dahin Geld, wo wenig ist. Die Schieberei und das Zinszahlen nehmen kein Ende, und die Besserung nimmt keinen Anfang." "Ich bin ein Schwein", murmelte Münzer, hob sein Glas und hielt es vor den Mund, ohne zu trinken. So blieb er sitzen. "Der Blutkreislauf ist vergiftet", rief Malmy. "Und wir begnügen uns damit, auf jede Stelle der Erdoberfläche, auf der sich Entzündungen zeigen, ein Pflaster zu kleben. Kann man eine Blutvergiftung so heilen? Man kann es nicht. Der Patient geht eines Tages, über und über mit Pflastern bepflastert, kaputt!" Der Theaterkritiker wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah den Redner bittend an. "Lassen Sie die medizinischen Vergleiche", sagte Malmy. "Wir gehen an der Trägheit unserer Herzen zugrunde. Ich bin ein Wirtschaftler und erkläre Ihnen: Die Gegenwartskrise ohne eine vorherige Erneuerung des Geistes ökonomisch lösen zu wollen, ist Quacksalberei!" "Es ist der Geist, der sich den Körper baut", behauptete Münzer und warf sein Glas um. Dann schluchzte er laut auf. Er bekam jetzt das heulende Elend in ganz großem Maßstab. Und Malmy mußte, um den Kollegen zu übertönen, noch lauter sprechen. "Sie werden einwenden, es gebe ja zwei große Massenbewegungen. Diese Leute, ob sie nun von rechts oder links anmarschieren, wollen die Blutvergiftung heilen, indem sie dem Patienten mit einem Beil den Kopf abschlagen. Allerdings wird die Blutvergiftung dabei aufhören zu existieren, aber auch der Patient, und das heißt, die Therapie zu weit treiben." Herr Strom hatte von den Krankheitsbildern endgültig genug und suchte das Weite. Am Ecktisch stand mühsam ein dicker Mann auf, versuchte dem Redner den Kopf zuzuwenden, aber der Hals war zu massiv, und so sagte er m die verkehrte Richtung: "Mediziner hätten Sie werden sollen." Dann plumpste er wieder auf seinen Stuhl. Dort packte ihn plötzlich die helle Wut, und er brüllte: "Geld brauchen wir. Geld. Und wieder Geld!" Münzer nickte und flüsterte: "Montecuccoli war auch ein Schwein." Dann weinte er wieder weiter. Der Dicke vom Ecktisch konnte sich nicht beruhigen. "Einfach lächerlich", knurrte er. "Geistige Erneuerung, Trägheit des Herzens, einfach lächerlich. Geld her, und wir sind gesund. Das wäre ja gelacht, wäre das ja!" Münzer schnarchte jetzt auf erlaubte Weise, er schlief. Eine Frau, die ihm gegenübersaß und die genau so dick war wie er, fragte: "Aber wo kriegen wir denn das Geld her, Arthur?" "Hab ich dich gefragt?" schrie er, schon wieder aufgebracht. Dann beruhigte er sich endgültig, hielt den Kellner, der vorbeiging, am Rockschoß fest und sagte: "Noch ein Sülzkotelett, und Essig und Öl." Malmy zeigte zu dem Dicken hinüber und meinte: "Habe ich recht? Wegen solcher Idioten soll man den Kopf hinhalten? Ich denke nicht daran. Es wird weitergelogen. Es ist richtig, das Falsche zu tun." Münzer hatte sich's bequem gemacht, lag auf dem Sofa und schnarchte schon, obwohl er noch gar nicht schlief. "Und Ihr Auto habe ich doch", grunzte er und drehte die Pupillen zu Malmy hinüber. Kurz darauf kamen Strom und Irrgang zurück. Sie kamen Arm in Arm daher und sahen aus, als hätten sie die Gelbsucht. "Ich vertrage keinen Alkohol", erläuterte Irrgang entschuldigend. Die zwei nahmen Platz. "Ein Kriegsprodukt", sagte Strom. "Eine bedauernswerte Generation." Dieser Theaterkritiker konnte die selbstverständlichsten und unstreitigsten Dinge äußern, sobald er es war, der sie behauptete, wirkten sie unglaubwürdig und reizten zum Widerspruch. Hätte er, in seinem Pathos von der Stange, erklärt, zweimal zwei sei vier, Fabian hätte plötzlich an der Richtigkeit der Rechnung gezweifelt. Er wandte sich von dem Mann ab und betrachtete Malmy. Der saß steil auf dem Stuhl und war mit dem Blick sonstwo, dann gab er sich, weil er sich beobachtet fühlte, einen Ruck, sah Fabian an und sagte: "Man sollte sich mehr zusammennehmen. Schnaps zerfrißt den Maulkorb." Fabian erhob sich und gab den Journalisten die Hand, zuletzt dem Handelsredakteur. "Aber vielleicht haben Sie recht", meinte Malmy und lächelte traurig. "Ich bin nicht mehr ganz nüchtern", sagte Fabian, als er vor der Tür stand, zur Nacht. Er schätzte jenes frühe Stadium der Trunkenheit, das einen glauben machen will, man spüre die Umdrehungen der Erde. Die Bäume und Häuser stehen noch ruhig an ihrem Platz, die Laternen treten noch nicht als Zwillinge auf, aber die Erde dreht sich, endlich fühlt man es einmal! Doch heute mißfiel ihm auch das. Er ging neben seinem Schwips her und tat, als kennten sie einander nicht. Was war das für eine komische Kugel, ob sie sich nun drehte oder nicht! Er mußte an eine Zeichnung von Daumier denken, die "Der Fortschritt" hieß. Daumier hatte auf dem Blatt Schnecken dargestellt, die hintereinander herkrochen, das war das Tempo der menschlichen Entwicklung. Aber die Schnecken krochen im Kreise! Und das war das Schlimmste. VIERTES KAPITEL Eine Zigarette, groß wie der Kölner Dom Frau Hohlfeld ist neugierig Ein möblierter Herr liest Descartes Am nächsten Morgen kam Fabian müde ins Büro. Außerdem hatte er einen Kater. Fischer, der Kollege, begann die Arbeit damit, daß er zunächst frühstückte. "Wo nehmen Sie bloß den permanenten Hunger her?" fragte Fabian. "Sie verdienen weniger als ich. Sie sind verheiratet. Sie haben ein Sparkonto. Und dabei essen Sie derart viel, daß ich davon mit satt werde." Fischer kaute hinter. "Das hegt bei uns in der Familie", erklärte er. "Wir Fischers sind dafür berühmt." "Man sollte Ihrer Familie ein Denkmal bauen", sagte Fabian ergriffen. Fischer rutschte unruhig auf dem Stuhl umher. "Bevor ich's vergesse, Kunze hat eine Inseratensene gezeichnet, zu der wir gereimte Zweizeiler liefern sollen. Das liegt Ihnen sicher." "Ihr Zutrauen ehrt mich", sagte Fabian, "aber ich habe noch mit den Schlagzeilen für die fotomontierten Plakate zu tun. Dichten Sie inzwischen ruhig drauflos. Denn was nützt Ihnen und Ihrer werten Familie das Frühstücken, wenn sich's nicht reimt?" Er sah durchs Fenster, zur Zigarettenfabrik hinüber, und gähnte. Der Himmel war grau wie der Asphalt auf den Radrennbahnen. Fischer ging auf und ab, gab Falten lebhaften Unwillens zum besten und fing Reimwörter. Fabian rollte ein Plakat auf, befestigte es mit Reißzwecken an der Wand, stellte sich in die entlegenste Zimmerecke und starrte das Plakat an, das mit einer Fotografie des Kölner Domes und einer vom Plakathersteller daneben errichteten, dem Dom an Größe nichts nachgebenden Zigarette bedeckt war. Er notierte: "Nichts geht über ... So groß ist ... Turmhoch über allen ... Völlig unerreichbar." Er tat seine Pflicht, obwohl er nicht einsah, wozu. Fischer fand keinen Reim und keine Ruhe. Er fing eine Unterhaltung an. "Bertuch erzählt, es stünden wieder Kündigungen bevor." "Schon möglich", sagte Fabian. "Was fangen Sie an", fragte der andere, "wenn man Sie hier vor die Tür setzt?" "Denken Sie, ich habe mein Leben seit der Konfirmation damit verbracht, gute Propaganda für schlechte Zigaretten zu machen? Wenn ich hier fliege, suche ich mir einen neuen Beruf. Auf einen mehr oder weniger kommt es mir nicht mehr an." "Erzählen Sie mal was von sich", bat Fischer. "Während der Inflation hab ich für eine Aktiengesellschaft Börsenpapiere verwaltet. Ich mußte jeden Tag zweimal den Effektivwert der Papiere ausrechnen, damit die Leute wußten, wie groß ihr Kapital war." "Und dann?" "Dann hab ich mir für etwas Valuta einen Grünwarenladen gekauft." "Warum gerade einen Grünwarenladen?" "Weil wir Hunger hatten! Überm Schaufenster stand: Doktor Fabians Feinkosthandlung. Frühmorgens, wenn es noch dunkel war, zogen wir mit einem wackeligen Handwagen in die Markthalle." Fischer stand auf. "Wie? Doktor sind Sie auch?" "Ich machte die Prüfung in dem gleichen Jahr, in dem ich beim Messeamt als Adressenschreiber angestellt war." "Wie hieß denn Ihre Dissertation?" "Sie hieß "Hat Heinrich von Kleist gestottert?" Erst wollte ich an Hand von Stiluntersuchungen nachweisen, daß Hans Sachs Plattfüße gehabt hat. Aber die Vorarbeiten dauerten zu lange. Genug, dichten Sie lieber!" Er schwieg und ging vor dem Plakat auf und ab. Fischer schielte neugierig zu ihm hin. Doch er wagte nicht, das Gespräch zu erneuern. Seufzend drehte er. sich im Stuhl herum und musterte seine Reimnotizen. Er beschloß, Brauchen auf Rauchen zu reimen, glättete das Schreibpapier, das vor ihm lag, und kniff, der Inspiration vertrauend, die Augen zu. Aber da klingelte das Telefon. Er hob ab und sagte: "Ja, ist hier. Einen Augenblick, Doktor Fabian kommt sofort." Und zu Fabian meinte er: "Ihr Freund Labude." Fabian nahm den Hörer. "Tag, Labude, was gibt's?" "Seit wann betiteln dich die Zigarettenfritzen?" fragte der Freund. "Ich habe aus der Schule geplaudert." "Geschieht dir recht. Kannst du heute zu mir kommen?" "Ich komme." "In Wohnung Nummer zwei. Auf Wiedersehen." "Auf Wiedersehen, Labude." Er hängte ab. Fischer hielt ihn am Ärmel fest. "Dieser Herr Labude ist doch Ihr Freund. Warum nennen Sie ihn eigentlich nie beim Vornamen?" "Er hat keinen", meinte Fabian. "Die Eltern haben seinerzeit vergessen, ihm einen zu geben." "Er hat überhaupt keinen Vornamen?" "Nein, denken Sie an! Er will sich seit Jahren nachträglich einen beschaffen. Aber die Polizei erlaubt es nicht." "Sie veralbern mich ja", rief Fischer gekränkt. Fabian klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und sagte: "Sie merken alles." Dann widmete er sich von neuem dem Kölner Dom, schrieb ein paar Schlagzeilen auf und brachte sie zu Direktor Breitkopf. "Sie können sich mal ein kleines, hübsches Preisausschreiben ausdenken", meinte der Direktor. "Ihr Prospekt für Detailhändler hat uns ganz gut gefallen." Fabian verbeugte sich leicht. "Wir brauchen etwas Neues", fuhr der Direktor fort. "Ein Preisausschreiben oder etwas Ähnliches. Es darf aber nichts kosten, verstehen Sie? Der Aufsichtsrat hat schon neulich geäußert, er müsse den Reklame-Etat möglicherweise um die Hälfte reduzieren. Was das für Sie bedeuten würde, können Sie sich denken. Ja? Also, junger Freund, an die Arbeit! Bringen Sie mir bald was Neues. Ich wiederhole aber: So billig wie möglich, 'n Morgen." Fabian ging. Als er sein Zimmer - achtzig Mark monatlich, Morgenkaffee Inbegriffen, Licht extra - am Spätnachmittag betrat, fand er einen Brief von seiner Mutter auf dem Tisch. Baden konnte er nicht. Das warme Wasser war kalt. Er wusch sich nur, wechselte die Wäsche, zog den grauen Anzug an, nahm den Brief seiner Mutter und setzte sich ans Fenster. Der Straßenlärm trommelte wie ein Regenguß an die Scheiben. In der dritten Etage übte jemand Klavier. Nebenan schrie der alte eingebildete Oberrechnungsrat seine Frau an. Fabian öffnete das Kuvert und las: "Mein lieber, guter Junge! Gleich zu Anfang und um Dich zu beruhigen, der Doktor hat gesagt, es ist nichts Schlimmes. Es wird wohl was mit den Drüsen sein. Und kommt bei älteren Leuten öfter vor. Mach Dir also meinetwegen keine Sorgen. Ich war erst sehr nervös. Aber nun wird es schon wieder werden mit dem alten Lehmann. Gestern war ich ein bißchen im Palais-Garten. Die Schwäne haben Junge. Im Parkcafé verlangen sie siebzig Pfennig für die Tasse Kaffee, so eine Frechheit. Gott sei Dank, daß die Wäsche vorbei ist. Frau Hase sagte im letzten Augenblick ab. Einen Bluterguß hat sie, glaub ich. Aber es ist mir gut bekommen. Morgen früh bringe ich den Karton zur Post. Hebe ihn gut auf und schnür ihn fester zu als das letzte Mal. Wie leicht kann unterwegs was wegkommen. Die Mieze sitzt mir auf dem Schoß, sie hat eben ein Stück Gurgel gefressen, und nun stößt sie mich mit dem Kopf und will mich nicht schreiben lassen. Wenn Du mir wieder, wie vergangene Woche, Geld m den Brief steckst, reiße ich Dir die Ohren ab. Wir reichen schon, und Du brauchst Dein Geld selber. Macht es Dir denn wirklich Spaß, für Zigaretten Reklame zu machen? Die Drucksachen, die Du schicktest, haben mir gut gefallen. Frau Thomas meinte, es ist doch ein Jammer, daß Du solches Zeug schreibst. Aber ich sagte, das ist nicht seine Schuld. Wer heute nicht verhungern will, und wer will das schon, der kann nicht warten, bis ihm der richtige Beruf durch den Schornstein fällt. Und dann habe ich noch gesagt, es ist ja nur ein Übergang. Der Vater hat halbwegs zu tun. Es scheint aber was mit der Wirbelsäule zu sein. Er geht ganz krumm. Tante Martha brachte gestern ein Dutzend Eier aus dem Garten. Die Hühner legen fleißig. Das ist eine gute Schwester. Wenn sie nur nicht so viel Ärger mit dem Mann hätte. Mein lieber Junge, wenn Du doch bald mal wieder nach Hause kommen könntest. Ostern warst Du da. Wie die Zeit vergeht. Da hat man nun ein Kind und hat eigentlich keins. Die paar Tage im Jahr, wo wir uns sehen. Am liebsten setzte ich mich gleich auf die Eisenbahn und käme hinüber. Früher war das schön. Fast jeden Abend vor dem Schlafengehen sehe ich mir die Bilder und die Ansichtskarten an. Weißt Du noch, wenn wir den Rucksack nahmen und loszogen? Einmal kamen wir mit einem ganzen Pfennig zurück. Da muß ich gleich lachen, während ich dran denke. Na, auf Wiedersehen, mein gutes Kind. Vor Weihnachten wird es wohl nicht werden. Gehst Du immer noch so spät schlafen? Grüß Labude. Und er soll auf Dich aufpassen. Was machen die Mädchen? Sieh Dich vor. Der Vater läßt grüßen. Viele Grüße und Küsse von Deiner Mutter." Fabian steckte den Brief ein und blickte auf die Straße hinunter. Warum saß er hier in diesem fremden gottverlassenen Zimmer, bei der Witwe Hohlfeld, die das Ver-mieten früher nicht nötig gehabt hatte? Warum saß er nicht zu Hause, bei seiner Mutter? Was hatte er hier in dieser Stadt, in diesem verrückt gewordenen Steinbaukasten, zu suchen? Blumigen Unsinn schreiben, damit die Menschheit noch mehr Zigaretten rauchte als bisher? Den Untergang Europas konnte er auch dort abwarten, wo er geboren worden war. Das hatte er davon, daß er sich einbildete, der Globus drehe sich nur, solange er ihm zuschaue. Dieses lächerliche Bedürfnis, anwesend zu sein! Andere hatten einen Beruf, kamen vorwärts, heirateten, ließen ihre Frauen Kinder kriegen und glaubten, das gehöre zum Thema. Und er mußte, noch dazu freiwillig, hinterm Zaun stehen, zusehen und ratenweise verzweifeln. Europa hatte große Pause. Die Lehrer waren fort. Der Stundenplan war verschwunden. Der alte Kontinent würde das Ziel der Klasse nicht erreichen. Das Ziel keiner Klasse! Da klopfte die Wirtin Hohlfeld, trat ins Zimmer und sagte: "Pardon, ich dachte, Sie wären noch nicht da." Sie kam näher. "Haben Sie gestern nacht den Krach gehört, den Herr Tröger veranstaltet hat? Er hatte wieder Frauenzimmer mit oben. Das Sofa sieht aus! Ich werfe ihn hinaus, wenn das noch einmal vorkommt. Was soll die neue Untermieterin denken, die im ändern Zimmer wohnt?" "Wenn sie noch an den Storch glaubt, ist ihr nicht zu helfen." "Aber, Herr Fabian, meine Wohnung ist doch kein Absteigequartier!" "Gnädige Frau, es ist weithin bekannt, daß sich, von einem gewissen Alter ab, beim Menschen Bedürfnisse regen, die im Widerspruch zur Moral der Vermieterinnen stehen." Die Wirtin wurde ungeduldig. "Aber er hatte mindestens zwei Frauenzimmer bei sich!" "Herr Tröger ist ein Wüstling, gnädige Frau. Das beste wird sein, Sie teilen ihm mit, er dürfe pro Nacht höchstens eine Dame mitbringen. Und wenn er sich nicht danach richtet, lassen wir ihn von der Sittenpolizei kastrieren." "Man geht mit der Zeit", erklärte Frau Hohlfeld nicht ohne Stolz und rückte noch näher. "Die Sitten haben sich geändert. Man paßt sich an. Ich verstehe manches. Schließlich, ich bin ja auch noch nicht so alt." Sie stand knapp hinter ihm. Er sah sie nicht, aber vermutlich wogte ihr unverstandener Busen. Das wurde von Tag zu Tag schlimmer. Fand sich denn wirklich niemand für sie? Nachts stand sie vermutlich, auf bloßen Füßen, vor dem Zimmer des Stadtreisenden Tröger und nahm, durchs Schlüsselloch, seinen Orgien Parade ab. Sie wurde langsam verrückt. Manchmal blickte sie ihn an, als wolle sie ihm die Hosen ausziehen. Früher war diese Sorte Damen fromm geworden. Er stand auf und sagte: "Schade, daß Sie keine Kinder haben." "Ich gehe schon." Frau Hohlfeld verließ entmutigt das Zimmer. Er sah auf die Uhr. Labude war noch in der Bibliothek. Fabian trat zum Tisch. Bücher und Broschüren lagen in Stapeln darauf. Darüber, an der Wand, hing eine Stickerei mit der Inschrift: "Nur ein Viertelstündchen." Er hatte, als er einzog, den Spruch vom Sofa entfernt und über den Büchern angebracht. Manchmal las er noch ein paar Seiten in irgendeinem der Bücher. Geschadet hatte es fast nie. Er griff zu. Es war Descartes. "Betrachtungen über die Grundlagen der Philosophie", so hieß das kleine Heft. Sechs Jahre waren es her, seit er sich damit befaßt hatte. Driesch hatte in der mündlichen Prüfung dergleichen wissen wollen. Sechs Jahre waren mitunter eine lange Zeit. Auf der anderen Straßenseite hatte ein Schild gehangen: "Chaim Pines, Ein- und Verkauf von Fellen". War das alles, was er von damals wußte? Bevor er vom Examinator aufgerufen wurde, war er, mit dem Zylinder eines anderen Kandidaten auf dem Kopfe, durch die Korridore spaziert und hatte den Pedell erschreckt. Vogt, der Kandidat, war dann durchgefallen und nach Amerika gegangen. Er setzte sich und schlug das Heft auf. Was hatte Descartes ihm mitzuteilen? "Schon vor Jahren bemerkte ich, wieviel Falsches ich von Jugend auf als wahr hingenommen hatte, und wie zweifelhaft alles sei, was ich später darauf gründete. Darum war ich der Meinung, ich müsse einmal im Leben von Grund auf alles umstürzen und ganz von vorn anfangen, wenn ich je irgend etwas Festes und Bleibendes aufstellen wolle. Dieses schien mir aber eine ungeheure Aufgabe zu sein, und so wartete ich jenes reife, für wissenschaftliche Untersuchungen angemessene Alter ab. Darum habe ich so lange gezögert, daß ich jetzt eine Schuld auf mich lüde, wenn ich die Zeit, die mir zu handeln noch übrig ist, mit Zaudern verbringen wollte. Das trifft sich nun sehr günstig. Mein Geist ist von allen Sorgen frei, und ich habe mir eine ruhige Muße verschafft. So ziehe ich mich in die Einsamkeit zurück und will ernst und frei diesen allgemeinen Umsturz aller meiner Meinungen unternehmen." Fabian blickte auf die Straße hinunter, sah den Autobussen nach, die, wie Elefanten auf Rollschuhen, die Kaiser-allee entlang fuhren, und schloß vorübergehend die Augen. Dann blätterte er und überflog die Einleitung. Fünfundvierzig Jahre war Descartes alt gewesen, als er seine Revolution ankündigte. Am Dreißigjährigen Krieg hatte er sich ein bißchen beteiligt. Ein kleiner Kerl, mit immensem Schädel. "Von allen Sorgen frei." Revolution in der Einsamkeit. In Holland. Tulpenbeete vorm Haus. Fabian lachte, legte den Philosophen beiseite und zog den Mantel an. Im Korridor begegnete er Herrn Tröger, dem Reisenden mit dem starken Frauenverbrauch. Sie zogen die Hüte. Labudes zweite Wohnung lag im Zentrum. Wenige wußten davon. Hierhin zog er sich zurück, wenn ihm der Westen, die noble Verwandtschaft, die Damen der guten Gesellschaft und das Telefon auf die Nerven gingen. Und hier hing er seinen wissenschaftlichen und sozialen Neigungen nach. "Wo hast du denn in der vorigen Woche gesteckt?" fragte Fabian. "Danke, gut", sagte Labude und trank den Kognak, der vor ihm stand. "Ich war in Hamburg. Leda läßt grüßen." "Und wie befindet sich das Fräulein Braut?" "Davon später." "Was vom Geheimrat gehört? Hat er deine Arbeit gelesen?" "Nein. Er hatte keine Zeit, sondern Promotionen, Prüfungen, Vorlesungen, Seminare und Senatssitzungen. Bis er meine Habilitationsschrift gelesen hat, habe ich einen kniefreien Vollbart." Labude schenkte sich ein und trank. "Sei nicht nervös. Die Kerle werden sich wundern, wie du aus Lessings Gesammelten Werken das Gehirn und die Denkvorgänge des Mannes rekonstruiert hast, den sie, bis du kamst, als den Logos mit Freilauf dargestellt und noch nie verstanden haben." "Ich fürchte, sie werden sich zu sehr wundern. Die geweihte Logik eines toten Schriftstellers psychologisch auswerten, Denkfehler entdecken und individuell und als sinnvolle Vorgänge behandeln, den Typus des zwischen zwei Zeitaltern schwankenden genialen Menschen an einem längst verkaufsfertigen Klassiker demonstrieren, das sind Dinge, die sie nur ärgern werden. Warten wir ab. Lassen wir den ollen Sachsen in Ruhe. Fünf Jahre habe ich diesen Kerl seziert, auseinandergenommen und zusammengesetzt! Auch eine Beschäftigung für einen erwachse-nen Menschen, im achtzehnten Jahrhundert wie im Müllkasten herumzufingern! Hol dir ein Glas!" Fabian nahm ein Likörglas aus dem Schrank und schenkte sich ein. Labude blickte vor sich hin. "Heute morgen war ich dabei, wie sie in der Staatsbibliothek einen Professor festnahmen. Einen Sinologen. Er hat seit einem Jahr seltene Drucke und Bilder der Bibliothek gestohlen und verkauft. Er wurde blaß wie eine Wand, als man ihn verhaftete, und setzte sich erst mal auf die Treppe. Man fütterte ihn mit kaltem Wasser. Dann wurde er abtransportiert." "Der Mann hat den Beruf verfehlt", sagte Fabian. "Wozu lernt er erst Chinesisch, wenn er zum Schluß vom Stehlen lebt? Es steht schlimm. Jetzt räubern schon die Philologen." "Trink aus und komm!" rief Labude. Sie gingen an der Markthalle vorbei, durch tausend scheußliche Gerüche hindurch, zur Autobushaltestelle. "Wir fahren zu Haupt", sagte Labude. FÜNFTES KAPITEL Ein ernstes Gespräch am Tanzparkett Fräulein Paula ist insgeheim rasiert Frau Moll wirft mit Gläsern In Haupts Sälen war, wie an jedem Abend, Strandfest. Punkt zehn Uhr stiegen, im Gänsemarsch, zwei Dutzend Straßenmädchen von der Empore herunter. Sie trugen bunte Badetrikots, gerollte Wadenstrümpfe und Schuhe mit hohen Absätzen. Wer sich derartig auszog, hatte freien Zutritt zum Lokal und erhielt einen Schnaps gratis. Diese Vergünstigungen waren in Anbetracht des daniederliegenden Gewerbes nicht zu verachten. Die Mädchen tanzten anfangs miteinander, damit die Männer etwas zu sehen hatten. Das von Musik begleitete Rundpanorama weiblicher Fülle erregte die an der Barriere drängenden Kommis, Buchhalter und Einzelhändler. Der Tanzmeister schrie, man möge sich auf die Damen stürzen, und das geschah. Die dicksten und frechsten Frauenzimmer wurden bevorzugt. Die Weinnischen waren schnell besetzt. Die Barfräuleins hantierten mit dem Lippenstift. Die Orgie konnte beginnen. Labude und Fabian saßen an der Rampe. Sie liebten dieses Lokal, weil sie nicht hierher gehörten. Das Nummernschild ihres Tischtelefons glühte ohne Unterbrechung. Der Apparat surrte. Man wollte sie sprechen. Labude hob den Hörer aus der Gabel und legte ihn unter den Tisch. Sie hatten wieder Ruhe. Denn der Lärm, der übrigblieb, die Musik, das Gelächter und der Gesang waren nicht persönlich gemeint und konnten ihnen nichts anhaben. Fabian berichtete von der Nachtredaktion, von der Zigarettenfabrik, von der verfressenen Familie Fischer und vom Kölner Dom. Labude blickte den Freund an und sagte: "Du müßtest endlich vorwärtskommen." "Ich kann doch nichts." "Du kannst vieles." "Das ist dasselbe", meinte Fabian. "Ich kann vieles und will nichts. Wozu soll ich vorwärtskommen? Wofür und wogegen? Nehmen wir einmal an, ich sei der Träger einer Funktion. Wo ist das System, in dem ich funktionieren kann? Es ist nicht da, und nichts hat Sinn." "Doch, man verdient beispielsweise Geld." "Ich bin kein Kapitalist." "Eben deshalb." Labude lachte ein bißchen. "Wenn ich sage, ich bin kein Kapitalist, dann meine ich: ich habe kein pekuniäres Organ. Wozu soll ich Geld verdienen? Was soll ich mit dem Geld anfangen? Um satt zu werden, muß man nicht vorwärtskommen. Ob ich Adressen schreibe, Plakate bedichte oder mit Rotkohl handle, ist mir und ist überhaupt gleichgültig. Sind das Aufgaben für einen erwachsenen Menschen? Rotkohl en gros oder en detail, wo steckt der Unterschied? Ich bin kein Kapitalist, wiederhole ich dir! Ich will keine Zinsen, ich will keinen Mehrwert." Labude schüttelte den Kopf. "Das ist Indolenz. Wer Geld verdient und es nicht liebt, kann es gegen Macht eintauschen." "Was fang ich mit der Macht an?" fragte Fabian. "Ich weiß, du suchst sie. Aber was fange ich mit der Macht an, da ich nicht mächtig zu sein wünsche? Machthunger und Geldgier sind Geschwister, aber mit mir sind sie nicht verwandt." "Man kann die Macht im Interesse anderer verwenden." "Wer tut das? Dieser wendet sie für sich an, jener für seine Familie, der eine für seine Steuerklasse, der andere für diejenigen, die blonde Haare haben, der fünfte für solche, die über zwei Meter groß sind, der sechste, um eine mathematische Formel an der Menschheit auszuprobieren. Ich pfeif auf Geld und Macht!" Fabian hieb mit der Faust auf die Brüstung, aber sie war gepolstert und plüschüberzogen. Der Faustschlag blieb stumm. "Wenn es eine Gärtnerei gäbe, wie ich sie mir erträume! Ich brächte dich, an Händen und Füßen gefesselt, hin und ließe dir ein Lebensziel einpflanzen!" Labude war ernstlich bekümmert und legte die Hand auf den Arm des Freundes. "Ich sehe zu. Ist das nichts?" "Wem ist damit geholfen?" "Wem ist zu helfen?" fragte Fabian. "Du willst Macht haben. Du willst, träumst du, das Kleinbürgertum sammeln und führen. Du willst das Kapital kontrollieren und das Proletariat einbürgern. Und dann willst du helfen, einen Kulturstaat aufzubauen, der dem Paradies verteufelt ähnlich sieht. Und ich sage dir: Noch in deinem Paradies werden sie sich die Fresse vollhauen! Davon abgesehen, daß es nie zustande kommen wird... Ich weiß ein Ziel, aber es ist leider keines. Ich möchte helfen, die Menschen anständig und vernünftig zu machen. Vorläufig bin ich damit beschäftigt, sie auf ihre diesbezügliche Eignung hin anzuschauen." Labude hob sein Glas und rief: "Viel Vergnügen!" Er trank, setzte ab und sagte: "Erst muß man das System vernünftig gestalten, dann werden sich die Menschen anpassen." Fabian trank und schwieg. Labude fuhr erregt fort: "Das siehst du ein, nicht wahr? Natürlich siehst du das ein. Aber du phantasierst lieber von einem unerreichbaren vollkommenen Ziel anstatt einem unvollkommenen zuzustreben, das sich verwirklichen läßt. Es ist dir bequemer so. Du hast keinen Ehrgeiz, das ist das Schlimme." "Ein Glück ist das. Stell dir vor, unsere fünf Millionen Arbeitslosen begnügten sich nicht mit dem Anspruch auf Unterstützung. Stell dir vor, sie wären ehrgeizig!" Da lehnten sich zwei Trikotengel über die Brüstung. Die eine Frau war dick und blond, und ihre Brust lag auf dem Plüsch, als sei sie serviert. Die andere Person war mager, und ihr Gesicht sah aus, als hätte sie krumme Beine. "Schenkt uns 'ne Zigarette", sagte die Blonde. Fabian hielt die Schachtel hin, Labude gab Feuer. Die Frauen rauchten, blickten die jungen Männer abwartend an, und die Magere konstatierte nach einer Pause mit verrosteter Stimme: "Na ja, so ist das." "Wer spendiert 'nen Schnaps?" fragte die Dicke. Sie gingen zu viert der Theke zu. Rebenlaub und gewaltige Weintrauben, alles aus Pappe, umsäumten den Pfad. Sie setzten sich in eine Ecke. Die Wand war mit der Pfalz bei Caub bemalt. Fabian dachte an Blücher, Labude bestellte Likör. Die Frauen flüsterten miteinander. Vermutlich verteilten sie die zwei Kavaliere. Denn unmittelbar danach schleuderte die dicke Blonde den Arm um Fabian, legte eine Hand auf sein Bein und tat wie zu Hause. Die Magere trank ihr Glas auf einen Zug leer, zupfte Labude an der Nase und kicherte blöde. "Oben sind Nischen", sagte sie, strich die blauen Trikothosen von den Schenkeln zurück und zwinkerte. "Woher haben Sie so rauhe Hände?" fragte Labude. Sie drohte mit dem Finger. "Nicht, was du denkst", rief sie und verschluckte sich vor Schelmerei. "Paula hat früher in einer Konservenfabrik gearbeitet", sagte die Blonde, nahm Fabians Hand und fuhr sich mit dieser so lange über die Brüste, bis die Brustwarzen groß und fest wurden. "Gehen wir dann ins Hotel?" fragte sie. "Ich bin überall rasiert", erläuterte die Magere und war nicht abgeneigt, den Nachweis zu erbringen. Labude hielt sie mühsam von dem äußersten zurück. "Man schläft nachher besser", sagte die Blondine zu Fabian und reckte die fetten Beine. Lottchen von der Theke füllte die Gläser. Die Frauen tranken, als hätten sie acht Tage nichts gegessen. Die Musik drang gedämpft herüber. An der Bar saß ein riesenhafter Kerl und gurgelte mit Kirschwasser. Der Scheitel reichte ihm bis ins Rückgrat. Hinter der Pfalz bei Caub brannte eine elektrische Birne und besonnte den Rhein, wenn auch nur von hinten. "Oben sind Nischen", sagte die Magere wieder, und man stieg hinauf. Labude bestellte kalten Aufschnitt. Als der Teller mit Fleisch und Wurst vor den Mädchen stand, vergaßen sie alles übrige und kauten drauflos. Unten im Saal wurde die schönste Figur prämiiert. Die Frauen drehten sich mit ihren knappen Badeanzügen im Kreis, spreizten die Arme und Finger und lächelten verführerisch. Die Männer standen wie auf dem Viehmarkt. "Der erste Preis ist eine große Bonbonniere", erklärte die kauende Paula, "und wer sie gekriegt hat, muß sie dann beim Geschäftsführer wieder abliefern." "Ich esse lieber, außerdem findet man meine Beine immer zu dick", sagte die Blondine. "Dabei sind dicke Beine das beste, was es gibt. Ich war einmal mit einem russischen Fürsten zusammen, der schreibt mir noch jetzt Ansichtskarten." "Quatsch!" knurrte Paula. "Jeder Mann will was anderes. Ich habe einen Herrn gekannt, einen Ingenieur, der liebte Lungenkranke. Und Viktorias Freund hat einen Buckel, und sie sagt, sie braucht das zum Leben. Da mach was dagegen. Ich finde, Hauptsache, man versteht seinen Kram." "Gelernt ist gelernt", behauptete die Dicke und angelte das letzte Stück Schinken von der Platte. Unten im Saal wurde gerade die schönste Figur ausgerufen. Die Kapelle spielte einen Tusch. Der Geschäftsführer überreichte der Siegerin eine große Bonbonniere. Sie dankte ihm beglückt, verneigte sich vor den klatschenden und johlenden Gästen und zog mit ihrem Geschenk davon, wahrscheinlich trug sie's ins Büro zurück. "Warum arbeiten Sie eigentlich nicht mehr in Ihrer Konservenfabrik?" fragte Labude, und seine Frage klang recht vorwurfsvoll. Paula schob den leeren Teller zurück, strich sich über den Magen und erzählte: "Erstens war es gar nicht meine Fabrik, und zweitens wurde ich abgebaut. Glücklicherweise wußte ich was über den Direktor. Er hatte ein vierzehnjähriges Mädchen verführt. Verführt ist übertrieben. Aber er glaubte den Zimt. Und dann rief ich ihn alle vierzehn Tage an, ich müsse fünfzig Mark haben, oder ich würde die Sache rumreden. Am nächsten Tag ging ich dann jedesmal zur Kasse und holte das Geld ab." "Das ist ja Erpressung!" rief Labude. "Der Rechtsanwalt, den mir der Direktor auf den Hals schickte, fand das auch. Ich mußte einen Wisch unterschreiben, bekam hundert Mark, und aus war's mit der Lebensrente. Na ja, nun bin ich hier und lebe vom Bauch in den Mund." "Es ist furchtbar", sagte Labude zu Fabian, "es ist schrecklich, wie viele Direktoren das Angestelltenverhältnis mißbrauchen." Die Dicke rief: "Ach Mensch, was redest du da. Wenn ich ein Mann wäre, und ein Fabrikdirektor dazu, ich hätte dauernd Angestelltenverhältnisse." Dann fuhr sie Fabian in die Haare, versetzte ihm einen Kuß, ergriff seine Hand und legte sie platt auf ihren satten Magen. Labude und Paula tanzten miteinander. Sie hatte tatsächlich krumme Beine. In der Nachbarnische sang eine Frau laut mit betrunkener Stimme: "Die Liebe ist ein Zeitvertreib. Man nimmt dazu den Unterleib." Die Dicke sagte: "Die nebenan ist 'ne Marke. Sie gehört gar nicht hierher, kommt in teuren Pelzmänteln an, aber darunter trägt sie was ganz Durchsichtiges. Es soll eine reiche Frau aus dem Westen sein, sogar verheiratet. Sie holt sich junge Kerle in die Nische, bezahlt für sie und gibt an, daß die Wände rot werden." Fabian erhob sich und blickte über die halbhohe Zwischenwand hinweg nebenan. Dort saß in einem grünseidenen Badeanzug eine große gutgewachsene Frau und war, unter Absingung von Liedern, dabei, einen Reichswehrsoldaten, der sich verzweifelt wehrte, auszuziehen. "Kerl!" rief sie. "Mach nicht so einen schlappen Eindruck! Los! Zeig den Ausweis!" Aber der brave Infanterist stieß sie zurück. Fabian fiel jene bekannte ägyptische Ministergattin ein, die den armen Josef, den begabten Urenkel Abrahams, so schamlos belästigt hatte. Da stand die Grüne auf, packte ein Sektglas und taumelte zur Brüstung. Es war nicht Frau Potiphar, sondern Frau Moll. Jene Irene Moll, deren Schlüssel er im Mantel hatte. Schwankend stand sie an der Balustrade, hob das spitze Glas hoch und warf es in den Saal hinunter. Es zersprang auf dem Parkett. Die Musiker setzten die Instrumente ab. Die Tanzpaare hoben erschrocken die Köpfe. Alle blickten zu der Nische herauf. Frau Moll streckte die Hand aus und rief: "Männer nennt sich das! Wenn man sie anpackt, gehen sie aus dem Leim! Meine sehr verehrten Damen, ich schlage vor, die Bande einzusperren. Meine sehr verehrten Damen, wir brauchen Männerbordelle! Wer dafür ist, der hebe die Hand!" Sie schlug sich emphatisch vor die Brust und bekam davon den Schlucken. Im Saal wurde gelacht. Der Geschäftsführer war schon unterwegs. Irene Moll fing an zu weinen. Das Schwarz der getuschten Wimpern verflüssigte sich, und die Tränen liniierten ihr Gesicht. "Laßt uns singen!" schrie sie schluchzend und schluckend. "Wir singen das schöne Lied vom Klavierspiel!" Sie breitete beide Arme aus und brüllte: "Auch der Mensch ist nur ein Tier, Immer, und erst recht zu zweit, Komm und spiel auf mir Klavier! Komm und spieleee auf mir Die Schule der Geläufigkeit. Dazu bin ich ja..." Der Geschäftsführer hielt ihr den Mund zu, sie mißverstand die Bewegung und fiel ihm um den Hals. Dabei sah sie den zu ihr hinblickenden Fabian, riß sich los und schrie: "Dich kenne ich doch!" und wollte zu ihm. Aber der Reichswehrsoldat, der sich inzwischen erholt hatte, und der Geschäftsführer packten sie und drückten sie auf einen Stuhl. Im Saal wurde wieder musiziert und getanzt. Labude hatte während der Szene bezahlt, gab Paula und der Dicken etwas Geld, faßte Fabian unter und zog ihn fort. In der Garderobe fragte er: "Sie kennt dich wirklich?" "Ja", sagte Fabian, "sie heißt Moll, ihr Mann ist Rechtsanwalt und zahlt jede Summe, wenn man mit ihr schläft. Die Schlüssel dieser komischen Familie habe ich noch in der Tasche. Hier sind sie." Labude nahm die Schlüssel weg, rief: "Ich komme gleich wieder!" und lief in Hut und Mantel zurück. SECHSTES KAPITEL Der Zweikampf am Märkischen Museum Wann findet der nächste Krieg statt? Ein Arzt versteht sich auf Diagnose Als sie auf der Straße standen, fragte Labude ärgerlich: "Hast du mit dieser Verrückten etwas gehabt?" "Nein, ich war nur in ihrem Schlafzimmer, und sie zog sich aus. Plötzlich kam noch ein Mann hinzu, behauptete, mit ihr verehelicht zu sein, ich solle mich aber nicht stören lassen. Dann deklamierte er einen ungewöhnlichen Kontrakt, den die beiden geschlossen haben. Dann ging ich." "Warum nahmst du die Schlüssel mit?" "Weil die Haustür verschlossen war." "Ein schauderhaftes Weib", sagte Labude. "Sie hing besoffen überm Tisch, und ich steckte ihr die Schlüssel schnell in die Handtasche." "Sie hat dir nicht gefallen?" fragte Fabian. "Sie ist doch sehr eindrucksvoll gewachsen, und das freche Konfirmandengesicht obendrauf wirkt so wunderbar unpassend." "Wenn sie häßlich wäre, hättest du die Schlüssel längst beim Portier abgegeben." Labude zog den Freund weiter. Sie bogen langsam in eine Nebenstraße ein, kamen an einem Denkmal, auf dem Herr Schulze-Delitzsch stand, und am Märkischen Museum vorbei, der Steinerne Roland lehnte finster in einer Efeuecke, und auf der Spree jammerte ein Dampfer. Oben auf der Brücke blieben sie stehen und blickten auf den dunklen Fluß und auf die fensterlosen Lagerhäuser. Über der Friedrichstadt brannte der Himmel. "Lieber Stephan", sagte Fabian leise, "es ist rührend, wie du dich um mich bemühst. Aber ich bin nicht unglücklicher als unsere Zeit. Willst du mich glücklicher machen, als sie es ist? Und wenn du mir einen Direktorposten, eine Million Dollar oder eine anständige Frau, die ich lieben könnte, verschaffst, oder alle drei Dinge zusammen, es wird dir nicht gelingen." Ein kleines schwarzes Boot, mit einer roten Laterne am Heck, trieb den Fluß entlang. Fabian legte die Hand auf die Schulter des Freundes. "Als ich vorhin sagte, ich verbrächte die Zeit damit, neugierig zuzusehen, ob die Welt zur Anständigkeit Talent habe, war das nur die halbe Wahrheit. Daß ich mich so herumtreibe, hat noch einen anderen Grund. Ich treibe mich herum, und ich warte wieder, wie damals im Krieg, als wir wußten: Nun werden wir eingezogen. Erinnerst du dich? Wir schrieben Aufsätze und Diktate, wir lernten scheinbar, und es war gleichgültig, ob wir es taten oder unterlie-ßen. Wir sollten ja in den Krieg. Saßen wir nicht wie unter einer Glasglocke, aus der man langsam, aber unaufhörlich die Luft herauspumpt? Wir begannen zu zappeln, doch wir zappelten nicht aus Übermut, sondern weil uns die Luft wegblieb. Erinnerst du dich? Wir wollten nichts versäumen, und wir hatten einen gefährlichen Lebenshunger, weil wir glaubten, es sei die Henkersmahlzeit." Labude lehnte am Geländer und blickte auf die Spree hinunter. Fabian ging hin und her, als liefe er in seinem Zimmer auf und ab. "Erinnerst du dich?" fragte er. "Und ein halbes Jahr später waren wir marschbereit. Ich bekam acht Tage Urlaub und fuhr nach Graal. Ich fuhr hin, weil ich als Kind einmal dort gewesen war. Ich fuhr hin, es war Herbst, ich lief melancholisch über den schwankenden Boden der Erlenwälder. Die Ostsee war verrückt, und die Kurgäste konnte man zählen. Zehn passable Frauen waren am Lager, und mit sechsen schlief ich. Die nächste Zukunft haltenden Entschluß gefaßt, mich zu Blutwurst zu verarbeiten. Was sollte ich bis dahin tun? Bücher lesen? An meinem Charakter feilen ? Geld verdienen ? Ich saß in einem großen Wartesaal, und der hieß Europa. Acht Tage später fuhr der Zug. Das wußte ich. Aber wohin er fuhr, und was aus mir werden sollte, das wußte kein Mensch. Und jetzt sitzen wir wieder im Wartesaal, und wieder heißt er Europa! Und wieder wissen wir nicht, was geschehen wird. Wir leben provisorisch, die Krise nimmt kein Ende!" "Zum Donnerwetter!" rief Labude, "wenn alle so denken wie du, wird nie stabilisiert! Empfinde ich vielleicht den provisorischen Charakter der Epoche nicht? Ist dieses Mißvergnügen dein Privileg? Aber ich sehe nicht zu, ich versuche, vernünftig zu handeln." "Die Vernünftigen werden nicht an die Macht kommen", sagte Fabian, "und die Gerechten noch weniger." "So?" Labude trat dicht vor den Freund und packte ihn mit beiden Händen am Mantelkragen. "Aber sollten sie es nicht trotzdem wagen?" In diesem Augenblick hörten beide einen Schuß und einen Aufschrei und kurz danach drei Schüsse aus anderer Richtung. Labude rannte ins Dunkel, die Brücke entlang, auf das Museum zu. Wieder klang ein Schuß. "Viel Spaß!" sagte Fabian zu sich selber, während er lief, und suchte, obwohl sein Herz schmerzte, Labude zu erreichen. Am Fuße des Märkischen Roland kauerte ein Mann, fuchtelte mit dem Revolver und brüllte: "Warte nur, du Schwein!" Und dann schoß er wieder über die Straße weg auf einen unsichtbaren Gegner. Eine Laterne zerbrach. Glas klirrte aufs Pflaster. Labude nahm dem Mann die Waffe aus der Hand, und Fabian fragte: "Warum schießen Sie eigentlich im Sitzen?" "Weil mich's am Bein erwischt hat", knurrte der Mann. Es war ein junger stämmiger Mensch, und er trug eine Mütze. "So ein Mistvieh", brüllte er. "Aber ich weiß, wie du heißt." Und er drohte der Dunkelheit. "Quer durch die Wade", stellte Labude fest, kniete nieder, zog ein Taschentuch aus dem Mantel und probierte einen Notverband. "Drüben in der Kneipe ging's los", lamentierte der Verwundete. "Er schmierte ein Hakenkreuz aufs Tischtuch. Ich sagte was. Er sagte was. Ich knallte ihm eine hinter die Ohren. Der Wirt schmiß uns raus. Der Kerl lief mir nach und schimpfte auf die Internationale. Ich drehte mich um, da schoß er schon." "Sind Sie nun wenigstens überzeugt?" fragte Fabian und blickte auf den Mann hinunter, der die Zähne zusammenbiß, weil Labude an der Schußwunde hantierte. "Die Kugel ist nicht mehr drin", bemerkte Labude. "Kommt denn hier gar kein Auto? Es ist wie auf dem Dorf." "Nicht einmal ein Schutzmann ist da", stellte Fabian bedauernd fest. "Der hätte mir gerade noch gefehlt!" Der Verletzte versuchte aufzustehen. "Damit sie wieder einen Proleten einsperren, weil er so unverschämt war, sich von einem Nazi die Knochen kaputtschießen zu lassen." Labude hielt den Mann zurück, zog ihn wieder zu Boden und befahl dem Freund, ein Taxi zu besorgen. Fabian rannte davon, quer über die Straße, um die Ecke, den nächtlichen Uferweg entlang. In der nächsten Nebenstraße standen Wagen. Er gab dem Chauffeur den Auftrag, zum Märkischen Museum zu fahren, am Roland gäbe es eine Fuhre. Das Auto verschwand. Fabian folgte zu Fuß. Er atmete tief und langsam. Das Herz schlug wie verrückt. Es hämmerte unterm Jackett. Es schlug im Hals. Es pochte unterm Schädel. Er blieb stehen und trocknete die Stirn. Dieser verdammte Krieg! Dieser verdammte Krieg! Ein krankes Herz dabei erwischt zu haben, war zwar eine Kinderei, aber Fabian genügte das Andenken. In der Provinz zerstreut sollte es einsame Gebäude geben, wo noch immer verstümmelte Soldaten lagen. Männer ohne Gliedmaßen, Männer mit furchtbaren Gesichtern, ohne Nasen, ohne Münder. Krankenschwestern, die vor nichts zurückschreckten, füllten diesen entstellten Kreaturen Nahrung ein, durch dünne Glasröhren, die sie dort in wuchernd vernarbte Löcher spießten, wo früher einmal ein Mund gewesen war. Ein Mund, der hatte lachen und sprechen und schreien können. Fabian bog um die Ecke. Drüben war das Museum. Das Auto hielt davor. Er schloß die Augen und entsann sich schrecklicher Fotografien, die er gesehen hatte und die mitunter in seinen Träumen auftauchten und ihn erschreckten. Diese armen Ebenbilder Gottes! Noch immer lagen sie in jenen von der Welt isolierten Häusern, mußten sich füttern lassen und mußten weiterleben. Denn es war ja Sünde, sie zu töten. Aber es war recht gewesen, ihnen mit Flammenwerfern das Gesicht zu zerfressen. Die Familien wußten nichts von diesen Männern und Vätern und Brüdern. Man hatte ihnen gesagt, sie wären vermißt. Das war nun fünfzehn Jahre her. Die Frauen hatten wieder geheiratet. Und der Selige, der irgendwo in der Mark Brandenburg durch Glasröhren gefüttert wurde, lebte zu Hause nur noch als hübsche Fotografie überm Sofa, ein Sträußchen im Gewehrlauf, und darunter saß der Nachfolger und ließ sich's schmecken. Wann gab es wieder Krieg? Wann würde es wieder soweit sein? Plötzlich rief jemand "Hallo!" Fabian öffnete die Augen und suchte den Rufer. Der lag auf der Erde, hatte sich auf den Ellenbogen gestützt und preßte seine Hand aufs Gesäß. "Was ist denn mit Ihnen los?" "Ich bin der andere", sagte der Mann. "Mich hat's auch erwischt." Da stellte sich Fabian breitbeinig hin und lachte. Von der anderen Seite her, aus dem Gemäuer des Museums, lachte ein Echo mit. "Entschuldigen Sie", rief Fabian, "meine Heiterkeit ist nicht gerade höflich." Der Mann zog ein Knie hoch, schnitt eine Grimasse, betrachtete die Hände, die voll Blut waren, und sagte verbissen: "Wie's beliebt. Der Tag wird kommen, wo Ihnen das Lachen vergeht." "Warum stehst du denn da herum?" schrie Labude und kam ärgerlich über die Straße. "Ach, Stephan", sagte Fabian, "hier sitzt die andere Hälfte des Duells mit einem Steckschuß im Allerwertesten." Sie riefen den Chauffeur und transportierten den Nationalsozialisten ins Auto, neben den kommunistischen Spielgefährten. Die Freunde kletterten hinterdrein und gaben dem Chauffeur Anweisung, sie zum n&